DAS REICH
DER KUNST
Ein Vademekum für Kunstfreunde
und bildende Künstler
Kober'sche Verlagsbuchhandlung
Basel-Leipzig 1933
BÔ YIN RÂ
IST DER DICHTER, PHILOSOPH UND MALER
JOSEPH SCHNEIDERFRANKEN
COPYRIGHT BY
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASLE 1933
KARL WERNER, BUCHDRUCKEREI IN BASEL
.Im Jahre 1921 ist dieses Buch zum ersten‐
male erschienen.
.Hier liegt nun ein
Neudruck vor, der zwar
einige Änderungen bedingte, aber im Ganzen
als eine durchgesehene Wiedergabe des ursprüng‐
lichen Textes gelten darf. Gewisse Wiederholun‐
gen habe ich auch in dieser Neubearbeitung nicht
gestrichen, da es sich ja um eine Sammlung ein‐
zelner, ehedem getrennt erschienener Darlegungen
handelt, so daß jedes Kapitel des Buches als für
sich abgeschlossen betrachtet werden will.
.Beim
ersten Erscheinen der vorliegenden
gesammelten Abhandlungen sagte ich in einem
kurzen Vorwort:
.„Die Tendenz dieses Buches ergibt sich aus
seinem Inhaltsverzeichnis. Es will nicht für oder
gegen irgend eine Kunstrichtung kämpfen, son‐
dern aufzuzeigen suchen, was die wertgebenden
Elemente sind, die das Werk des bildenden
Künstlers erst zum Range eines
Kunstwerkes
erheben, einerlei welcher Kunstauffassung dieses
Werk seine Formung dankt.”
.Ich hatte sodann die durch gewichtige Zu‐
stimmungserklärungen aus den Kreisen hervor‐
ragender Künstler und Kunstfreunde geförderte
Hoffnung ausgesprochen, daß das Buch einem
wirklichen Bedürfnis entsprechen und in der Flut
moderner Kunstliteratur nicht untergehen möge.
.Aber ich ahnte dazumal nicht, daß die große
Auflage schon nach kurzer Zeit vergriffen sein
würde. Dennoch konnte ich mich, aus Gründen
rein persönlicher Art, nun schon seit Jahren
nicht entschließen, einen Neudruck veranstalten
zu lassen, bis ich doch durch das mir überall
begegnende ungeminderte Interesse an diesem
Buche mich bestimmen ließ, meinen vormaligen
Widerstand gegen sein Wiedererscheinen aufzu‐
geben.
.Nach eigenem Ermessen glaubte ich bei der
ersten Veröffentlichung der einzelnen Abhand‐
lungen auf meine Art eine gewisse Klärung in
zeitlich arg verwirrte künstlerische Anschauungen
gebracht zu haben, und vielleicht war auch zu
erwarten, daß durch meine Darlegungen bei man‐
chen vorerst noch „kunstscheuen” Menschen doch
die Erkenntnis geweckt werden könne: ‒ auch
sie seien berufen, das Reich der bildenden Kunst
allmählich kennenzulernen um allda eine ihnen
noch unbekannte Bereicherung seelischen Lebens
zu erlangen.
.Der Erfolg des danach erschienenen Buches
hat meine Erwartungen erheblich übertroffen.
.Künstler, Kunstgelehrte, Kunstfreunde, sowie
auch solche seiner Leser, die durch mein Buch
erst den Weg zur Kunst
gefunden haben, ver‐
langen heute dringlich sein Wiedererscheinen,
damit es auch Kreisen zugänglich werden könne,
die erst durch die bisherigen Leser von seiner
Existenz vernommen haben.
.So bleibt mir nichts anderes übrig, als meine
Zustimmung zum Neudruck zu geben, wobei ich
es nur bedauern muß, daß die ganze Anlage des
Buches keine kürzere Zusammenfassung zuläßt,
wenn nicht verzichtet werden soll auf Vieles,
was bei der raschen Folge neuerer Kunstbeur‐
teilungsweisen dem Wohlorientierten zwar nicht
mehr als erörterungsbedürftig erscheinen mag, ‒
was aber der noch kunstferne „Laie”, der gerne
das ihm vorerst unerschlossene Gebiet betreten
möchte, keinesfalls missen darf.
.Schließlich beabsichtige ich ja auch nicht,
hier in formvollendeter und streng gebundener
Weise etwa Aufgaben lösen zu wollen, die unter
allen Umständen einer heute hochentwickelten
und als Lebensberuf anerkannten
Fachwissen‐
schaft vorbehalten bleiben müssen, obwohl mir
Methode und kritische Hilfsmittel solcher Wis‐
senschaft wahrhaftig nicht fremd sind.
.Ich will nur, was an mir liegt, dazu beitragen,
daß das Reich der bildenden Kunst auch solche
Menschen anziehe, die es bisher fast ängstlich
für ein ihnen
verschlossenes, ja
verbotenes
Land halten, und ich glaube auch werdenden
Künstlern da und dort weiterhelfen zu können,
sofern sie sich selbst verstehen lernen wollen,
um nicht erst ein halbes Erdenleben lang, ver‐
anlaßt durch Ergüsse einer verhängnisvollen Li‐
teratur, in den Fesseln irgend einer, ihnen viel‐
leicht ganz ungemäßen „Richtung” Fronarbeit
zu leisten, bevor sie zu ihrem eigenen freien
Schaffen den Mut finden.
.Was hier nun gesagt werden wird, soll zu‐
gleich zur Erkenntnis führen, daß die Werke der
bildenden Kunst, ‒ wenn es sich wirklich um
geistgezeugte Werke und nicht um bloße, mehr
oder weniger routinierte „Mache” handelt, ‒
keineswegs nur dazu da sind, dekorative Schmuck‐
elemente für die Wände und Räume des äußeren
Lebens abzugeben, sondern daß die Einwirkung
wirklicher Kunstwerke
auf die Seele auch zu
unerahnter Förderung werden kann für alle, die
den Weg zum
wesenhaften Geiste suchen.
.Die Priester der Kulte des Altertums kannten
sehr genau die „
Magie der Zeichen” und
wußten sie zur Erhebung der Seele aus Alltags‐
wirrwarr in die geklärten Regionen der wesen‐
haften Welten des reinen Geistes zu nützen.
.Überkommenes Weisheitsgut solcher Art war
noch in den großen Meistern bildender Kunst
des Mittelalters und der Renaissance lebendig
und ging in ihre hohen Werke ein, so daß ge‐
heimnisvolle Kraft aus ihnen noch heute den
Betrachter überströmt. Ich erinnere hier nur an
die großen Baumeister dieser Zeiten, an den Maler
des Isenheimer Altars, und die Plastik im Dom
zu Naumburg! ‒
.Nach der Barockzeit aber, die ein letztes ju‐
belndes Aufleuchten solcher „Magie der Zeichen”
brachte, verliert sich, geradezu plötzlich, in Künst‐
lern und Kunstliebenden das Wissen um die gei‐
stige Macht, die dem darstellenden Künstler ge‐
geben ist.
.Was von da an künstlerisch gestaltet wurde
bis auf den heutigen Tag, bringt zwar die Lösung
vieler Probleme, die den Alten recht wenig be‐
deutsam erschienen waren, endet aber jetzt in
einem unruhigen verkrampften Suchen nach
Neuem und immer wieder Neuerem, denn die
Seele des Künstlers selbst, wie die des Beschauers,
bleibt bei jedem neuen Versuch, Sichtbares künst‐
lerisch zu deuten, nach wie vor unbefriedigt, bis
das Eine wieder erlangt wird, das sich in
jeder
persönlichen Darstellungsart zum Ausdruck ge‐
stalten läßt, wenn es der künstlerisch Schaffende
wirklich in sich trägt.
.Ich habe anderenortes wahrlich in aller Deut‐
lichkeit von diesem „Einen” gesprochen, das
allein not tut, das aber vor allem
der schaffende
Künstler in sich lebendig fühlen muß, wenn er
durch sein Werk der Seele des nacherlebenden
Betrachtenden die Erhebung und Förderung brin‐
gen will, die von der bildenden Kunst her ‒
und nur durch sie ‒ erlangbar sind.
.Dieses Unerläßliche zeigt sich nicht etwa in
der Wahl der künstlerisch dargestellten Gegen‐
stände!
.In jeglicher Form wird es erkennbar, wenn es
der Schöpfer dieser Form in sich selber trägt.
.Die formende Hand des Künstlers bringt dieses
Allerinnerste unweigerlich zur Offenbarung, wenn
es wirklich in ihm lebendig ist, aber keine Bra‐
vour des formalen Könnens wird es dem kun‐
digen Betrachter eines Bildwerkes jemals vortäu‐
schen können.
.Der bildende Künstler, wie weit er auch im
schöpferischen Gestalten seiner Zeit vorauseilen
mag, bleibt doch immer ein „Kind seiner Zeit”.
.So war es vor Jahrtausenden, ‒ so ist es
heute, ‒ und nicht anders wird es auch in Zu‐
kunft sein.
.Was die Zeit, in der ein Künstler lebt, bereits
an künstlerischer Form begriffen hat, das gibt
sie ihm mit, als erstes Verständigungsmittel: ‒
als erstes Material zur Gestaltung eigener kunst‐
gemäßer Ideen.
.Der Epigone, der sein höchstes Ziel nur im
Erreichen des bereits
vor ihm Vorhandenen
sieht, bleibt lebenslang innerhalb der Grenzen,
die ihm das künstlerische Verstehen seiner Zeit
zu Anfang absteckte.
.Von allen ihn umgebenden Zeitbedingten wird
er mühelos „verstanden”, und auf recht bequeme
Weise findet er gewöhnlich bald Anerkennung
und Ruhm, indem er nur das Edelmetall aus‐
münzt, das Andere,
Größere als er, einst aus
ihrer innersten Tiefe zutage schürften.
.Oft genug ist der solcherart Selbstzufriedene
auch zugleich „Münzfälscher” und gibt dann für
gutes Gold aus, was er im eigenen Tiegel mit
allerlei billigem Unedlen mengte.
.Anders der wirklich
Schaffende, der aus
Urtiefen des Geistes, die kein Senkblei psycho‐
logischer Forschung restlos ergründen kann, An‐
trieb und Kraft zu seiner Schöpfung empfängt!
.Auch ihm übergibt seine Zeit die ihr gewor‐
denen Darstellungsmittel als Behelf zu erster
Gestaltung.
.Bald aber treibt ihn inneres, in der Ehrlich‐
keit vor sich selbst begründetes
Müssen aus
dem engen Kreise, den er mit solchem Behelf
durchreicht, hinaus, empor, und er sieht sich ge‐
zwungen, Form und Darstellungskonvention sei‐
ner Zeit zu durchbrechen, will er sein Stärkstes
und Bestes nicht verkümmern lassen.
.Die
hemmenden Kräfte, die gerade in sei‐
ner Zeit sich auswirken, stemmen sich ihm ent‐
gegen, aber ob sein Weg nun auch durch Armut
und Not führen mag, ‒ er
muß ihn zu Ende
gehen!
.Nur die wenigen echten
Schaffenden aber
erzeugen, „bilden” mit wahrer Bildnerkraft die
bleibenden künstlerischen Werte einer Zeit!
.Mag der Schöpfer dieser Werte im Elend
seine Tage beschließen, so bleibt doch sein
Werk, in dem die Gottheit wohnt, allen kom‐
menden Zeiten gestaltet.
.Fast will es wie eine besondere Gunst des
Schicksals erscheinen, wenn ein solcher wirkli‐
cher Schaffender nach mancherlei Entbehrung
noch die Tage erlebt, da man sein Werk den
Werten der Zeit endlich einzuordnen weiß, aber
auch dann bleibt es unabhängig von zeitlich wer‐
tender Willkür, weil
Ewiges, schon
in der
Stunde, in der ein solches Werk
geschaffen
wurde, seinen bleibenden Wert bestimmte.
.Für die Mit- und Nachwelt bleibt zwar die
Erhaltung des Werkes
immer bedeutsam,
allein der
ewigkeitsgültige Wert ist
im
Schaffensvorgang selbst gegeben, und bleibt
geistig bestehen, auch wenn das sichtbare Werk
längst zerstört ist.
.Um in diesem Satz nicht eine leere Behaup‐
tung zu sehen, muß man freilich erkannt haben,
daß alle menschliche Gestaltungskraft
ewiger
Schöpferkraft einbezogen ist, und wie diese,
hoch über aller, ihr möglichen Gestaltung er‐
halten bleibt, einerlei, welche Schicksale das Ge‐
staltete erleidet.
.Zu den echten
Schaffenden muß der Blick
sich wenden, will man erkennen lernen, was bil‐
dende Kunst als Lebensfaktor bedeutet!
.Es ist aber nicht genügend, in dem Werke
der wahrhaft Schöpferischen nur die Elemente
zu entdecken, die sie
ihrer Zeit verdanken: ‒
man muß vielmehr zu erfühlen suchen, was ihr
Schaffen
aus der Ewigkeit ins Zeitliche
holte, ‒ was es so der Zeit an
Neuem, vor‐
her
noch nicht im Zeitlichen Geformten gab:
‒ ‒ wie das Werk der Schaffenden
die Zeit
erst
formte, in der es entstand. ‒
.Eine jede Zeit bleibt nur chaotische Ansamm‐
lung vieler und vielgestaltiger Einzelwillen, so‐
lange sie noch nicht ihre
Form empfing aus
der Hand der wirklichen Formbildner: ‒ ihrer
echten
Schaffenden unter den
bildenden
Künstlern!
.Niemals hätte die hohe Kultur des alten
Hel‐
las ihre göttlich-erhabene Blüte entfalten können,
ohne die Werke der großen Bildner, die dem
Empfinden ihrer Zeit den sinnenfälligen Aus‐
druck, ‒
das göttliche Symbol ‒ schufen,
durch dessen Formgewalt jeder Fühlende sich
bestimmt fand, mochten auch die Künstler
selbst
die Kraft zu solcher Formgebung
der
Zeit verdanken, aus der sie emporgewachsen
waren.
.Sie selbst wußten weit über ihre Zeit empor
zu weisen, indem sie ihren Zeitgenossen vor-bil‐
deten, was diese
zu werden fähig seien.
.Das Beste der Kultur des
Mittelalters und
der
Renaissance ist undenkbar ohne ein be‐
stimmendes, durch hohe Bildner geschaffenes
göttliches Symbol: ‒ das in allen damals
gestalteten Werken der gluterfüllten Maler, Pla‐
stiker und Architekten erkennbar wird, die noch
heute der Nachwelt Bewunderung finden.
.Genährt vom Kulturwillen ihrer Zeit, stellten
alle diese große Schaffenden das
Ideal solchen
Kulturwillens sichtbarlich und
in höchster Voll‐
endung in ihren Werken dar.
.Sie zeigten
nicht, wie ihre Zeitgenossen wirk‐
lich
waren, ‒ denn wahrlich gab es zu ihrer
Zeit auch des Niedrigen und Gemeinen gerade
genug, ‒ sondern wie sich ihre Zeitgenossen
gesehen wissen wollten, durchdrungen von
dem starken Willen zur steten
Erhöhung ihrer
eigenwüchsigen Kultur!
.Nicht ihr Fehlwertiges, nicht das, was
erkannt war als ein
zu Überwindendes, stell‐
ten sie dar, ‒ sondern das
Göttliche, dessen
Spuren sie auch unter tierischer Hülle zu ge‐
wahren wußten.
.Ihre Werke sprachen mit lauter Stimme:
.„Seht, das ist die Welt, die unsere Besten
ahnen!”
.So wirkte ihr Werk auf die Seelen gleichsam
als „
Vor-Bild” dessen, was der Mensch
aus sich
machen könne, was er zu
werden vermöge.
.So holte ihr Werk in den Seelen Kräfte aus
der Tiefe, die ohne solchen Erweckungsruf nie‐
mals schaffend und zeugend ins Leben eingewirkt
hätten, und die Mächtigen der äußeren Gewalt
wußten sehr wohl, was sie den großen Bildnern
ihrer Zeit zu danken hatten.
.Das wußte noch
jede Zeit hoher und vom
Willen zu großer Lebensformung durchströmter
Kultur!
.Wer vermag es, sich die großen Zeiten der
Vergangenheit
auf gleicher Höhe vorzustellen,
ohne ihre Schaffenden und Kundigen der Magie
der Zeichen: ‒
ohne ihre
gestaltenden
Künstler und deren bleibende Werke!? ‒
.Auch unsere Zeit, unleugbar des größten
Kraftaufwandes und hingebendster Arbeit fähig,
aber so bettelarm an selbstgeschaffenen
kultu‐
rellen Werten, kann niemals zu ihrer eigenen,
von Dichtern und Denkern vorgefühlten wirk‐
lichen Kultur gelangen, ja nicht einmal zur Voll‐
endung ihrer Zivilisation, wenn man nicht end‐
lich doch wieder einsehen lernt, daß es ein Un‐
ding ist, Kultur zu fordern oder zu erwarten,
solange bildende Kunst nur gerade noch
ge‐
duldet wird, solange selbst Menschen, die sich
zu den „Gebildeten” rechnen
dürfen, völlig in
Unsicherheit geraten, wenn sie die Mache eines
geschickten Routiniers von dem Werke eines wirk‐
lichen Schaffenden unterscheiden sollen.
.Man glaubt mit dem Erkämpfen politischer
und sozialer Forderungen, mit Höchstleistungen
auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik,
mit einer „Kunstpflege”, die sich im Wesent‐
lichen nur der Literatur, der Musik und dem
Theater widmet, die ersehnte Kultur erreichen
zu können und sieht nicht, daß alle diese Be‐
strebungen, so richtig und wichtig sie auch an
sich sind, keine
dauernden Wirkungen auf das
Leben zeitigen können, solange die Beziehungen
zu
bildender Kunst nicht mit gleicher Hin‐
gabe und Energie gepflegt werden.
.Ein Zeitalter, das noch die Werke seiner bil‐
denden Künstler unter den allenfalls leicht ent‐
behrlichen Luxus rechnet, ohne sie zu befragen
nach dem Sinn seines Kulturideals, ‒ ohne mit
Entschiedenheit Antwort auf solche Frage zu
verlangen, ‒ ein Volk, das sich nur mehr
nebenbei und wenn es gerade „anstandshalber”
nicht anders gehen will, an seine großen Schaf‐
fenden unter den bildenden Künstlern erinnert,
kann es zu keiner in der Tiefe verankerten
Kultur bringen, auch wenn es sehnlichst danach
verlangt.
.Es genügt nicht, daß man sich, wenn wieder
einmal ein bildender Künstler gestorben ist, durch
die Zeitung darüber informieren läßt, daß er
auch am Leben war, während man nichts von
ihm wußte.
.Wurden in der neueren Zeit die arkadischen
Gefilde bildender Kunst zu einem wilden Tum‐
melplatz erregter Experimentatoren, denen so
mancher bedächtig schlau nachlief, weil es ihm
anders zu langsam zu gehen schien mit dem Be‐
rühmtwerden, so liegt die Schuld weit mehr
an
der Verwahrlosung des künstlerischen
Urteilsvermögens auf seiten derer, für die
Kunst
ein Bedürfnis der Seele sein sollte,
als an der inneren Unsicherheit der herangezüch‐
teten Künstler, die sich mitten im Kampf ums
Dasein sehen und schon aus Selbsterhaltungs‐
trieb, um jeden Preis siegen möchten.
.Die Ignoranz gegenüber der bildenden Kunst
schädigt
alle: ‒ das Volk, das seine bildenden
Künstler für ausgemachte Sonderlinge hält, weil
es den Kontakt mit ihrem Streben verloren hat,
und den Künstler, der jede Beziehung zu seinem
Volke verliert, sich in abstruses Erfindenwollen
neuer Darstellungsgesten verkrampft, weil all sein
Sagenkönnen auf die ihm angeborene Weise ein‐
fach
unbeachtet bleibt.
.Keine Kunstrichtung, keine Schule kommt zu
reifer Auswirkung.
.Alles bleibt schon in den ersten Anfängen
stecken, oder entartet zu steriler Manier.
.Unruhig tasten die jüngeren Künstler nach
neuen Formgesetzen, weil sie auch ihren be‐
sten Werken gegenüber jeden Widerhall in der
eigenen Volksgemeinschaft vermissen.
.Gewiß werden auf diese Weise zuweilen auch
neue Wege gebahnt, aber nur um in kurzer Zeit
wieder verschüttet zu werden, noch bevor sie zu
Ende gegangen werden konnten.
.Noch hat ja kaum der
Impressionismus
sein Gestaltungsideal in einigen vollendeten Mei‐
stern
gezeigt, da gilt er auch schon als „über‐
wunden”, als „eine Sache von vorgestern”, mit
der man sich nicht mehr befassen darf, wenn
man nicht in den Ruf gelangen will, verständnis‐
los den seither aufgetauchten Erzeugnissen künst‐
lerischen Wollens gegenüberzustehen.
.Aber der Impressionismus hat ja noch kei‐
neswegs in seiner Form allen
Inhalt erschöpft,
der gerade
dieser Darstellungsauffassung zu‐
kommen könnte!
.Warum soll er nicht auch weiterhin von de‐
nen gepflegt werden, die durch naturhafte Ver‐
anlagung für
seine Ausdrucksart
mehr Talent
mitbringen als für jede andere?! ‒
.Wie lange wird es noch dauern, und die „neue
Sachlichkeit” ist ebenso wieder „überwunden”
wie heute schon der „Expressionismus” für die
Eilfertigen abgetan ist, lange bevor es noch dieser
Kunstauffassung gelingen konnte, sich zu einer
Kunst deutbarer Symbole zu klären, als welche
sie gewiß auch zu Schöpfungen von bleibendem
Werte hätte führen können!
.Die Künstler sehen selbst nicht mehr, daß
ihr Reich
unendlich ist, und daß in
jeder
Kunstform, welcher Auffassung des Kunstschaf‐
fens sie auch ihr Dasein danken möge,
Ewiges
gestaltbar ist, wenn der Schaffende nur selbst an
das Ewige hinanzureichen vermag. ‒ Ich rede
hier nicht von
gedanklich-
literarisch Gestalt‐
barem, sondern von der Gestaltung aus den Form‐
elementen
bildender Kunst!
.Alles Suchen nach neuer Form ist sinnlos,
wenn jede gefundene Form alsbald wieder ver‐
worfen wird, noch bevor der in ihr gestaltbare
Inhalt erschöpft ist.
.Es ist ein seichter Irrtum, daß der
Impres‐
sionismus allein einer
materialistischen
Weltanschauung entspräche, und daß man
Gei‐
stiges nur auf die Weise des
Expressionis‐
mus ausdrücken könne.
.In
beiden Kunstformen läßt sich natürlich
immer nur
das ausdrücken, was der Maler wirk‐
lich
in seiner Seele trägt, und was ihm seine
Seele
eröffnet.
.Was sich dann mit den Mitteln
impressio‐
nistischer Kunst sagen läßt, wird niemals auf
expressionistische Weise zu sagen möglich
sein, während expressionistischer Auffassung Ge‐
biete vorbehalten bleiben, denen der Impressio‐
nist weder nahen kann noch will.
.Die ganze Verwirrung heutiger Kunstbegriffe
ist eine Folge der
Hast unserer Zeit. Man drängt
zu Wirkung und Erfolg, wie die Eintagsfliegen
zum Licht der Gartenlampe.
.Letzte Ursache dieses Einbruchs nervösen
Hastens in das weihevolle Reich der bildenden
Kunst ist aber die durch Ignoranz ihrer Mit‐
menschen hervorgerufene innere Not der Künstler,
die ja gewiß nicht daran zu zweifeln vermögen,
daß die bildende Kunst zu den wichtigsten Fak‐
toren geistig-kulturellen Lebens gehört, aber
gleichzeitig sehen müssen, daß man ihrem Tun
nur dann Beachtung schenkt, wenn sie sich
durch verwegene Kapriolen oder brüske Motiv‐
wahl Beachtung
erzwingen.
.Würde das Werk des bildenden Künstlers
auch wieder als
Lebensfaktor allgemein
ge‐
wertet, dann könnten, ‒ wie in den großen
Zeiten der alten Kunst
Japans, ‒ bei uns
heute
alle neueren Kunstrichtungen fried‐
lich nebeneinander zu ihrer Auswirkung kom‐
men, und es entstünde alsdann in allen das Beste,
was sie zu geben imstande sind:
Vor-Bildung
dessen, was Bildnerkraft
im Menschen als
zukunftsmöglich erspürt.
.Nur in solcher
Freiheit vor jedem Schlag‐
wortzwang kann schließlich die große Kunst er‐
stehen, die wieder fähig ist
göttliches Symbol
zu formen und damit das Vor-Bild zukünftiger
Zeitbildung: ‒
wirklicher Kultur!
.Solange es noch den meisten Menschen näher
liegt, spottbereit und überlegen die Achseln zu
zucken, wenn sie von der unschätzbaren Berei‐
cherung hören, die aus dem Schaffen seiner bil‐
denden Künstler dem Geistesleben eines Volkes
zuströmen
kann, ‒ solange haben wir noch gar
keinen Grund, uns auf gutem Wege zu der uns
zeit- und artgemäßen Kultur zu glauben, die so
viele gar schon „erreicht” wähnen, und aller Stolz
auf die Erkenntnishöhe in den Wissenschaften,
auf die großen Leistungen der Technik und ihre
Verwertung in der Industrie, darf uns nicht über
die Tatsache hinwegtäuschen, daß es zwar unter
vielen Völkern schon Zeiten gewaltiger wirklicher
Kulturhöhe
ohne alle unsere neueren Errun‐
genschaften gab, daß aber noch
niemals eine
große Kultur erreicht wurde,
ohne die Mitwir‐
kung des Vor-
Bild setzenden Schaffens be‐
deutender Bildner, auch wenn man heute nur
von den wenigsten noch die Namen kennt.
.Wo aber ein
Wille ist, da findet sich bekannt‐
lich auch immer ein
Weg, und darum gilt es,
zuerst den schlafenden
Willen zu wecken, den
Willen
zu einem kulturvorbereitenden Le‐
benszustand, in dem das bildnerische Gestalten
wieder die ihm gebührende Würdigung erfährt,
da es als
Notwendigkeit empfunden wird.
.Schaffen und Werk des bildenden Künstlers
dürfen nicht weiter als „
Luxus” eingeschätzt
werden, auf den ein mit Lebenssorgen überbür‐
detes Volk verzichten müsse, ‒ auf den es auch
nur verzichten
könne!
.Der Wille zu einem Lebenszustand, dem bil‐
dende Kunst eine
nicht mehr entbehrliche
Bereicherung bedeutet, kann jedoch nur aus dem
Schlafe gerüttelt werden durch die Erkenntnis,
daß sich im echten Schaffen der bildenden Künst‐
ler
die Seele ihres Volkes selbst offenbart
und aus der künstlerischen Gestaltung zurück‐
wirkt auf die Lebensauffassung derer, die solche
Gestaltung empfinden lernen und mit ihr vertraut
werden. Durch die Degeneration seiner zeitlichen
Mitwelt kann freilich auch der schaffende Bildner
zum zersetzenden Zeitverderber entarten, aber
selbst an solcher Entartung läßt sich die
lebens‐
gestaltende Wirkung bildender Kunst, wenn
auch hier mit
negativen Vorzeichen, deutlichst
erweisen.
.Wer allerdings nur seine persönlichen Lieb‐
lingsgegenstände, die
Naturszenerien, die ihn
etwa auf einer Reise ergriffen haben, oder irgend‐
welche
Begebenheiten, die er für wichtig hält,
im Bilde dargestellt sehen möchte, der ist vom
Willen zur
Kunst, von einem Erfassen des
allein
Wesentlichen im Kunstwerk, noch gar
weit entfernt.
.Dergleichen war lange genug im Schwange und
trägt reichlich Schuld daran, daß so wenige heute
auch nur
ahnen, was
Kunst wirklich
ist.
.So nehmen doch noch die meisten, der Kunst
nicht sehr nahestehenden Menschen, übelste
Kunstprostitution für Kunstwerke „ersten
Ranges”, und gehen gleichgültig oder gelangweilt
an
echter Kunst vorüber, wenn sie sich nicht
gar berufen fühlen, in vorlauter Weise „Kritik”
zu üben an Werken, die ihnen noch so uner‐
faßbar sind wie ein fernes Gestirn.
.Noch immer blüht eine Industrie allerübelsten
Kunstersatzes, und von ahnungslosen Käufern
werden Produkte als vermeintliche „Kunstwerke”
erworben, die selbst die Kosten des an sie ver‐
geudeten Rohmaterials nicht mehr wert sind,
da dieses Material für alle Zeit nun völlig un‐
brauchbar wurde, obwohl man aus ihm auch
künstlerisch
Wertvolles hätte gestalten können.
.Wer aber aufnahmebereit vor ein
wirkliches
Kunstwerk hintritt, der darf
nur dann erwar‐
ten, daß es ihm seine reichsten Schätze schenke,
wenn er es vorerst ganz so betrachtet wie etwa
ein seltenes
Naturphänomen, dem er ja auch
erst bewunderungswillig naht, bevor er es nach
und nach zu ergründen versuchen wird.
.Man glaube doch ja nicht, daß alle die so
seltsam erscheinenden Werke neuerer Künstler
immer nur einer skurrilen Laune oder gar bloßer
Sensationslust ihr Entstehen verdanken, auch
wenn dies gewiß bei manchen
Nachläufern der
echten Schaffenden die auslösenden Momente
sein mögen, die sie zum Produzieren extravagan‐
ter Erzeugnisse verleiten, obwohl
kein inneres
Müssen sie zum Verlassen längstgebahnter Wege
zwingt!
.Bei den
Echten, die aus innerem
Müssen
heraus zu persönlichen Gestaltungsformen gelan‐
gen, sind wahrhaftig
tiefer verankerte Kräfte am
Werk!
.Hier offenbart sich in menschlichem Schaffen,
‒ wenn auch oft noch durch irdisch Unzuläng‐
liches gehemmt, ‒ der ewige
Geist, der ausge‐
gossen ist über allem, was Menschenantlitz trägt,
‒ der Geist des
Lebens, der aus dem Ursein
strömt, ‒ und ein neues Pfingstwunder will auf
dem Gebiete menschlicher Gestaltungsfähigkeit
vor aller Augen Wirklichkeit werden.
.Eine Erneuerung des Angesichts der Erde be‐
reitet sich allenthalben vor, und die ersten Strah‐
len geistigen Lichtes, das allein diese Erneuerung
dereinst bewirken wird, sind bereits auch recht
deutlich wahrzunehmen in dem Drange schöpfe‐
rischer Bildner, zu einer von allem Hohlen, Leer‐
gewordenen und Konventionell-Nichtssagenden
befreiten Darstellungsart.
.Mehr
Ehrfurcht vor den Inspirationen des
Geistes, wie sie der wahrhafte Künstler kennt,
mehr
Aufblick zu den Höhen, allwo der echte
Schöpferische heimisch ist, und mehr
Gläubig‐
keit an geistiges Walten im Schaffen der wirk‐
lichen Bildner sind nötig, will man in dem Werke
der Neuerer die wahren
Werte erkennen lernen,
‒ will man mit Sicherheit die Werte rein
geisti‐
ger Ausprägung von den willkürlichen, ausgeklü‐
gelten
Nachahmungsversuchen unterscheiden!
.Es ist, neben allen geschwinden Akrobaten
und Marktschreiern, unter den neueren Künst‐
lern heute auch wieder, ‒ vorerst noch in aller
Stille, ‒ ein Geschlecht am Werke, das mit einer
Inbrunst vor der Staffelei steht, wie einst
Fra An‐
gelico in seiner Zelle von San Marco zu Florenz.
.Eine echte
Frömmigkeit der Seele erfüllt
diese wenigen Gestalter, von der sich ein mo‐
derner Alltagsmensch, der dann lachend und
witzelnd vor ihren ihm so fremdartigen Werken
steht,
gar keine Vorstellung bilden kann!
.Es läßt sich solche
künstlerische Frömmig‐
keit sehr wohl mit dem rein
religiösen Ver‐
halten der Menschen vergleichen:
.So, wie sich wahrhafte
religiöse Frömmig‐
keit niemals damit begnügen kann, von Anderen
vorgeformte Gebete gefühlsleer abzuleiern, so
kann auch der in wahrer
künstlerischer Fröm‐
migkeit Empfindende nur in Formen schaffen,
die sein Innerstes
erfühlt hat und die ihn
bis
in sein Tiefstes erregen.
.Formen, die ihm „nichts mehr zu sagen” haben,
kann er auch nicht mehr gebrauchen, um zu sagen,
was er zu sagen hat.
.Und so, wie das tiefste Gebet der religiösen
Seele, die
wirklich ihren
Gott in sich fand,
zuerst immer nur ein
Stammeln sein kann, bis
dereinst aus solchem Stammeln: Hymnen und
Psalmen werden können, so ist auch das Werk
des geistdurchglühten Künstlers oft erst nur ein
stockendes und des neuen Erfühlens noch nicht
gewaltiges
Ausstoßen der Form, bis das Neue
dereinst klare Sprache wird, in der sich immer
Größeres und Erhabeneres darstellen läßt.
.Wer in solcher geistigen Erkenntnis der bil‐
denden Kunst dieser Tage gegenübertritt, dem
wird doch so manches Werk bald
Tieferes zu
offenbaren haben als er vorher in ihm gesucht
hätte, ‒ und dann wird ihm sicherlich von
diesem Tage an auch die Frage beantwortet sein:
ob die bildende Kunst als „
Luxus”, oder als
Lebensnotwendigkeit zu werten sei? ‒
.Es ist eine bemerkenswerte Erfahrung, die
jeder mit bildender Kunst Vertraute stets von
neuem machen kann, daß er von Menschen, die
erst tastend Bildnerwerk für sich deuten lernen
möchten, immer wieder gebeten wird, ihnen
Werke der Kunst zu „
erklären”.
.Nirgends spricht sich die grundfalsche Auf‐
fassung weiter Kreise vom Schaffen und Werk
des bildenden Künstlers deutlicher aus als in
solchem Verlangen!
.Alle Lektüre „kunsterzieherischer” Schriften,
alles Anhören „einführender” Vorträge, ja selbst
das von Vielen so treugläubig betriebene Lesen
der Zeitungskritik, ‒ natürlich
vor dem Besuch
der Ausstellungen! ‒ ‒ scheint den Irrtum
nicht angreifen zu können: Werke der bilden‐
den Kunst seien dem Erfassen näher zu bringen
durch eine „Erklärung” dessen, was doch nur zu
sehen und schauend zu
erfühlen ist.
.Man hat den aufrichtigen
Wunsch, das Le‐
bensgebiet der bildenden Kunst sich erschließen
zu
lassen, aber man weiß noch nicht, daß man
es sich nur
selber erschließen kann, und so
mangelt es denn am
Willen, es sich selber zu
erschließen, ja, man fühlt sich vorläufig wie ein
Eindringling, fühlt sich ohne wohlerworbene Be‐
rechtigung.
.Der Mensch dieser Tage ist so sehr an den
Gedanken gewöhnt, daß er bei gehörigem Fleiß
alles
erlernen könne, wenn es ihm nur richtig
„erklärt” werde, daß es für alles Erdenkliche,
dem er nahekommen möchte, „Kurse”, Schulen
und Lehrstunden geben müsse, so daß er auch
den inneren Zugang zu Werken der bildenden
Kunst auf solche Weise allein zu erreichen hofft.
.Daß hier die Eröffnung des noch Verschlos‐
senen erlangt werden könne durch Anwendung
eigenen Einfühlungsvermögens, ‒ durch
eine Erweckung des
eigenen Auges, ‒ kommt
nur Wenigen in den Sinn.
.Man betrachtet das Werk des bildenden Künst‐
lers als eine nur den Eingeweihten verständliche
Hieroglyphe, die etwas auszusagen habe, was
erst
erklärender Worte bedürfe, solle es von
anderen Beschauern „verstanden” werden.
.So erzeugt man in sich eine durchaus
un‐
künstlerische Einstellung, noch bevor man
sich auch nur an den Versuch heranwagt, das
was ein Kunstwerk
wirklich zu sagen hat, in
sich aufzunehmen.
.Diese
falsche Einstellung hält viele, die
sich einst innerlich angetrieben fühlten, das Reich
der bildenden Kunst ihrem eigenen Seelenleben
zu erschließen, zeitlebens von jeder echten künst‐
lerischen Empfindung fern, und läßt die seeli‐
schen Organe allmählich verkümmern, die zu
künstlerischer Einfühlung nötig sind.
.Immer wieder werden Fähigkeiten als Vor‐
spann herangezogen, die wohl auf jedem
an‐
deren Lebensgebiet gute Dienste leisten, auf dem
Wege zur Kunst aber versagen
müssen.
.Kunst ist keine Verstandessache!
.Das Wort „Kunstverständnis” hat, streng ge‐
nommen, nur den Wert einer alten Scheide‐
münze, die man weiterhin kursieren läßt, weil
man sich an sie gewöhnte, aber was wirklich mit
diesem Wort
gemeint ist, hat
gar nichts mit
dem
verstandesmäßig zu Erfassenden zu tun.
.Kunst kann man
erfühlen und
empfinden,
aber nicht mit dem Verstande erfassen!
.Das, was an einem Werke der bildenden Kunst
allenfalls dem
Verstande zugänglich ist, ‒ was
eine
Erklärung braucht, oder sich durch
Worte
näherbringen läßt, geht
niemals die
Kunst als
solche an, auch wenn das
Technische des
Werkes zur Erörterung steht!
.Nicht Form und Farbe
an sich machen ein
Werk, das aus diesen Grundelementen entstand,
zum
Kunstwerk, sondern erst das innere,
gleichsam organische
Leben, das die Formen‐
und Farbenkomplexe
erfüllt und ihre Gesamt‐
masse zu einer im Werke beschlossenen
Einheit
bindet.
.Ideen, die sich mit dem
Verstande erfassen,
oder in
Worten wiedergeben lassen, mögen see‐
lisch erheben und begeistern können, aber sie
sind niemals imstande, das innere
Leben der
zu einem Kunstwerk vereinten Formen und
Farben zu ersetzen.
.Gerade hier aber läßt sich der in Dingen der
bildenden Kunst Unerfahrene am leichtesten täu‐
schen, und so mancher „Künstlerruhm” von vor‐
gestern beruhte lediglich auf dieser Täuschung.
.Man kann ein Mann sehr geistvoller, sehr
poetischer und sehr hoher
Ideen sein, ‒ man
kann dabei auch Pinsel oder Meißel in akade‐
misch korrekter Art bis zur Bravour beherrschen,
‒ aber man braucht deshalb noch lange kein
Künstler zu sein.
.Die Machwerke eines solchen, sonst vielleicht
ganz ehrenwerten Mannes, der das auch wirkli‐
chen
Künstlern unentbehrliche
Handwerk
des Malers oder Plastikers gründlich erlernt ha‐
ben mag, können in einer kunstfremden Epoche,
wie sie ja im großen und ganzen heute noch be‐
steht, über alle Maßen bedeutungsvoll und ver‐
ehrungswert erscheinen, ‒ können bestaunt wer‐
den und große Bewunderung erregen, ‒ und
haben dennoch mit wirklicher, alle zeitliche
Modeschätzung überdauernden
Kunst nicht mehr
gemeinsam als das äußere
Material der Dar‐
stellung: ‒ Farbe und Leinwand, Bronze oder
Stein.
.Ein solcher „Hochgeschätzter” seiner Zeit be‐
glückte mich einst mit seinem Urteil über
Hans
Thoma, und meinte: „
Der Mann ist ja ganz
bedeutungslos!
Hat nicht einmal einen ge‐
bildeten Strich im Handgelenk!”
.Heute ist der Name des also Urteilenden eben‐
so
vergessen, wie das was er machte, und was
noch vor ein paar Jahrzehnten von recht vielen
Leuten als „Kunst” gewertet, und
weit höher
honoriert wurde als die Bilder Hans Thomas,
der damals noch ohne Titel und Würden war,
wenn er auch den Kundigen längst schon als
wahrhaft verehrungswürdig galt.
.Die
künstlerische „Idee” eines wahren
Kunstwerkes ist
niemals verstandesmäßig zu
fassen, oder in Worten mitteilbar, wenn vielleicht
auch unter denen, die sie fühlend zu erfassen
wissen, ein Wort genügen kann, um auf sie hin‐
zuweisen.
.Sie beruht
allein in jenem gleichsam „orga‐
nischen”
Leben, das der Künstler seinem Werke
einzusenken wußte.
.Der beste „Erklärer” wird unvermögend sein,
die rein
künstlerische „Idee” eines Werkes
aufzuzeigen, wenn das Einfühlungsvermögen des
Beschauers in bequemer Trägheit verharrt, ‒
wenn der nach „Erklärung” Verlangende der Mei‐
nung ist, Kunst „müsse” ihn „erheben”, „er‐
freuen”, dürfte aber keine Mitarbeit von ihm
verlangen.
.So sagte mir einst ein angesehener Hochschul‐
lehrer und nicht unbedeutender Spezialist seines
Faches bei Gelegenheit einer
Hodler-Ausstel‐
lung: ‒ er müsse
diese Kunst „
prinzipiell”
ablehnen, denn Kunst habe „die Aufgabe”, ‒
„
Genuß” zu vermitteln. Es
sei ihm aber kein
Genießen, wenn er, aus anstrengender Berufs‐
tätigkeit heraus, sich entschlösse, eine Ausstel‐
lung zu besuchen und dort Kunstwerken begegne,
die erst
Ansprüche an seinen
Geist stellten,
‒ womit er natürlich seinen
Intellekt: sein
ver‐
standesmäßiges Erkenntnisvermögen, meinte.
.Dabei gehörte aber dieser Gelehrte zu den
„kunstliebenden” Kreisen seiner Stadt, und wußte
allerlei holde Mittelmäßigkeit, auch als Käufer,
weit über Gebühr zu schätzen, so daß er sich
allen Ernstes für einen „Kunstfreund” hielt.
.Wer in
solcher Gesinnung an die Werke
wirklicher
Kunst herantritt, der darf ruhig alle
Hoffnung aufgeben, jemals seelisch zu erfahren,
was Kunst
ist, ‒ jemals in ein lebendiges Ver‐
hältnis zur Kunst zu kommen.
.Lebendiges Verhältnis zur bildenden Kunst
läßt sich nur durch andauernde vergleichende
Übung im Kunst-
Beschauen, im Kunst-
Be‐
trachten gewinnen, nicht aber durch stetes Be‐
lehrtseinwollen, oder durch das Verschlingen von
allerlei Kunstliteratur, die nur für bereits „Se‐
hende” geschrieben ist.
.Sehen, sehen und
wieder sehen, ‒
unbe‐
irrt durch eigene Vorurteile, eigene Vorliebe
oder Abneigung, ‒ nur geleitet durch das Be‐
streben, offenen Auges und mit allen Kräften des
Einfühlungsvermögens das innere „organische”
Leben im Kunstwerk entdecken zu wollen, ‒
das ist der einzige Rat, den man allen geben
kann, die immer wieder fragen:
warum gewisse
Werke großer Kunst, die dem Unkundigen viel‐
leicht gar, des dargestellten Gegenstandes oder
der Technik wegen, „scheußlich” erscheinen,
wirkliche Kunstwerke seien, während der
doch so viel „schönere” liebe Kitsch auf die mit
Kunst Vertrauten sichtlich wie ein Brechmittel
wirke?
.Jeder, der in ein inneres Verhältnis zur bil‐
denden Kunst gekommen ist, mußte einst auf die
gleiche Weise beginnen.
.So, wie das Kind in der Wiege, das nach dem
Mond greift, weil er ihm nahe erscheint, erst
sehen lernen muß, um Entfernungen abschätzen
zu können, so muß auch der Erwachsene erst
sehen „
lernen”, bevor er imstande ist, den un‐
geheuren Abstand zu ermessen, der zwischen
einer mit Pinsel oder Meißel hervorgebrachten
Mache und einem wirklichen
Kunstwerk
besteht.
.Es mag dabei ratsam erscheinen, immerhin
das Urteil
solcher Menschen zu
beachten,
deren entwickeltes Kunstgefühl keine Verwechs‐
lung von Kunst und Unkunst
zuläßt, und die
zugleich ihre eigenen Vorlieben und Abneigungen
soweit meistern, daß sie zum Wertgebenden in
jeder Kunstrichtung vorzudringen vermögen.
.Aber auch das Urteil eines Menschen, dessen
subjektiv unbeeinflußtes Kunstgefühl ganz außer
Frage steht, kann immer nur insoweit fördern,
als es lehrt, alles
Unkünstlerische, alles Halbe
und Unechte
auszuscheiden.
.Es kann nur den Kreis des „Studienmaterials”
auf das wirklich
Wertvolle einschränken, und
dadurch
ein Abirren vermeiden lehren.
.In dem Echten und Wertvollen dann die
wirklichen Kunstwerke zu entdecken, muß
ei‐
gener Versenkung,
eigenem Empfinden,
eige‐
nem Suchen und Vergleichen anheimgestellt
bleiben.
.Nichts wäre verkehrter als das „Nachbeten”
auch des sichersten Urteils, dessen
innere Be‐
gründung man nicht
selbst empfunden hat.
.Wer aber bestrebt ist, diese innere Begrün‐
dung im eigenen Empfinden nachzuerleben, der
wird bei einiger Ausdauer entdecken, daß das
Urteil eines wirklich der bildenden Kunst kun‐
digen Menschen stets auf den gleichen Grund‐
lagen beruht, mag es sich nun um Kunst der
alten
Ägypter, der
Griechen und
Römer, um
die Kunst
Dürers oder das Werk eines als
„
ultramodern” geltenden wirklichen Künstlers
handeln.
.Nicht die gedankliche Idee, nicht die ge‐
schickte Wahl des Gegenstandes und dessen ding‐
liche Schönheit oder Häßlichkeit, nicht die Art
der Naturauffassung und nicht die Technik ent‐
scheiden über den wesentlichen Kunstwert eines
Werkes und bestimmen dessen Höhe, sondern
einzig und allein der Grad des inneren „organi‐
schen” Lebens ist hier entscheidend, als Aus‐
druck und Widerschein jenes ursprünglichen
schöpferischen Lebens, das der wesenhafte, auch
den höchsten Intellekt hoch überragende Geist,
der „über den Wassern” des Chaos schwebt um
aus ihnen immer neues Leben zu zeugen, allein
in der Seele des wahren Künstlers sich ent‐
falten läßt, damit es eingehen könne in das reife
Werk.
.Um künstlerisch „
sehen” zu lernen, muß
man wieder und wieder
beste Kunst
vor Augen
haben, bis die Seele allmählich das optische Bild
deuten, und künstlerisch Beseeltes von Unbe‐
seeltem
scheiden lernt.
.Entwickeltes Kunstgefühl ist nur eine Folge
des tiefen Eindringens in das künstlerisch
We‐
sentliche, das in
aller wirklichen Kunst zu
finden ist: ‒ in den Werken der einander fernsten
Zeiten und Völker, ‒ in allen Schöpfungen ech‐
ter Künstler, möge ihr Werk auch durch ganz
verschiedene, ältere oder neuere Kunstauffassung
bestimmt worden sein.
.Was auf Reisen, bei gelegentlichen Museums‐
und Ausstellungsbesuchen flüchtig betrachtet wird,
kann zwar dem schon
urteilssicheren Kunst‐
Vertrauten allenfalls dazu dienen, sich
einen
neuen Überblick zu verschaffen, hingegen wird
es den noch Kunst-
Fremden eher
verwirren
als belehren.
.Soll Kunstbetrachtung wirklich die
Urteils‐
fähigkeit entwickeln, dann ist vor allem
Zeit
zur Vertiefung in das Gesehene nötig.
.Der ungeübte Beschauer, dem die Fähigkeit
zu objektiv richtiger
Schätzung des Gesehenen
noch abgeht, wird niemals Gewinn von Kunst‐
besichtigungen „im Vorübergehen” haben, ‒
handle es sich um eine Galerie alter Meister
oder um eine Darbietung neuerer Kunstwerke.
.Die meisten Menschen, auch die auf
anderen
Gebieten
Gebildeten, sind immer noch gewohnt,
ein Werk der bildenden Kunst in erster Linie
um seinen
gegenständlich gegebenen Inhalt zu
befragen, mögen manche das auch nicht immer
gern wahrhaben wollen.
.Der
künstlerisch maß- und wertgebende
„
Inhalt” eines Werkes der bildenden Kunst ist
aber
niemals das gegenständlich
Dargestellte,
sondern
die Darstellung an sich, als Äuße‐
rung der künstlerischen Begabung eines kunst‐
schöpferischen Menschen!
.Wer in einem Werke der Malerei oder der
Plastik nur
das Dargestellte sieht, der sieht
zunächst lediglich den
Anlaß, der einen Künstler
zu einer Äußerung seiner schöpferischen Bega‐
bung
bestimmte.
.Nicht jedes Bildwerk, das dem Auge wohl‐
gefällt, und das wohl gar die Bewunderung des
Betrachters erregt, weil der dargestellte Gegen‐
stand „zum Greifen
natürlich” erscheint, ist
deshalb schon ein Kunstwerk.
.Um ein wirkliches Kunstwerk zu sein und
somit auch einen über den bloßen Arbeits- und
Materialwert hinausgehenden, tatsächlich gege‐
benen
Kunstwert zu besitzen, muß eine Dar‐
stellung Zeugnis ablegen von der
Intensität,
mit der ihr Darsteller die äußere Naturerschei‐
nung
in sich aufnahm, dann in seinem Inneren
verarbeitete, und sie, nachdem er sie gleich‐
sam
neu schuf, schließlich zum sinnenfälligen
Werke
formte.
.Die
individuelle Eigenart des Schaffen‐
den allein bestimmt, bis zu welchem Grade sein
Werk gleichzeitig auch noch als
Abbild des
Naturvorbildes gelten kann.
.Wäre schon jede korrekte und das Auge über‐
zeugende Darstellung der Natur
ein Kunst‐
werk, dann hätte man die
höchste Vollen‐
dung der bildenden Kunst unstreitig von der
Optik und der
Chemie her zu erwarten, denn
die endgültige Lösung des Problems der Farben‐
photographie müßte dann Werke hervorbringen
lehren, die alle mit Pinsel und Farbe manuell
geschaffenen Darstellungen weithin an Kunst‐
wert überragen würden.
.Das Gleiche gilt von der
Plastik, denn man
vermag ja bereits heute schon Plastiken auf
phototechnischem Wege herzustellen, die an „Na‐
turtreue” kaum mehr etwas zu wünschen übrig
lassen.
.Vielleicht am verständlichsten wird das hier
Gemeinte ersichtlich innerhalb der
Architektur.
.Wohl kann auch der Architekt Anregung zum
Schaffen durch ein Gebilde der Natur empfangen,
‒ doch, welches abstruse Mißgebilde würde ent‐
stehen, wollte er etwa versuchen, in seinem Werke
ein Abbild der Naturerscheinung zu geben,
die sein Schaffen
befruchtet hat!
.Aber auch nicht die handwerkliche
Geschick‐
lichkeit, mit der etwa die
Illusion des Gegen‐
ständlichen auf der Fläche oder plastisch her‐
vorgerufen wurde, erhebt eine Darstellung zum
Kunstwerk.
.Von wirklicher
Kunst, von eigentlichem
Kunstwert darf
erst dann gesprochen werden,
wenn das innerlich
verarbeitete und aus schöpfe‐
rischer Kraft
geformte Werk vorliegt, ‒ nicht
die bloße „Naturwiedergabe”, die eine vervoll‐
kommnete photochemische Technik dereinst
weit
fehlerfreier liefern wird, als sie durch manuelle
Arbeit jemals gegeben werden könnte.
.Der Schaffensvorgang im Künstler bedingt in
aller auf die sichtbare Welt bezogenen Kunst
gewiß zuerst
eine besonders intensive Auf‐
nahme der optischen Eindrücke durch das
physische Auge.
.Aber hier schon beginnt eine
Auswahl, die
allein vom
künstlerischen Empfinden be‐
stimmt wird.
.Der Künstler wird
Farben-
und Linien‐
werte,
Formen und
räumliche Beziehungen
in dem Naturvorbild gewahren, die dem Nicht‐
künstler nur nach jahrelanger Vorbereitung, nach
unermüdlicher Schulung seines Auges, zu sehen
möglich wären.
.Dann aber erfolgt erst in der Seele des Schaf‐
fenden die innere
Verarbeitung der durch phy‐
sisches Sehen aufgenommenen Eindrücke, bis
endlich der eigentliche Schöpfungsakt: ‒
das
Gestalten der künstlerischen Vorstellung,
sich ereignet.
.Dieses
im Innern geschaffene Vorstel‐
lungsbild wird
alles in sich enthalten, was
dem Schaffenden an der Naturerscheinung
künst‐
lerisch wesentlich war: ‒ was sein Tempera‐
ment erregte, ‒ was den
Anlaß zum Schaffen
bildete, ‒ und wird alles
ausschalten, was bei
dem Naturerlebnis
belanglos blieb.
.(Den hier geschilderten Prozeß wird jeder Ma‐
schinenbauer leicht verstehen, wenn er daran
denkt, daß auch er in seiner Zeichnung alle
Schrauben, Hebel und Räder besonders
hervor‐
heben wird, die ein Verständnis
der Funk‐
tion seiner Maschine vermitteln, auch wenn das
solcherart Betonte dem Laien an der fertigen
Maschine kaum besonders auffallen würde, wäh‐
rend anderes, das dem Fachmann unwichtig ist
oder die Klarheit der Zeichnung beeinträchtigen
könnte, aus der Darstellung ausgeschaltet bleibt.)
.Der dritte und
letzte Vorgang im Schaffen
des bildenden Künstlers ist dann erst
die sinnen‐
faßliche Darstellung.
.Es versteht sich von selbst, daß sie nur in
einer den
Gesetzen der Kunst entsprechenden
Verwendung der Darstellungsmittel erfolgen darf,
wenn ein wirkliches Kunstwerk entstehen soll.
.Die Darstellungsmittel selbst aber kann auch
jeder Nichtkünstler beherrschen lernen.
.Mit mehr oder weniger Begabung zum Zeichnen,
mit mehr oder weniger Farbengeschmack, wie ihn
schließlich auch der gute Schaufensterdekorateur
besitzen muß, läßt sich bei entsprechendem Fleiß
„Zeichnen” und „Malen”
erlernen, ja bis zur
Virtuosität entwickeln.
.Was dann ein solcher „geschickter” Zeichner
oder Maler hervorbringt, mag den „Laien” zu
staunender Bewunderung hinreißen, und es kann
auch am rechten Platz, ‒ etwa als Illustration,
oder dort, wo es sich darum handelt, eine Fläche
geschmackvoll zu schmücken, ‒ in seiner Art
vollkommen sein, so daß es hohe Anerkennung
verdient, aber mit wirklicher
Kunst hat es nur
die gleichen Darstellungsmittel und das
Erlern‐
bare gemeinsam.
.Der Schaffende gebraucht die Darstellungs‐
mittel, über die er, genau wie jeder andere,
nur dann frei verfügen kann, wenn er sie durch
langes Studium in sicheren Besitz brachte, um
sein inneres künstlerisches Vorstellungsbild, von
dem oben die Rede war, nach außen hin sicht‐
bar erstehen zu lassen.
.Es ist dabei
einerlei, ob er, wie
Böcklin,
nur
aus der Erinnerung schöpft, wie
Hodler,
die Zeichnung unerbittlich nach dem Modell
berichtigt, oder, wie der urdeutsche
Leibl
keinen Pinselstrich macht, ohne seine Berechti‐
gung
vorher scharfsinnig erprüft zu haben.
.In
allem künstlerischen Schaffen handelt es
sich um die Wiedergabe des innerlich bereits ge‐
stalteten
Vorstellungsbildes, nicht etwa um
ein „Abmalen” der äußeren Natur, und selbst
der scheinbar so ganz vom Naturvorbild ab‐
hängige, ausgesprochene Impressionist
Max Lie‐
bermann bestätigt das, indem er von seinem
eigenen Schaffen spricht als von einem steten
„
Komponieren aus der Phantasie”, wobei
dem Naturmodell nur die Aufgabe zufalle, diese
schöpferische Phantasie in lebendiger Erregung
zu erhalten.
.Aus den Darstellungsmitteln wählt jeder Künst‐
ler instinktiv aus, was ihm am ehesten gestattet,
das was er
zu sagen hat, in der
knappesten
und dabei
vollkommensten Form zu sagen.
.„
Zeichnen ist die Kunst
wegzulassen!” ‒
definiert der oben genannte Künstler.
.Auch Malen ist eine Kunst des „
Weglassens!”
.Jeder Pinselstrich, der zur Darstellung des
künstlerisch geformten inneren Vorstellungsbil‐
des nicht
unbedingt nötig ist, ergibt ein „Zu‐
viel”,
verringert den Wert des Werkes in der
Wertung des Kunstkundigen.
.In der
Plastik ist es nicht anders, wenn man
vom Merkmal des
Meißels am Werke sprechen
will, und daß ein Überwuchern
architektoni‐
scher Formen, die nicht durch den
Zweck und
die
künstlerische Struktur eines Bauwerks
bedingt sind, seinen Kunstwert
verringert,
wenn nicht gar
völlig in Frage stellt, weiß
heute doch schon mancher, der den Werken der
Malerei und Plastik noch
recht unsicher
gegenübersteht.
.„
Ausgeführt” oder „
fertig” ist ein Werk
der bildenden Kunst, wenn es das innere künst‐
lerische Vorstellungsbild
zum Ausdruck bringt,
sei es auch nur durch „skizzenhafte” Andeutun‐
gen, während es bei noch so detaillierter und
glatter Arbeit
unfertig bleibt, solange es nicht
der vollendete Ausdruck des innerlich Ge‐
sehenen ist.
.Hier mag an das Wort
Goethes erinnert sein:
.„
Ein jedes wirkliche Kunstwerk ist in
jedem Zustande fertig.”
.Ob
Holbein seine Köpfe glatt und minutiös
malt, oder
Frans Hals die seinen mit wuchti‐
gen, „skizzenhaften” Pinselhieben hinhackt, ist
für die Wertung beider Künstler
absolut gleich‐
gültig.
.Wichtig ist allein, ob in der Darstellung un‐
bestreitbar das innere, nach immanenten künst‐
lerischen Gesetzen „komponierte” Vorstellungs‐
bild des Künstlers erfühlbar wird, indem es mit den,
seinem Temperament entsprechenden, sicher
beherrschten Darstellungsmitteln zum Ausdruck
kam.
.Wichtig ist, ob die „Handschrift”, die das
Werk aufzeigt, wirklich
ursprünglich, dem
Künstler wesensgemäß und
sein eigen ist, oder
ob nur äußerliche Dressur und glatte Fleißarbeit
über den Mangel wirklichen künstlerischen Tem‐
peraments hinwegtäuschen sollen.
.Alles das muß man aber erst sehen
lernen,
bevor man zu einem sicheren Urteil über Werke
der bildenden Kunst kommen kann, denn solches
Urteilsvermögen ist ebensowenig „angeboren”,
wie etwa die Sicherheit, mit der ein Juwelen‐
händler wertvolle von fehlerhaften
Edelsteinen
oder gar von
Fälschungen unterscheidet.
.Die Freude am Schönen ist dem Menschen
eingeboren, trotzdem bis heute noch niemand
imstande ist, eine absolut gültige Definition des
„Schönen” zu geben.
.Was dem einen Menschen als
berückend
schön erscheint, wird von dem andern
kaum
beachtet, und ein dritter mag es gar als
un‐
schön empfinden.
.Wie verschiedenartig die Deutungen des
Begriffes „
Schönheit” ausfallen können, zeigt
in klarster Weise die Geschichte der
bildenden
Kunst.
.Gerade die
größten Meisterwerke
Rem‐
brandts fanden seine Zeitgenossen
unschön,
ja
häßlich, während sie den Kunstkundigen
unserer Tage
eine Welt der Schönheit er‐
schließen.
.Bei den Zeitgenossen fanden die süßlichen
Malereien der späten Nachahmer Raffaels höchste
Bewunderung, während jeder Urteilssichere
heute nur mehr
ein trauriges Dokument des
Niedergangs in diesen Bildern erblicken kann.
.So wechselten die Meinungen hinsichtlich
dessen, was als das
künstlerisch Schöne zu
gelten habe, nicht anders wie in Bezug auf das
gegenständlich Schöne
in der Natur.
.Am deutlichsten zeigt sich vielleicht die Viel‐
deutigkeit des Schönheitsbegriffes in der
neue‐
ren Kunst.
.Während der
eine Betrachter
berauscht ist
von der „
Schönheit” eines Werkes, findet es
der andere „ekelhaft” und „abstoßend”.
.Jeder sucht eben nur die Darstellung seines
eigenen, recht
subjektiv bestimmten Schön‐
heitsideals, ‒ aber auch dieses
persönliche
Ideal ist
keineswegs unwandelbar, sondern
wird im Laufe eines Menschenlebens gar oft
durch Modeströmungen, Zeitgeschmack und ei‐
gene Urteilsumbildung beeinflußt, so daß der
gleiche Mensch in den verschiedenen Zeitfolgen
seines Erdendaseins zu
sehr verschiedenen
Definitionen seines Schönheitsideales gelangen
kann.
.Erfreulich wird solche Wandlung sein,
wenn sie aus einer tieferen Erkenntnis
des
Wertgebenden in der Kunst hervorging.
.Während man lange Zeit hindurch nur
die
Anekdote, den dargestellten
Vorgang, oder die
möglichst täuschende
Natur-
Imitation in einem
Kunstwerk, oder einem Gebilde das als Kunst‐
werk
gelten wollte, bewunderte, fing man eines
Tages an, alles dieses unbeachtet zu lassen, um
fortan die Schönheit nur in der besonderen Qua‐
lität
des Technischen: ‒
der Virtuosität
der Mache, ‒ in der „
schönen Epidermis”
des Werkes zu suchen und zu sehen.
.Heute noch gibt es genug solche begeisterte
Bewunderer des Pinselraffinements, und
Manets
„Spargelbund”, der als Probe stupenden Kön‐
nens gewiß hervorragend bleibt, wird von vielen
nicht nur höher gewertet als seine
wirklich
kunstbedeutsamen, aus gleichem Können erwach‐
senen Meisterwerke, sondern auch für weitaus
wertvoller angesehen als, beispielsweise, die
Six‐
tinische Madonna.
.Aber die Zeit, in der solches Urteil genügte,
um sich als „Kunstkenner” zu erweisen, neigt
sich doch allmählich wieder ihrem Ende zu.
.Man fängt wieder an, im Künstler nicht nur
den kapriziösen
Könner zu sehen, ‒ ja man
hat leider bereits eine ganz ungerechtfertigte
Geringschätzung für alles technische Können
bereit, und läßt sich selbst
gewollt naiv-unbe‐
holfenstes Gebaren im Technischen gefallen,
wenn nur der gesuchte
geistige Inhalt dahinter
irgendwie zu erspüren ist.
.Hervorragende „Könner” unter den Künst‐
lern dieser Tage kennen kein heißeres Bemühen,
als die bewußte
Unterdrückung auch des lei‐
sesten Anzeichens ihres Könnens, und gefallen
sich in einer Darstellungsart, die mehr oder we‐
niger den Kunstäußerungen der Naturvölker,
oder naiven Kinderzeichnungen angeähnelt ist.
.Nichts wird ärger gefürchtet als der Anschein
des Virtuosentums, oder die Merkmale einer ho‐
hen Kultur des künstlerisch-technischen Dar‐
stellens.
.Allerdings geht dieses Streben zum scheinbar
Allereinfachsten oft so weit, daß man schon wie‐
der von einem
Virtuosentum des Naivsein‐
wollens sprechen könnte.
.Solche Erscheinungen wären aber ganz un‐
möglich, wenn man heute auch noch, wie vor
nicht gar langer Zeit, allen Kunstwert eines Wer‐
kes nur in der „geistreich” gemalten
Oberfläche
sehen würde.
.Man beginnt heute wieder, im bildenden
Künstler, gleichwie im Dichter und im Kompo‐
nisten, den
Seelendeuter, den
Künder see‐
lischer Erlebnisse,
den Schürfer in den
tiefsten Tiefen des noch Ungewußten zu
sehen, und man erwartet vom Maler wie vom
Plastiker, daß er
nur solchen Erlebnissen Aus‐
druck schaffe, die sich auf
keine andere Weise,
als nur mit den Mitteln
seiner Kunst ausspre‐
chen lassen.
.Es fragt sich also, welches die ureigenen Dar‐
stellungsmittel sind, über die der bildende Künst‐
ler verfügt?
.Da kommen wir denn, wenn wir hier in erster
Linie einmal die Kunst des
Malers in Betracht
ziehen wollen, auf folgende:
.Helle und dunkle Massen,
Farbflecken,
sowie deren Umgrenzungen, die sich als
Linien
zeigen, wenn auch
die Linie daneben ein
Ei‐
genleben als Kunstmittel führen kann.
.Auch wenn der Maler eine Anekdote zur Dar‐
stellung bringen will, hat er keine anderen Mittel
zur Verfügung.
.Aber während er bei dem Versuch, den op‐
tischen Eindruck äußerer Gegenstände aufs Auge
zu
imitieren, seine Mittel mehr oder weniger
vergewaltigen muß, gleich einem Musiker, der
die Stimmen von Tieren, oder andere Naturlaute
nachzuahmen trachtet, wird es sich bei einer
Darstellung die den künstlerischen Gesetzen ent‐
sprechen soll, stets darum handeln, daß alles was
zu sagen ist, mit den zur Verfügung stehenden
Kunstmitteln gesagt wird,
ohne ihnen Gewalt
anzutun.
.Man wird das gut an einem Beispiel verste‐
hen lernen:
.Wenn ein „Historienmaler”, in glücklich hin‐
ter uns liegenden Tagen, den tragischen Tod
einer allbekannten geschichtlichen Persönlichkeit
darstellte, dann benutzte er eine Menge seelisch
wirksamer Momente, die alle schon
vor seinem
Bilde da waren, und die auch durch eine Dar‐
stellung
in Worten, also durch den
Dichter,
hätten vermittelt werden können, ja durch bloße
Kenntnis des historischen Vorgangs schon zum
Nacherleben kommen konnten.
.Das Werk eines solchen Malers ist zumeist
nichts anderes als eine gute oder schlechte
Illu‐
stration, mag sie auch in gewaltigen Dimen‐
sionen gehalten sein.
.Die gleiche geschichtliche Begebenheit kann
aber in einem Maler, der sie erschauernd in sich
nacherlebt, auch Komplexe seelischer Empfin‐
dungen auslösen, die
nur mit den Mitteln
sei‐
ner Kunst darstellbar werden, aber niemals
durch eine gemalte Schilderung des historischen
Vorgangs allein, anderen Seelen zum Empfinden
kommen könnten.
.Entweder wird sich dann
ein Vorstellungs‐
bild des Geschehnisses in der Seele des Künst‐
lers gestalten, das die
erzählbare Begebenheit
auflöst in künstlerisch „sprechende”
Formen,
Farben und
Linien, denen die Kraft innewohnt,
das vom Künstler Erfühlte auch der Seele des
Betrachters nahezubringen, oder aber, es wird
sich das innerlich Erlebte zu einem Werke kri‐
stallisieren, das mit der
Wiedergabe des Vor‐
ganges nicht das mindeste zu tun hat.
.Solche neue künstlerische Form kann die
Wucht und tragische Größe eines Ereignisses
weit stärker zum Ausdruck bringen als die beste
Illustration, gerade
weil der Künstler sich
nicht
verleiten ließ, Wirkungen anzustreben, die den
ureigensten Mitteln seiner Kunst fremd sind.
.Das gleiche gilt von
jeder Darstellung,
hinter der ein Schaffensvorgang steht, der durch
Natureindrücke ausgelöst wurde.
.Die mit feinster Naturbeobachtung erfüllte
Wiedergabe einer Tanne am Bergabhang kann
eine vorzügliche Illustration eines botanischen
oder landschaftsgeographischen Handbuches sein,
‒ rein
künstlerisch betrachtet ist ein solches
Bild aber noch
unverarbeitetes Rohmaterial,
solange es nur
Darstellung bleibt, und nicht,
darüber hinaus, auch durch die Komposition der
Hell- und Dunkelmassen, der Farben oder Linien,
einer rein
künstlerischen Empfindung Aus‐
druck gibt.
.Es wäre geradezu möglich, daß ein Künstler
beim Anblick einer solchen, sehr „naturgetreuen”,
aber mit
vergewaltigten Kunstmitteln hervor‐
gebrachten Darstellung ein ähnliches Erleben in
sich empfinden könnte, als stünde er vor dem
Vorbild der Darstellung
in der Natur, und daß
er sich alsdann angeregt fühlen würde, das so
Empfundene nun mit den
rein und
ehrlich
benützten Mitteln seiner Kunst zum Ausdruck
zu bringen. (
Utrillo, dessen Ruhm heute vielen
seiner Bewunderer alle Namen des französischen
Impressionismus verdunkelt, soll die meisten sei‐
ner Bilder nach Anregungen gemalt haben, die
ihm irgendwelche photographischen
Ansichts‐
postkarten vermittelten.)
.Der
Kunstwert einer Naturdarstellung wird
niemals durch die exakte Formtreue dem Vor‐
bild gegenüber bestimmt, ‒ auch wenn eine
„naturgetreue” Darstellung künstlerisch sehr wert‐
voll sein
kann, ‒ sondern das allein „
Kunst‐
wert” verleihende innere
Leben eines wirkli‐
chen Kunstwerkes ist stets bedingt durch eine
Art der Aussprache, die streng den Gesetzen der
gegebenen Ausdrucksmittel folgt und diese Aus‐
drucksmittel nicht durch eine kunstfremde Ver‐
wendung um ihre innere Kraft bringt.
.Das vollkommene Kunstwerk ist
eine Welt
für sich, und in dieser,
seiner Welt, ist nur
das von Wert, was wirklich erst
durch das Werk
zur Existenz kam.
.Die besondere
Schönheit eines Kunstwerkes
besteht darin, daß es ein
in sich geschlosse‐
nes, formal und technisch
einheitliches, gleich‐
sam
organisch gewachsenes Gebilde voll in‐
nerer Harmonie ist, in dem sein Schöpfer
nur
das aussagt, was durch die eigentlichen Mittel
seiner Kunst, ‒ und
nur durch sie, ‒ ausge‐
drückt werden kann, was sich aber weder durch
das Wort der Dichtung oder Beschreibung, weder
durch eine Darstellung auf der Bühne, noch
durch ein Werk der Tonkunst ausdrücken läßt,
‒ am allerwenigsten jedoch durch die
Illustra‐
tion einer Begebenheit oder eines Zustandes.
.Nur die innere
Gesetzmäßigkeit, die hier
gemeint ist, löst in dem kunstkundigen Betrachter
das Wohlgefühl aus, das wir als Schönheitsemp‐
finden bezeichnen.
.Es handelt sich
nicht darum, einer Empfin‐
dung
irgend einen „wilden”
Ausdruck zu
geben!
.Kunst entsteht erst dann, wenn das künst‐
lerische
Erleben zur
Gestaltung einer in allen
Stücken kunstgemäßen
Form führte.
.Auch eine
neue Schönheit, als Bereicherung
unseres in so vielerlei Strebungen seiner Erfül‐
lung entgegentastenden Schönheits-Verlangens,
kann künstlerisch nicht anders erstehen.
.Nur darf man auch nicht dem Streben nach
neuer Schönheit
den Weg verlegen mit den
schon bekannten Deutungen des so vieldeuti‐
gen Schönheitsbegriffes!
.Man füllt nicht „neuen Wein in alte Schläuche”,
und so soll man auch nicht das neue Schöne in
Formen erwarten, die es doch nur zersprengen
müßte, wollte es in ihnen erscheinen.
.Aus den Zeiten des klassischen Altertums her
hat sich eine Künstleranekdote erhalten, in der
erzählt wird, wie ein Maler Früchte so täuschend
darzustellen verstand, daß Vögel herbeigeflogen
kamen, um an gemalten Beeren zu naschen.
.Diese Anekdote spiegelt auch heute noch so
recht das Verlangen wieder, das die meisten kunst‐
fernen Bilderbetrachter durch die Kunst der Ma‐
lerei befriedigt sehen möchten.
.Das Vortäuschen der
Greifbarkeit eines ge‐
malten Gegenstandes ist aber bestenfalls nur ein
scherzhaft erlaubtes „
Kunststück”, das mit
„Kunst”
nicht das mindeste zu schaffen hat,
und keinem sonderlich schwer fällt, der das Hand‐
werkliche der Malerei versteht.
.Wäre in solcher Spielerei
die Kunst des Ma‐
lers beschlossen, dann läge wahrhaftig keine Be‐
rechtigung vor, den Künstler anders einzuschätzen
als den Verfertiger künstlicher Blumen und
Früchte, oder den Modelleur der Wachsfiguren
eines Panoptikums, was aber durchaus nicht hei‐
ßen soll, daß die oft sehr mühselige Arbeit solcher
Spezialisten nicht sehr viel Können und Geschick‐
lichkeit erfordere.
.Im Reiche der bildenden Kunst wird
Anderes
erstrebt, und wenn auch zuweilen Maler ihre
Freude daran hatten, das Gegenständliche einer
Darstellung „bis zur Greifbarkeit” herauszuarbei‐
ten, so wußten sie doch auch sehr genau, daß der
Wert ihres Werkes
keineswegs in solcher Na‐
turspiegelung beschlossen war, ‒ ja, es ist wohl
anzunehmen, daß manches Werk dieser Art nur
entstand, weil Auftraggeber und Käufer die Künst‐
ler bedrängten und zu einer Darstellungsweise
nötigten, die sie aus freien Stücken kaum ge‐
wählt haben würden.
.Wer das Reich der bildenden Kunst betreten
will, der sollte den Zuruf in sich fühlen, den der
biblische Moses hörte vor dem brennenden Busch:
„Zieh' deine Schuhe von den Füßen, denn der
Ort den du betreten willst, ist heiliges Land!”
.Was auch ein wirklicher Künstler zu geben
haben mag, und sollte es dem Motiv nach noch
so nahe dem „grauen Alltag” stehen, wird immer
eine Botschaft
der Seele sein, bestünde sie auch
nur darin, daß sie sehen lehrte, wie selbst das
Häßlichste noch einen
Gottesfunken offenbaren
kann, der nur im Kunstwerk zu erlösen ist.
.Um diese
Botschaft der Seele handelt es
sich in
aller Kunst!
.Die Malerei macht hier keine Ausnahme, so
sehr es auch den Anschein haben mag, als reize
den Maler in erster Linie die „
Wiedergabe”
farbiger Erscheinungen der Außenwelt, etwa um
ihr Abbild dauernd „festzuhalten”.
.Ich habe schon dargelegt, daß
dieses Ziel:
‒ das „Festhalten” des Natureindruckes, ‒ in
vollkommenster Weise erreicht sein wird, wenn
es eines Tages gelingt,
die Photographie in
natürlichen Farben von den Mängeln zu be‐
freien, die ihr derzeit noch anhaften.
.Daß der Maler handwerklich
fähig ist, mit den
Mitteln seiner Kunst Gebilde hervorzubringen,
die durch ihre Wirkung auf das Auge ähnliche
Reizungen auslösen wie die Dinge der farbigen
Erscheinungswelt, betraut ihn nur mit der hohen
Aufgabe, das
Wort der Seele in den Außen‐
dingen zu erlauschen, um sodann im Kunstwerk
auch Anderen von dem Erlauschten Kunde zu
bringen.
.Das, was ich hier
das Wort der Seele nenne,
wird
niemals optischen Apparaten und chemi‐
schen Verfahren zugänglich sein. Auch alle ge‐
schmackvolle „Regie” der Bildwirkungsmittel kann
dem Wort der Seele, das hier gemeint ist, nicht
den ihm gemäßen Ausdruck schaffen.
.Der
Künstler nur kann es in sich aufnehmen
und dann im Werke zum Wiederklang bringen!
.Der
Wert eines Kunstwerkes wird niemals
abhängig sein von dem Grade der
Täuschung,
die es auf der Netzhaut des Auges hervorbringt,
sondern bleibt stets im genauesten Verhältnis zu
der
Intensität, oder auch der besonderen
Innig‐
keit, mit der sein Schöpfer das „Wort der Seele”
in den Naturdingen
erfaßte und dann im Werke
auszusprechen wußte.
.Der Mensch trägt in sich auf verschiedene
Weise die Elemente der gesamten Natur.
.Was nun
im Äußeren zum Künstler „
spricht”
und ihm vernehmbar werden will, wird immer
gerade
dem gleichen, was er, ‒ als einzigartige
Individualität, ‒ in
besonders vollkommener
Form in sich trägt.
.Daher hat die Natur jedem Künstler
Anderes
zu geben!
.Für jeden Schaffenden, der in Andacht und
Hingebung auf das „Wort der Seele” lauscht, wird
es sich in anderer,
neuer Weise offenbaren. ‒
.Wie weit der
Maler die ihm in seinem Hand‐
werk dargebotene
Möglichkeit benutzen will,
Dinge der Außenwelt „täuschend” und „greifbar”
darzustellen, wird stets davon abhängig sein, bis
zu welchem Grade die Erinnerung an Naturge‐
gebenes erweckt werden muß, um vor dem Kunst‐
werk empfinden zu können, was ein individuell
bestimmtes Künstlernaturell
zum Ausdruck
bringen wollte.
.Ist das, was der Künstler innerlich als „Wort
der Seele” vernahm, schon
durch knappe An‐
deutungen weiterzugeben, die ihre Ausgestaltung
in der Phantasie des Betrachters finden, dann
wäre es Sünde gegen den heiligen Geist der Kunst,
eine realistische Wiedergabe der Außendinge an‐
zustreben.
.Braucht es hingegen
den sinnlich schönen
Reiz der Oberfläche jener Dinge, aus denen
einem Künstler das „Wort der Seele” sprach,
dann bliebe sein Werk
unvollendet, wollte er
sich mit bloßen „Andeutungen” zufrieden geben.
.Die köstlichen Zeichnungen Wilhelm
Busch'
s
würden keineswegs etwa vollkommener sein, wenn
sie bis ins letzte Detail plastisch durchgebildet
wären, ‒ hingegen würde einem Stich
Chodo‐
wiecki'
s* die Vollendung fehlen, fehlte ihm die
minutiöse zeichnerische Behandlung aller darauf
dargestellten Dinge.
‒ ‒
* Maler und Kupferstecher, 1726-1801.
.Die sogenannte „Ausführung” eines Bildes
ist also immer abhängig von dem seelischen Er‐
leben des Künstlers: ‒ von
dem, was durch das
Bild von Seele zu Seele
übertragen werden soll.
.Die
Vollendung ist
erreicht, wenn alles im
Werke, ‒ sei es größten Formates oder nur eine
winzige Zeichnung, ‒ wirklich ausgesprochen
wurde, was der Künstler aussprechen
wollte.
.Nicht „
das große Wollen” allein kann dem
Werke eines Künstlers Bedeutung verleihen!
.Erst dann verdient solches Wollen Beachtung,
wenn das Werk
alles zum Ausdruck bringt,
was „gewollt” worden war! ‒
.Es gibt viele Menschen die künstlerisch zu
empfinden fähig sind, und viele, die gar Großes
„wollen”, ‒ den schaffenden
Künstler macht
aber erst die Fähigkeit, Empfundenes und Ge‐
wolltes auch
ausdrücken zu
können, und zwar
in der Sprache seiner Kunst, ohne Anleihen in
kunstfremden Bezirken.
.Die Sprache der Kunst hat eherne
Gesetze!
.Nicht anders als in der
Musik, wo jede Ton‐
folge
gesetzmäßig begründet sein muß, wenn
überhaupt von „
Kunst” die Rede sein soll, wird
auch in der
Malerei eine strenge
Gesetzmäßig‐
keit verlangt, deren Erfüllung jeder Betrachter
am Werke festzustellen vermag, sofern er selbst
die Gesetze der Darstellung in der Kunst des
Malens
kennt, ‒ welches „Kennen” hier ein
Erfahrenhaben bedeutet.
.Entspricht ein Werk der Malerei diesen Ge‐
setzen
nicht, dann ist es in keinem Falle ein
Kunstwerk, ‒ mag es auch eine sehr tüchtige
Arbeitsleistung sein, ‒ mag auch die Darstellung
im Beschauer tiefstes seelisches, aber nicht durch
Kunst bedingtes Erleben auslösen.
.Nur das gesetzmäßig vollendete
Kunstwerk
kann das reine
Kunsterlebnis vermitteln.
.Ein Beispiel aus der Lyrik möge das verdeut‐
lichen.
.Es gibt selbst in der reichen Fülle der Ge‐
dichte
Goethes nichts Vollendeteres als die acht
Zeilen:
„Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.”
.Jeder Zeitungsreporter kann mit Leichtigkeit
die Situation beschreiben, die in diesem Gedicht
geschildert wird.
.Keineswegs aber wäre durch solchen Bericht
etwa der
Inhalt dieses reifsten Werkes der Poesie
wiederzugeben.
.Sein
wesentlicher und den
Kunstwert des
Gedichtes bedingender „Inhalt” ist vielmehr be‐
schlossen in der vollendeten
Komposition der
Worte, die nur in
dieser, immanenten Sprach‐
gesetzen entsprechenden Folge
die seelischen
Schwingungen auslösen, die jeder Empfindende
beim Lesen des Gedichtes erlebt.
.Nichts ist hier nur „Form”, ‒ nichts nur
„Inhalt!”
.Form und Inhalt sind
untrennbar zu vor‐
her nie gewesener
Einheit verschmolzen!
.So nur ist reines
Kunsterlebnis zu vermit‐
teln.
.In der
Malerei lassen sich von dem Geübten
und der Kunst Kundigen ähnliche Beispiele in
Menge finden.
.Whistlers feingespielte Farben-„Adagios” wür‐
den auch in der besten farbenphotographischen
Wiedergabe
ihrer Naturvorbilder niemals zu
finden sein, und die beste photographische Auf‐
nahme einer Ballettprobe enthält
nichts von den
sublimen künstlerischen Erlebnissen die
Degas
in seinen fast nüchternen Pastellen vermittelt,
auf denen eine Bühnenecke, ein Stück Coulisse
und ein paar recht wenig „schöne” Ballerinen zu
sehen sind, alles aufgelöst in eine Symphonie so‐
norer Farbenmassen und distinkter Linien.
.Was ein wirkliches Kunstwerk an
Seelischem
zu geben hat, wird ja nicht durch seinen beschreib‐
baren Schaffens-
Anlaß bestimmt.
.Man muß ein Werk der Malerei
als solches
sehen lernen, ohne sich durch das gegenständlich
Dargestellte und
dessen Lebenswerte beirren
zu lassen.
.Den
wahren „Inhalt” eines Kunstwerkes muß
man
aus seiner inneren Gesetzmäßigkeit
erfühlen, und darf nicht glauben, die dargestell‐
ten Dinge allein machten den Inhalt aus.
.Auch die in den letzten Jahrzehnten so sehr
überschätzte „getreue Naturbeobachtung” gibt
einer Bildtafel noch keineswegs den Rang eines
Kunstwerkes.
.Wo Form und Inhalt nicht
Eines wurden,
liegt noch kein
Kunstwerk vor, ‒ und der
„
Inhalt” eines Werkes der
Kunst kann immer
nur aus
künstlerischen Werten bestehen!
.Erst dort, wo ein seelisches Erleben das sich
nur mit den Mitteln des Malers übertragen läßt,
seinen kunstgemäßen Ausdruck fand, darf von
einem Kunstwerk der Malerei gesprochen wer‐
den, mag der optische Eindruck eines solchen
Bildes zugleich Natur-Erinnerungen wachrufen
oder nicht.
.Wenn auch das Verständnis der
Kunst des
Malens, selbst bei vielen unserer Gebildeten,
noch manches zu wünschen übrig läßt, weil die
„Bildung” in diesen Tagen vornehmlich eine Bil‐
dung des
Denkens, des intelligiblen Vorstellens
ist, und sich noch nicht wieder bis zu einer Bil‐
dung des
Anschauens zu erheben vermochte,
so wird man doch noch weit eher der bewußten
und begründeten Freude an den Werken der
Malerei begegnen, als dem verstehenden und
genußfreudigen Einfühlungsvermögen vor den
Gebilden der
Plastik.
.Es fehlt zwar unseren Großstädten nicht an
plastischen Denkmalen, und in den Wohnungen
findet sich mehr „Kleinplastik” als wünschbar
wäre, aber leider fehlt es in beiden Fällen gar
sehr am sicheren Instinkt für
Qualität, am Sinn
für das wirklich
Künstlerische und im Reiche
der Kunst
Bedeutende.
.Ahnungslos füllt man seine Wohnung an mit
den übelsten Erzeugnissen fabrikmäßig herge‐
stellter, sogenannter „Kleinkunst”, und findet
kaum einen Unterschied zwischen diesen künst‐
lerisch unmöglichen Bazarwaren und den voll‐
endeten Kleinplastiken unserer bedeutendsten
Bildhauer.
.Auf öffentlichen Plätzen stellt man erbärm‐
liche Gliederpuppen gigantischen Formates auf,
und meint damit der Nachwelt Werke zu hinter‐
lassen, die gewiß doch neben allem bestehen
könnten, was Griechen und Römer in ihren
besten Kunstzeiten geschaffen haben.
.Unsummen werden so im Kleinen wie im
Großen vergeudet, und gewaltige Mengen kost‐
baren Materials werden unbrauchbar gemacht, um
plastische Dinge hervorzubringen, die der
Kunst
des plastischen Formens so fern sind wie der Zinn‐
soldat auf dem Pferdchen, den man in den Spiel‐
zeugschachteln der Buben finden kann.
.Ursache aller dieser irrenden Geschäftigkeit,
die Gutes zu schaffen glaubt und dabei nur das
Miserabelste zu Tage fördert, ist
ein absolutes
Mißverstehen der Kunst des Plastikers.
.Der plastische Sinn des Auges ist
ohne
jede Ausbildung und es fehlt jegliche
Sicher‐
heit des Urteils.
.Was die meisten Nichtkünstler sich unter
einer „guten Plastik” vorstellen, ist, ‒ mit einem
Wort gesagt: ‒
Panoptikumskunst.
.Wenn der neueste Raubmörder durch den
Modelleur des Panoptikums „verewigt” werden
soll, dann schwebt dem Darsteller kein anderes
Ziel vor Augen, als die
möglichst naturge‐
treue Wiedergabe des Verbrechers, in recht er‐
schreckender Vortäuschung des Lebens.
.Sind die gläsernen Augen eingesetzt, Augen‐
brauen, Bart und Haar „recht natürlich” ein‐
geklebt, und ist die Bemalung der Hautflächen
gut gelungen, dann kann der wackere Nachbildner
des menschlichen Scheusals befriedigt auf das
Werk blicken, denn es ist kaum mehr von „der
Natur” zu unterscheiden.
.Der
Künstler aber, der ein plastisches
Kunst‐
werk schaffen will, steht
himmelhoch über dem
Bestreben, derartige plastische „Naturähnlichkeit”
erzielen zu wollen.
.Er spricht die Sprache
dreidimensionaler
Formen, und sein ganzes Wirken zielt einzig
daraufhin, in solchen Formen ein Werk zu ge‐
stalten, das als
eine Symphonie im Reiche
plastischer Formschönheit gelten kann.
.Das Werk des Plastikers, der ein wirklicher
Künstler ist, stellt
eine in sich geschlos‐
sene Welt dar, von der Welt
naturgegebener
plastischer Formen streng
gesondert durch den
künstlerischen Impuls, der hier zu einer Schöp‐
fung reiner
Kunstformen führte.
.Jede Kunst, die von den Formen der äußeren
Welt ihre Anregungen empfängt und sodann
zu Werken gelangt, die als
Kunstwerke ange‐
sprochen zu werden verdienen, kann als eine
Art „
Übersetzung” der Naturformen betrachtet
werden: ‒ eine Übersetzung in
die persön‐
liche Sprache des Künstlers, die wieder be‐
dingt ist durch das
Material, aus dem der
Künstler schafft.
.Es ist
unmöglich, Naturformen sklavisch
kopieren zu wollen und dennoch ein
Kunst‐
werk zu schaffen.
.Kunst ist die Ausdruck gewordene
innere
Welt eines
Künstlers, und steht
als eine
Welt für sich, ‒ nicht mehr den Naturfor‐
men eingegliedert, innerhalb
eigener Form‐
grenzen vor dem Auge des Beschauers.
.Sucht der Beschauer in einem Kunstwerk
lediglich die schöne
Naturform, so fehlt ihm
eben noch der entwickelte Sinn für
Kunst als
solche.
.Er würde besser tun, das, was er sucht, gleich
in der Natur zu suchen, wo es wahrlich zu
finden ist!
.Mehr noch als beim Werke des Malers, fühlt
sich der „Laie” versucht, im
plastischen Kunst‐
werk nach der
Naturform, statt nach der
Kunst‐
form zu suchen, denn während die Malerei auf
der Fläche nur die
Anregung zu dreidimensio‐
naler Raumvorstellung geben kann, ist im
pla‐
stischen Kunstwerk alles nach Höhe, Breite
und
Tiefe gestaltet, und in
dieser Hinsicht
der Naturform analog gebildet.
.Wenn man das Empfindungsvermögen für
plastische
Kunst entwickeln will, muß man da‐
her vor allem von der Suggestion loszukommen
suchen, als habe man es mit einem Gebilde aus
Naturformen zu tun, nur weil plastische
Kunst
ebenso wie jede plastische Form der
Natur sich
im Raume auswirkt.
.Die Formensprache des
Plastikers muß in
der gleichen Weise erkannt und gleichsam zu
„lesen” versucht werden, wie die Sprache der
Farben und Linien in der Malerei, unbeirrt
durch den kunstfremden Anreiz zu Vergleichen
mit den entsprechenden Naturformen.
.Zu solchem Eingehen auf das
Wesentliche
der plastischen Kunst ist die Entwicklung eines
„Sinnes” vonnöten, den ich als „
Tastsinn des
Auges” bezeichnen möchte.
.Das Auge muß lernen, alle die
Flächen,
Wölbungen und Einbuchtungen: ‒ die
„
Buckeln und Höhlungen” des plastischen
Kunstwerkes empfindend abzutasten, das Gefühl
für die Gegensätze und ihren Rhythmus zu ent‐
wickeln, die Harmonie der
in die Tiefe gestal‐
teten Formflächen zu erspüren, um so allmäh‐
lich die persönliche künstlerische Sprache zu ver‐
stehen, die dem Bildhauer allein zur Verfügung
steht, will er seine innere plastische Welt nach
außenhin darstellen.
.„
Plastik ist die Kunst der Buckeln und
Höhlungen”, ‒ sagt
Rodin, und dieses Wort
eines in der Neuzeit, dem künstlerischen Tempe‐
rament nach, jeden Vergleich ausschließenden
plastischen Bildners könnte schon
allein genü‐
gen, auch den kunstfremden „Laien” zum Ver‐
ständnis und zum einfühlenden
Erleben plasti‐
scher Kunst hinzuleiten...
.Er braucht ja nur ein plastisches Werk darauf
hin zu sondieren, ob diese „Buckeln und Höh‐
lungen”
eine kraftvolle,
eindringliche und
innerhalb des Werkes
einheitliche Formen‐
sprache ergeben, ‒ ob sie
seelischem Empfin‐
den Ausdruck schaffen, oder ob sie, leer und
glatt, nur eine konventionelle Scheinwiedergabe
der Natur erstreben, statt eine in sich geschlossene
Welt zu gestalten, der
Natur nur
Schaffens‐
anregung war.
.Während aber
Rodin sich eine fast wie un‐
gebändigt erscheinende, nur
seinem Bildner‐
willen
allein gemäße, persönlich eigene, leben‐
dige Sprache der Formen geschaffen hatte, um
seiner seelischen Bewegung Ausdruck zu geben,
‒ eine Sprache die allen zum leeren Pathos
wurde, die sie zu Lebzeiten oder nach dem Tode
des großen Meisters
nachzuahmen suchten, ‒
erstand in Deutschland eine Bildhauerschule,
angeregt durch Erkenntnisse, die der wohl be‐
deutendste unter den deutschen Plastikern des
neunzehnten Jahrhunderts:
Adolf von Hilde‐
brand, auf seine Schüler übertrug, und auch
in einem kleinen Werkchen: „
Das Problem
der Form” ausführlich darlegte.
.Die Erkenntnisse Hildebrands waren Früchte
eines intensiven und von hohem Kunstverstand
geleiteten Studiums der Alten: ‒ der plastischen
Werke der
Antike und der
Renaissance.
.Die kleine Schrift: „
Das Problem der
Form” versucht darzulegen, daß die Schöpfer
der bedeutendsten Werke plastischer Kunst, deren
sich die Welt zu erfreuen hatte, stets ihre For‐
mensprache zu bändigen strebten durch einen
Willen zu höherer Einheitsform, indem sie ihren
Werken eine ideale, nur zu ahnende
stereo‐
metrische Form zu Grunde legten.
.„Malerisch” gedachte Plastik lehnte Hilde‐
brand ab, und vor allem bekämpfte er die „Rund‐
plastik” ‒ das plastische Gebilde
das von allen
Seiten eine gleich gute Ansicht bilden solle,
‒ und erbrachte auf seine Art den Beweis der
künstlerischen Unerfüllbarkeit solcher Forderung.
.Seiner Auffassung nach soll ein gutes pla‐
stisches Kunstwerk von
einer Ansicht aus sich
entwickeln, und er machte das deutlich durch
den schon von
Michelangelo gebrauchten Ver‐
gleich, daß das Werk in ähnlicher Weise aus dem
Steinblock erstehen müsse, wie eine Figur, die
man in einen gefüllten Wassertrog legt, beim
langsamen Abfließenlassen des Wassers mehr
und mehr zum Vorschein kommt, wobei hier
das allmählich verschwindende Wasser dem fort‐
gemeißelten Stein zu vergleichen wäre.
.Das fertige plastische Kunstwerk soll dann,
nach Hildebrands Forderung, in den plastischen
„Ausladungen”: seinen äußersten, in den Raum
hinausstrebenden Punkten, gleichsam wieder einen
ideellen Block darstellen. Es soll keine Form
des Werkes dem Beschauer
entgegenspringen,
sondern der Blick soll stets von den erhöhtesten,
äußersten Punkten
in die Tiefen der Gesamt‐
form geführt werden.
.Daß dieser Auffassung der künstlerischen,
plastischen Form eine hohe Weisheit innewohnt,
ergibt sich schon daraus, daß auch Plastik
eine
Kunst fürs Auge ist, und daß das Auge
nur
dort eine wohltuende Befriedigung erfährt, wo
die ihm dargebotene Form sich
mit einem
Blick im ganzen erfassen läßt, bevor die Glie‐
derung der einzelnen Teile zur Empfindung
kommt.
.Alles Doktrinäre aber ist im Reiche der bil‐
denden Kunst vom Übel, und so darf man denn
auch gewiß nicht glauben, seit Hildebrand sei
das Problem der künstlerischen plastischen Form
nun ein- für allemal gelöst.
.Es liegt hier, trotz allen Hinweisen Hilde‐
brands auf die große plastische Kunst der Alten,
doch nur eine
individuell gültige Lösung vor,
und ihre blinde Übernahme durch ganz anders
geartete Naturen hat leider Bildwerk genug ent‐
stehen lassen, das hinter formaler „
Geschlos‐
senheit” die ureigene Begabung des jeweiligen
Schöpfers in trister Bindung hält. Es führt lei‐
der nicht immer zu künstlerischer Entfaltung,
wenn die Schüler eines Meisters mit dessen ur‐
eigenen Kunstmitteln auszukommen trachten.
.Der
Suchende auf dem Wege in das Reich
der bildenden Kunst, der erst
sehen lernen
will, wird sich aber
noch mehr wie der Künst‐
ler davor zu hüten haben, irgend einer Kunst‐
Theorie zu verfallen, sei sie auch verstandes‐
mäßig überaus einleuchtend und aufs beste be‐
gründet.
.Die Selbsterziehung zum plastischen Sehen
im künstlerischen Sinne ist leichter als mancher
ahnen mag, der jetzt noch mit einer gewissen
Scheu einen Blick auf plastische Kunstwerke
wirft, im Gefühl der inneren Unsicherheit seines
Urteils, und dem Plastik ‒ wie er meint ‒
„nichts zu sagen” hat, weil er das Werk des
Plastikers noch nicht für sich zum klingenden
„Sprechen” bringen kann, wie allenfalls ein Werk
der
Malerei, für dessen Farben- und Formen‐
sprache auf der ebenen Fläche ihn vielleicht
schon eine gewisse „Gewöhnung” des Auges eini‐
germaßen erzogen hat.
.Aber auch das Erschließen des kunstwertbe‐
stimmenden Inhalts von Werken der
Plastik
verlangt vorerst reichliche Seh-Übungen und hin‐
gebendes Versenken im Betrachten guter plasti‐
scher Kunst.
.Man wird sich entschließen müssen, auch den
Museen
plastischer Bildwerke das gleiche In‐
teresse entgegenzubringen, wie den
Bildergale‐
rien, und man wird dort wie hier gut daran
tun, wenn man endlich die Betrachtung des
Dargestellten ablöst durch Vertiefung in
die
künstlerische Art der Darstellung.
.In der Gebrauchssprache des Alltags gibt es
Worte und Wortverbindungen, die allgemeines
Übereinkommen ruhig gelten läßt, auch wenn
vielleicht zu fragen wäre, ob sie zu Recht be‐
stehen.
.Ein solches Wortklischee soll absichtlich den
Titel dieser kleinen Betrachtung bilden, weil hier
gut sein wird, einmal zu untersuchen, ob die Be‐
zeichnung aller Nichtkünstler als „Laien” sich
unter allen Umständen rechtfertigen läßt, oder
ob es auch künstlerisch begabte Menschen gibt,
die
nicht ausübende Künstler und dennoch
keine „Laien” sind.
.Den etymologisch bekannten Ursprung des
Wortes „Laie”, allwo es
einen Menschen aus
dem Volke meint, nur nebenher streifend, will
ich dieses Wort hier vielmehr in seiner
heutigen,
landläufigen Bedeutung betrachtet wissen.
.Da bezeichnet man denn kurzweg jeden Men‐
schen, der in irgend einem, gewisse Kenntnisse ver‐
langenden Bereich menschlicher Tätigkeit
nicht
fachkundig ist, als einen „Laien” auf diesem
Gebiet, ‒ so, wie nach alter kirchlicher Übung,
jeder Gläubige als „Laie” gilt, gegenüber seinen,
der Gottesgelahrtheit kundigen Glaubenslehrern.
.Sofern es sich demnach im Reich der bilden‐
den Kunst um
die schöpferische Kraft zur
Zeugung künstlerischer Gestaltungen han‐
delt, ‒ ja selbst dort, wo es sich nur um das
dem Künstler geläufige
Handwerk dreht, ‒ läßt
sich die Unterscheidung zwischen Künstlern und
Laien gewiß mit guten Gründen rechtfertigen.
.Anders aber steht es, wenn wir vom
künst‐
lerischen Fühlen sprechen, für das zwar der
Künstler von Natur aus mehr Eignung in sich
trägt als andere Menschen, und dem er allein nur,
kraft seiner Begabung,
Ausdruck zu schaffen
vermag, ‒ das aber durchaus nicht etwa
nur ihm
allein vorbehalten ist.
.Wäre nur dem Künstler
allein die Möglich‐
keit erschlossen,
künstlerisch fühlen zu kön‐
nen, dann würde er sich vergeblich unter Nicht‐
künstlern nach Menschen umsehen, die imstande
wären, sein Werk empfindend in sich aufzunehmen.
.Es gäbe dann wirklich nur eine
Kunst für
Künstler, und alle künstlerische Schöpfung wäre
nur für die künstlerisch Schöpferischen
der Mit- und Nachwelt da.
.Tatsächlich liegt die Zeit ja noch nicht lange
hinter uns, in der man resigniert auf das Kunst‐
interesse der „Laien” verzichten zu müssen meinte,
weil
nur der Künstler Kunst erfassen könne.
.War solche Auffassung auch töricht, so lag
ihr doch die Erkenntnis einer
Wahrheit zu‐
grunde: ‒ der Wahrheit, daß Kunst nur dem
künstlerisch empfindenden Menschen faßbar
werden kann.
.In der Welt der
Musik ist man sich längst
über diese Wahrheit klar.
.Man spricht da von „musikalischen” und „un‐
musikalischen” Menschen, und man weiß sehr
genau, was auch den Hochbegabten unter den Mu‐
sikalischen immer noch vom berufenen
Schöpfe‐
rischen: ‒ vom
Komponisten, ebenso aber
auch vom nur
reproduzierenden, zur
konge‐
nialen Einfühlung in Schöpferisches berufenen
Künstler scheidet.
.Ja, man darf sagen: ‒ je begabter der mu‐
sikalische Mensch ist, desto weniger wird er in
Gefahr kommen, sich selbst für einen „Künstler”
zu halten, wenn er es nicht ist.
.Er wird kaum in Versuchung geraten, selbst
komponieren zu wollen, und wenn er wirklich
zu den Ausnahmen gehört, die auch da einmal
einen Versuch wagen zu dürfen glauben, dann
wird es ihm doch gewiß nicht im Traume ein‐
fallen, zu erwarten, daß seine Kompositionsver‐
suche nun in den großen Konzerten aufgeführt
werden müßten. Ebensowenig wird er Klavier‐
konzerte geben wollen, auch wenn er imstande
ist, recht Schwieriges vorzüglich vom Blatt zu
spielen.
.Ein „musikalischer” Mensch ist innerhalb des
Bereiches der Musik keineswegs „Laie”, und
empfindet sich auch gewiß nicht als solchen.
.Der „Musikalische” ist der ideale
Verstehende
für das schöpferische Werk des Komponisten, ‒
ist befähigt und genügend künstlerisch gebildet,
alle Werte und Schönheiten des Werkes empfin‐
dend in sich aufzunehmen.
.Auch die
bildende Kunst hat solche ideale
Verstehende sehr nötig.
.Auch hier braucht der Schaffende die
Lie‐
benden: ‒ Einfühlungsfreudige, Einfühlungs‐
fähige, die keineswegs „Laien” sind, sich aber
ebensowenig für „Künstler” halten.
.Es handelt sich nur um durch und durch künst‐
lerisch gebildete, feinempfindende Menschen, ‒
und wie die „Musikalischen” Begabte des
Gehörs
sind, so braucht die bildende Kunst Begabte des
Auges!
.Leider haben wir im Sprachschatz der
bilden‐
den Kunst kein so sicher definierendes
Wort,
wie es der Tonkunst zu Gebote steht, die ihre
begabten und künstlerisch gebildeten Empfinden‐
den „
musikalisch” nennt.
.Der Mangel eines gleichwertigen Wortes im
Bereich der
bildenden Kunst trägt sehr viel
Schuld daran, daß hier die entsprechende breite
Schicht künstlerisch erzogener Verstehender
fehlt.
.Aber es fehlen nirgends die Menschen, die
einen solchen Kreis Kunstkundiger auch für die
bildende Kunst ergeben könnten, nur ‒
ver‐
stehen sie sich und ihre Begabung falsch!
.Sie mißverstehen ihre Begabung zu künst‐
lerischem
Empfinden kurzerhand dahin, daß sie
wohl zum künstlerischen
Schaffen berufen seien,
und geben diesem fatalen Mißverständnis gerne
nach, bis sie jeden Maßstab sich selbst gegenüber
verlieren und ihr belangloses Tun dann eitelfroh
dem Wirken wirklich schöpferisch Begnadeter
gleicherachten.
.Die Skala dieser „Künstlerischen” die sich
dem Irrtum ergeben, Berufene des
Schaffens
zu sein, reicht sehr hoch hinauf.
.Aus dem Mißverstehen ihrer selbst heraus
haben viele sich verleiten lassen, Akademien und
Kunstschulen zu besuchen, haben dort mancher‐
lei gelernt, und halten sich nun allen Ernstes für
schaffende „Künstler”, ‒ werden auch wohl zu‐
weilen von
wirklichen Künstlern, ohne sonder‐
liche Neigung zu kritischer Wertung, gutmütig
als „Kollegen” betrachtet, und fühlen sich dann
sehr ungerecht beurteilt, wenn ein Kunstkundiger
in ihren Werken
den Mangel an schöpferi‐
scher Kraft erkennt, auch wenn das Erlernbare
gut bewältigt ist.
.Nun ist es freilich sehr schwer für die solcherart
Selbstbetörten geworden, noch zu einer erbar‐
mungslosen
Klarheit über sich selbst zu kommen,
denn aus dem anfänglichen Mißverstehen einer
Begabung resultierte ein Alltagsberuf, der auf‐
gegeben werden müßte, würde erkannt, daß er
nur einer Selbsttäuschung zu verdanken ist, daß
die eigentliche
Berufung zum künstlerischen
Schaffen
fehlt.
.Zu Anfang nur läßt sich hier das Verderben
einer Erdenlaufbahn noch
verhüten, wenn der
künstlerisch Empfindende rechtzeitig erkennt, daß
ein kunstgebildeter, begabter
Aufnehmender
für die Kunst
wahrhaft bedeutsam werden
kann, während das Dasein eines unschöpferischen
Malers oder Bildhauers weder ihn selbst beglücken
noch der Kunst in irgend einer Weise Förderung
bringen wird.
.Das Musikverständnis hätte nie die relative
Höhe erreicht, auf der wir es heute innerhalb
weiter Gesellschaftskreise antreffen, ohne die klare
Einsicht der „Musikalischen” in ihre Befähigung
und deren Grenzen.
.Bescheiden, aber dennoch seiner Begabung
wohlbewußt und froh, erfreut sich der „Musika‐
lische” seines Einfühlungsvermögens an den Wer‐
ken der wirklich zum Schaffen Berufenen, und
er wendet sein technisches Können lediglich an,
um solche Werke
zu studieren und seinem Emp‐
finden näher bringen zu können.
.Vergleicht man die „Musikalischen”, wie es
hier geschieht, mit den zur Empfindung bildender
Kunst Begabten, so läßt sich wohl sagen, daß
unter den für
Musik Empfindungsfähigen, weit
mehr
Selbstkritik, weit mehr
Ehrfurcht vor
der Kunst zu finden ist.
.Tausende von Konzerten würden nicht aus‐
reichen im Jahr, wenn alle „Musikalischen” die
auf ihrem Instrument gleichviel, wenn nicht mehr
leisten, wie die Überzahl der Füller moderner
Kunstausstellungen als Maler oder Plastiker, sich
ebenso vor dem Publikum produzieren wollten. . .
.Es ist wahrlich an der Zeit, daß auch die für
das Empfinden der bildenden Kunst Begabten,
aber nicht zu schöpferischem Künstlertum Be‐
rufenen, sich ihres Eigenwertes als Kunst-Lie‐
bende bewußt werden, die ganz gewiß nicht mehr
als „Laien” zu bezeichnen sind.
.Der Besucher periodischer Ausstellungen,
wie sie von den verschiedenen Künstlerkorpo‐
rationen von Zeit zu Zeit veranstaltet werden,
sieht mit mehr oder weniger Freude alle die zur
Beschauung dargebotenen Werke, er bewundert,
oder äußert sein Mißvergnügen, aber er denkt
kaum an die vielen Enttäuschten, die ihre Werke
zur gleichen Schau eingesandt hatten, deren Ar‐
beiten aber von der ihres undankbaren Amtes
waltenden Jury
abgelehnt werden mußten. (Wie
bitter dem auswählenden Juror die Ablehnung
des notorisch Bedeutungslosen zuweilen werden
kann, da er doch die Enttäuschung voraussieht,
die er damit schaffen muß, weiß ich aus genü‐
gender eigener Erfahrung in dieser verantwort‐
lichen Tätigkeit.)
.Noch weniger kommt dem nicht mit dem
Werden einer Kunstausstellung Vertrauten zu
Bewußtsein, mit welchem Unbehagen so man‐
cher der Künstler, deren Werke an den Wän‐
den hängen, die von der Jury getroffene
Aus‐
wahl konstatiert, indem er zwar eine oder die
andere seiner Arbeiten ausgestellt findet, aber
gerade
das Werk
vermißt, dessen Annahme ihm
besonders erwünscht gewesen wäre.
.Die Verbitterung über solche gänzliche oder
teilweise Ablehnung ist nur zu begreiflich.
.Die Künstler selbst hielten ja doch ihre ein‐
gesandten Werke sicherlich für wertvoll genug,
um sie mit Ehren öffentlich zeigen zu können,
und mancher hatte vielleicht hohe Hoffnungen
gehegt, seines Erfolges in der Öffentlichkeit zum
voraus schon allzusicher.
.Man darf es den Zurückgewiesenen kaum ver‐
argen, wenn sie sich außerstande sehen, die von
der Jury getroffene Auswahl auf
objektive
Gründe zurückzuführen, ‒ wenn sie statt dessen
persönliche Motive, oder
Gegnerschaft ge‐
genüber ihrer eigenen Kunstrichtung als wahre
Ursache der Ablehnung zu erkennen glauben.
.Begreiflicher Ärger über die vermeintliche un‐
gerechtfertigte Kränkung tobt sich so gegen die
Jury aus und sieht in ihr nur ein böses Hemm‐
nis auf dem Wege zum Erfolg.
.Nun gibt es zwar gewiß Kunstausstellungen,
bei denen jeweils
im voraus feststeht, wessen
Werke ausgestellt werden sollen, so daß auch das
beste Bild, die beste Plastik eines
nicht zum
Kreise der vorbestimmten Aussteller gehörigen
Künstlers schonungslos refüsiert wird.
.Aber von derartiger Ausstellungsmache darf
man wohl im allgemeinen absehen, und in dieser
Abhandlung hier soll uns nur die ebenso ver‐
antwortungsvolle wie undankbare Aufgabe einer
gewissenhaften und
nicht durch kunstferne Ver‐
pflichtungen gebundenen Jury beschäftigen.
.Ein solches Kollegium kunstkundiger Beur‐
teiler wird nie ein anderes Ziel seiner Tätigkeit
kennen, als
die Förderung wirklicher Kunst,
und bei Verfolgung dieses Zieles ergibt sich na‐
türlich die
Pflicht, alle Scheinkunst, alles nur
halbgekonnte oder sonstwie Wertlose von den
Ausstellungen fernzuhalten.
.Soll die Einrichtung einer Jury bei Kunst‐
ausstellungen überhaupt
Daseinsberechti‐
gung haben, dann müssen die Juroren
kunst‐
erzieherisch wirken wollen.
.Um so zu wirken, müssen sie alles ablehnen,
was sich als „Kunst aus zweiter Hand” heraus‐
stellt, was die
Ursprünglichkeit vermissen
läßt, die das Werk eines echten Künstlers unter
allen Umständen von der Mache unschöpferischer
„geschickter Maler” oder „virtuoser Modelleure”
unterscheidet.
.Eine solche Unterscheidung ist aber für das
geübte Auge so
sicher zu treffen, wie Schwarz
von Weiß zu unterscheiden ist!
.Die
Scheinkünstler werden jedoch immer
die im Reiche der Kunst noch
Unkundigen
auf ihrer Seite haben.
.Beide Kategorien glauben in ihrer Ahnungs‐
losigkeit, daß eine gewisse angelernte Fertigkeit
im Technischen und ein leidlicher Farbenge‐
schmack ausreichend seien, um ein gutes Bild zu
malen, oder daß ein anatomisch richtig model‐
lierter Akt schon ein Kunstwerk der Plastik sein
müsse, ‒ von dem Heer der Reißbrett-„Archi‐
tekten” nicht zu reden, die jedes originale Werk
wirklicher Baukünstler für vogelfrei halten, nur
dazu entstanden, um schwachen Nachempfindern
als Formenvorlage zu dienen.
.Bilder, die übermalten Photographien zum
Verwechseln ähnlich sehen, oder aller künstle‐
rischen Formgedanken bare Plastik im Stil der
Zuckerbäckerfiguren werden für „Kunst” gehal‐
ten, aber man steht vor Rätseln, wenn sich irgend‐
wo wirkliche
Ursprünglichkeit, wirkliches
schöpferisches Künstlertum offenbart.
.Nur diese echte
Ursprünglichkeit aber,
nur
das künstlerische Bekenntnis der Seele,
gehört in eine Kunstausstellung, die mehr sein
will als ein Verkaufsbazar.
.Erzieherisch kann eine Ausstellung von Wer‐
ken der bildenden Kunst nur dann wirken, wenn
den im Reiche der Kunst noch Unkundigen Ge‐
legenheit geboten wird, Auge und Empfindungs‐
vermögen an Schöpfungen zu schulen, die sichere
Beweise dafür sind, daß die Urheber
keine an‐
deren Beweggründe zum Schaffen kannten, als
den Gehorsam gegenüber dem „
Daimonion” in
ihrer Seele.
.Wer das nicht in sich trägt, der weiß natürlich
auch nicht, von was da gesprochen wird. Oder: er
hält gar seine Freude an seiner Geschicklichkeit
beim Hantieren mit Pinsel und Farbe, mit Ra‐
diernadel und Ätzwasser, mit Modellierholz und
Tonerde, für den „Gott” in seiner Brust.
.Wer aber nur malt, zeichnet, radiert oder
modelliert, weil er es nun einmal leidlich zu‐
stande zu bringen versteht, dessen Arbeiten ge‐
hören gewiß nicht in eine ernst zu nehmende
Kunstausstellung.
.Derartige Leute sind zahlreich wie Butter‐
blumen, aber man braucht in einer Ausstellung
die Wände viel zu nötig um wirkliche
Kunst,
um das
Erlesene und
Seltene, oder doch das
zu respektierende
Ringen nach höchsten Werten
vor Augen zu stellen, als daß man verantworten
könnte, bloße
Geschicklichkeitsproben dort
zu zeigen.
.Es mag im Einzelfalle recht traurig sein, wenn
ein Mensch, der nicht
den Beruf zum Künstler
empfing, sich mit dem
Material und
Werkzeug
des Künstlers
sein Brot verdienen muß, und
dann die herbe Enttäuschung der Ablehnung
seiner Arbeiten in den Kunstausstellungen er‐
fährt, in denen er die Anerkennung als „Künst‐
ler” zu erlangen hoffte.
.Aber es ist nicht gleichgültig,
womit man
sein Brot verdient, und wenn man es durch
Täuschung seiner Mitmenschen zu erwerben
sucht, so ist das ethisch
unbedingt verwerflich.
.Jeder, der ein Bild an seine Wand hängt
oder eine Kleinplastik in seiner Wohnung auf‐
stellt, möchte in diesem Besitz ein
Kunstwerk
sein eigen nennen, auch wenn er
nichts von
der Sache versteht, und irgend eine kunstleere
Fleißarbeit für „Kunst”
hält.
.Dem Publikum zu zeigen, was
wirkliche
Künstler-Tat
ist, dem Unkundigen im Reiche
der Kunst
die Augen zu öffnen, damit er
Kunst von Mache
unterscheiden lerne, ‒ dazu
sind Kunstausstellungen berufen, und wenn sie
daneben den
Verkauf der ausgestellten Werke
vermitteln, so schaffen sie zugleich die
mate‐
rielle Basis für die Erhaltung echten künstle‐
rischen Schaffens.
.Eine
Jury wird ihr Amt nur dann gerecht
verwalten, wenn sie in unerbittlich strenger Sie‐
bung von der ihrer Sorge anvertrauten Ausstel‐
lung alles fernhält, was nicht die Weihe echter
Künstlerschaft sichtbarlich dokumentiert.
.Es soll gewiß nicht bestritten werden, daß
einem Künstler auch von einer nach gerechter
Wägung strebenden Jury aus menschlich versteh‐
baren Gründen irgendwelches
Unrecht angetan
werden kann, aber solches Unrecht geschieht viel
seltener als die Halb- und Scheinkünstler meinen,
und ist es wirklich einmal geschehen, so läßt die
Korrektur des Fehlurteils gewöhnlich kaum lange
auf sich warten.
.Weit bedenklicher wirkt sich
die allzuweit‐
herzige Liberalität einer Jury aus, was so
manche Kunstausstellung mit drastischer Deut‐
lichkeit zeigt, ‒ besonders dort, wo die
Masse
der Darbietungen schon den erzieherischen Wert
der Veranstaltung in Frage stellt.
.So unabweisbar auch die Pflicht einer verant‐
wortungsbewußten Jury besteht,
jede Kunst‐
richtung und
jede persönliche Eigenart zu för‐
dern, sobald das zu beurteilende Werk
schöpfe‐
rische Qualitäten aufweist, so sehr müssen die
für eine Kunstausstellung Verantwortlichen sich
davor hüten, aus Gründen, die mit der Kunst
nichts zu tun haben, Arbeiten mit aufzunehmen,
wie sie auch jede „juryfreie” Ausstellung in
Masse, und
neben dem in ihr zu findenden
Echten, zeigt, weil sie da, wohl oder übel, ge‐
zeigt werden
müssen.
.Wie der
Künstler nur im Vertrauen auf die
Urteilssicherheit einer Jury ihr sein Werk
vorlegen kann, so muß auch das Publikum sicher
sein, daß Werke, die eine Künstler-Jury passierten,
wahrhafte
Kunstwerke sind, und wert, erwor‐
ben zu werden.
.Ich weiß sehr wohl, weshalb ich einer weit‐
aus ernsteren Auffassung des Jurorenamtes bei
der Vorbereitung von Kunstausstellungen das
Wort rede, umsomehr, als ich ja ausschließlich
für Andere spreche.
.Ohne hier irgend einer Künstlerkorporation
oder Ausstellungsleitung zu nahe zu treten, und
ohne damit ein Geheimnis preiszugeben, glaube ich
doch an die vielen schwächlichen Ausstellungs‐
stücke erinnern zu müssen, von denen jeder mit
den Verhältnissen Vertraute weiß, daß diese Bil‐
der und Plastiken nur darum in eine jurierte
Kunstausstellung gelangten, weil der Verfertiger
ein Schützling oder Freund eines der amtierenden
Juroren war, der wieder seinerseits die Stimmen
seiner Mitjuroren nur erlangte, weil die seine
bei der Beurteilung eingesandter Werke der
Freunde und Schützlinge
anderer Juroren ge‐
braucht wurde.
.Mit
solchen Gepflogenheiten sollte, wo im‐
mer sie noch bestehen, im Reich der Kunst
end‐
gültig aufgeräumt werden, wenn jurierte Aus‐
stellungen noch daseinsberechtigt bleiben wollen.
.Unter den Besuchern einer modernen Kunst‐
Ausstellung kann man jeweilen eine ganz beson‐
dere Kategorie herausfinden, die meist schon zu
einem gewissen künstlerischen Empfinden gelangt
ist aber nun dunkel zu fühlen glaubt, daß ein
völliges Erfassen eines Kunstwerkes auch ein
genaues Wissen um seinen
Werdeprozeß in sich
schließen müsse. Man fängt dann an, Belehrung
über das
Technische zu suchen, liest Bücher
über die Technik der Malerei und der graphischen
Künste, ist schließlich beglückt, wenn man her‐
ausfinden kann, ob ein Bild in Öl- oder Tempera‐
farben gemalt ist, ob es sich bei einer Radierung
um eine Kaltnadelarbeit oder ein Aquatinta-Blatt
handelt, und bleibt zuletzt dennoch wieder un‐
befriedigt, weil man fühlt: ‒ es fehlt da
immer
noch etwas, das man
nicht aus Büchern lernen
kann und das einem auch die Künstler, wenn
man sie fragt, niemals so richtig erklären können.
„Man müßte halt öfters Gelegenheit haben, dabei
zuzusehen, wie so ein Werk entsteht!”
.Aber auch dieses
Zusehen würde den Un‐
befriedigten nicht weiter bringen, denn was er
eigentlich
sucht, ist gar nicht das handwerklich
Technische an sich, sondern etwas, das
hinter
diesem Handwerk steht, und das sich seiner nur
bedient, um sich Ausdruck zu verschaffen. Er
sucht den
Geist der Technik im Werke und
meint ihn zu finden, wenn er über das Hand‐
werkliche Bescheid wüßte.
.In der bildenden Kunst ist aber Form
und Inhalt völlig identisch, und jeder etwa
vom Beschauer festzustellende,
nicht in der Form
beschlossene „Inhalt” eines Kunstwerkes ist nur
Zugabe, hat mit dem eigentlichen
Kunst-
Inhalt
nichts zu tun! Die
Form des Werkes bedingt
seine
Technik, denn alles Technische an einem
Kunstwerk ist nichts weiter, als
Gestaltung
seiner Form, mithin: Aussprache seines Inhalts.
.Es kann den Beschauer auf keinen Fall zu
einem tieferen Erfassen führen, wenn er auch
noch so genau Bescheid weiß über die handwerk‐
lich technischen Bedingungen, die der Künstler
bei Gestaltung der Form zu beachten hatte, da‐
gegen wird jeder Beschauer
erst dann zu einem
eigentlichen
Kunstgenuß kommen, wenn er von
allem
gegenständlich faßbaren „Inhalt”
ab‐
sieht und den
Aufbau der Form, wie ihr
in‐
neres Leben, zu ergründen sucht.
.Das ist es, was jene vorhin geschilderten Aus‐
stellungsbesucher dunkel fühlen, wenn sie meinen,
ein Verständnis der „
Technik” könne ihnen das
Kunstwerk näher bringen! Sie können nur noch
von dem
begrifflich faßbaren „Inhalt” der
Kunstwerke nicht los und wissen nicht, daß sie
mit ihrer Frage nach technischem Wissen ‒ eigent‐
lich nur nach dem einzig wertgebenden
Kunst‐
Inhalt suchen. Es äußert sich in ihnen ein
ele‐
mentares Kunstgefühl, das auch durch den
schönsten
gegenständlichen Nebeninhalt eines
Kunstwerkes niemals befriedigt werden kann. So
sehr auch dieser äußerlich erfaßbare
Nebenin‐
halt die Seele, ‒ wie etwa bei den großen Mei‐
sterwerken der Alten, ‒ zu
ergreifen, zu
erheben vermag, so wird doch der Beschauer,
solange er noch nicht bis zum
Geheimnis der
Form vorgedrungen ist, das Gefühl nicht los
werden, daß ihm zur
völligen Ergründung des
Werkes doch noch
etwas fehle, und dieses Ge‐
fühl täuscht ihn nicht, nur täuscht er sich selbst,
wenn er glaubt, das, was ihm fehlt, sei das Ver‐
ständnis für die „Technik”.
.Ihm fehlt nichts weiter, als die Übung:
For‐
men „lesen” zu können, und das will genau so
gelernt werden, wie man als Musiker
Noten lesen
lernen muß, wenn es auch nicht ganz so schwer
ist, denn Noten sind willkürliche Zeichen, deren
klangliche Erfassung vieles voraussetzt, wäh‐
rend die Formen eines Kunstwerkes
durch das
menschliche Selbstempfinden bedingt sind
und durch
bloße Einfühlung schon erfaßbar
werden.
.Sehr klar wird das, was Formen zu sagen
haben, wenn man nur an
lineare Formen denkt.
.Aufrecht emporstrebende Linien lösen in uns
ohne weiteres die Empfindung stolzen Aufrecht‐
stehens aus, horizontale Linien geben uns das
Gefühl des Hingelagertseins, und so löst
jedes
Lineament
Bewegungsimpulse in unserem Kör‐
per aus, die eine offene Seele in ihre Empfindungs‐
Sprache überträgt.
.Aber auch Hell und Dunkel sprechen in dieser
Sprache, und wenn hier von dem Geheimnis der
Form die Rede ist, so darf man nicht etwa glau‐
ben, daß die
Farben eines Bildes in diesem Sinne
nicht zur Form gehören würden!
.Wir reden hier nicht von
gegenständlichen
Formen, sondern von der
Kunstform, in der
allein die Intuition des Künstlers ihren Ausdruck
findet.
.Da steht bei einem Gemälde die
Farbe in
allererster Linie, und
jede Farbe, ganz gleich
auf welchen Gegenstand der Darstellung sie sich
beziehen mag, ist in einem guten Kunstwerk
gleichsam eine gespielte „Note” der ganzen Sym‐
phonie und kann nur verstanden: also
richtig
empfunden werden, wenn man imstande ist, ihre
Beziehungen zu sämtlichen
anderen Farben des
Bildes zu entdecken und,
losgelöst vom Ge‐
genstande, in sich nachzuerleben.
.Welches Bindemittel der Künstler für seine
Farben wählt, ob er sie dick oder dünn aufstreicht,
welche handwerklichen Bedingungen er beherr‐
schen muß, um dieses ganze Gebilde hervor‐
bringen zu können: das sind alles Dinge, die
sozusagen „hinter den Kulissen” vorgehen, wäh‐
rend es für den Beschauer einzig darauf ankommt,
‒ wenn wir hier den Vergleich beibehalten wollen,
‒ das eigentliche „Bühnenbild”, so wie es der
Künstler vor uns hinstellte,
einfühlend zu er‐
leben, wobei ich allerdings gewiß nicht nur an
eine, dem Bühnenbild des Theaters ähnliche, oder
vergleichbare Bildgestaltung denke.
.Wer sich einmal klar darüber wird, daß es
beim „Kunstgenuß”, oder sagen wir doch lieber:
bei dem
Erleben dessen, was Kunst ist, lediglich
auf das
Erleben der Form des Kunstwerkes,
auf das Erfassen des inneren Lebens der Form‐
teile untereinander und in ihrer Beziehung zum
Ganzen ankommt, und daß
hier allein aller
eigentliche Kunstinhalt zu finden ist, ob es sich
nun um die Sixtinische Madonna, oder um die
Hille Bobbe von Frans Hals, um den Parthenon‐
fries, oder die Bürger von Calais von Rodin han‐
delt, der wird auch bald den richtigen Weg
finden, der ihn zum Erfassen neuerer Kunst‐
werke, zum Verstehen der noch fremdartig
wirkenden Bestrebungen in der bildenden Kunst
führt. Wenn er ein Mensch ist, der sich selbst
seine Irrtümer einzugestehen pflegt, dann wird
er vielleicht mit einer gewissen Beschämung
im Herzen nun wieder vor Werken stehen, die
er noch vor kurzem ahnungslos zu verlachen
wagte, und wird kaum begreifen können, daß
hier, wo ihn jetzt tiefstes Miterleben erfaßt, für
ihn früher nichts anderes zu sehen war, als ein
„unverständliches” Chaos, das ihm „wie das Werk
eines Irrsinnigen” erschien, nur weil er selbst
mit seinen Sinnen in der Irre war und die
Formsprache der Kunst auch dort noch kei‐
neswegs zu lesen verstand, wo er bedingungslos
Beifall spendete und die Kunstwerke längst zu
verstehen glaubte.
.In den Auslagefenstern der Buchhändler fin‐
det der Vorübergehende neben all den Romanen
des Tages, neben aktuellen und klassischen Bü‐
chern, eine neuartige Literatur, die sich immer
mehr einzubürgern scheint. Sie handelt in man‐
cherlei Abwandlungen: von marktschreierischer
Geschäftigkeit bis zu stillem, ernsten Ethos,
von der weltbewegenden Kraft des
Willens.
.Vielleicht ist es gut, daß solche Bücher ge‐
lesen werden, denn
von tausend Menschen wissen
neunhundertneunundneunzig ihren Willen noch
nicht zu gebrauchen und halten sich für „wil‐
lensstark”, weil sie hypnotisierte Sklaven ihrer
Affekte sind.
.Wer möchte bezweifeln, daß ein
geschulter
Wille das Leben
besser zu leben lehrt, als
willenlose Schwäche, die weder befehlen noch
gehorchen kann?
.Und dennoch gibt es einen Bezirk des Le‐
bens, in dem der Wille die edelsten Blüten ver‐
nichtet, in dem er als Zerstörer auftritt, sobald
er gerufen wird.
.Ich weiß, daß ich mich mit vielen in Wider‐
spruch setzen werde, aber jeder wahre Künstler
wird mich ohne weiteres verstehen, wenn ich
sage, daß
das Reich des künstlerischen Schaf‐
fens
dem Willen entrückt bleiben muß, soll
seelisch Tiefstes in der Sprache der Kunst zu‐
tage treten.
.Man spricht zwar vom „Kunstwillen” eines
Zeitalters, von dem, was einzelne Künstler „wol‐
len”, aber man sollte hier richtiger vom Kunst‐
Trieb sprechen, vom inneren Zwang des
Müs‐
sens, unter dem ein jeder wahrhafte Künstler
steht, denn alles „Gewollte” bedeutet in der
Kunst
Verfälschung, läßt bloßes Handwerk
übrig, wo das Werk mit heiliger Glut erfülltes
Priestertum fordert.
.Gewiß muß der Künstler das Handwerkliche,
das ihn erst zur Darstellung befähigt, von Grund
auf verstehen, allein, das ist allererste
Vorbe‐
dingung und würde ihn, für sich allein be‐
trachtet, niemals zum
Künstler machen.
.Als
Künstler muß er seiner tiefsten
see‐
lischen Erregung folgen und
nicht den Im‐
pulsen seines Willens, wo immer sie ihre Aus‐
lösung gefunden haben mögen.
.Je rücksichtsloser er sich seinem inneren,
kunstgemäße Formgestaltung heischenden „Müs‐
sen” ohne Widerstand ergibt, desto reiner wird
das Werk der Kunst sein, das er schafft.
.Deshalb kann auch ein wahrer Künstler nie‐
mals ein „Programm” aufstellen, nach dem er
zu schaffen gedenkt, ohne dadurch sein Werk
auf das Empfindlichste zu schädigen, ohne es in
seinem Besten zu verfälschen.
.Der
Wille des Schaffenden muß stets be‐
schränkt bleiben auf das Gebiet des rein
Hand‐
werklichen, in dem sein künstlerisches Müssen
Ausdruck finden soll. Er kann nur die
Mittel
wählen, die seinem seelischen Gestaltungstrieb
am besten
dienen werden.
.Sobald er das
Mittel zum
Zweck werden
läßt, sobald ihm
Technisches mehr gilt als
Seelisches oder von ihm auch nur auf gleiche
Stufe erhoben wird, bringt er
Attrappen statt
wahren
Lebens, gibt er Steine statt Brot.
.Ich sehe die Kunst unserer Tage mehr denn
je in dieser Gefahr...
.Man spricht mehr denn je vom „Geiste” und
von „geistigem Ausdruck” in der Kunst, aber
man meint diesen Geist zu besitzen im
Affekt
und seinem Ausdruck: der
Geste. Man weiß
nichts mehr vom
Geiste, der
lebensschwanger
über dem Chaos schwebt und der
allein in
der zum Leben drängenden Form das Leben
ins
Dasein rufen kann.
.Der
Wille der Künstler hat die Grenze über‐
schritten, die ihm gezogen ist, und drängt sich
überlaut in das geheimnisvolle Flüstern der gött‐
lichen Stimme, die allein den Schaffenden leiten
kann, soll eine
Schöpfung und nicht eine
Mache entstehen.
.Die Künstler selbst sehen ihren Irrtum nicht.
.Befangen im Affekt, nennen sie den Über‐
griff des Willens in ein Gebiet, das ihm ewig
verschlossen bleiben sollte, ihren
Willen zu
einem neuen Stil.
.Ja, ihre Wortführer gehen so weit, diesen Stil
bereits zu definieren, und erklären aller Kunst den
Krieg, die nicht „die Zerrissenheit unserer Zeit
zum Ausdruck bringt”. (Das ist wörtliches Zitat!)
.Weiter läßt sich die Verwirrung kaum mehr
treiben, und so sehen wir denn Tag für Tag mehr
Hände und Gehirne am Werk, ein künstlerisches
Chaos zu gestalten, Hände und Gehirne, die,
zum Teil, vielleicht die Weihe in sich tragen, um
aus Chaotischem einen Kosmos schaffen zu kön‐
nen, vorausgesetzt, daß sie sich selbst ihrer der‐
zeitigen Versklavung an das Chaos bewußt wür‐
den und ihr zu entfliehen trachteten.
.All dies Unheil aber entsteht aus einem fol‐
genschweren Mißverständnis des Stil-Begriffes.
.Stil,
als ein Lebendiges, entsteht
ungewollt,
sobald die Triebkräfte eines Lebens in Harmonie
zusammenwirken.
.Was man aber in unseren Tagen als „Stil”
bezeichnet, ist nur versteinerte
Geste, ist uni‐
forme
Konvention und nichts mehr.
.„
Gewollter Stil” ist ein Widerspruch in
sich selbst.
.Entweder, ein Mensch
hat Stil infolge der
Harmonie seiner lebendigen Kräfte, und dann
wird sich dieser Stil auch seinen
Werken mit‐
teilen, falls er ein Künstler ist, oder er hat ihn
nicht, er ist selbst „stillos”, dann wird all sein
„Wille zum Stil” auch seinem Werke nicht zum
Stil verhelfen, sondern bestenfalls eine leere
Form zu Tage fördern, eine Attrappe, die un‐
mündige Seelen täuscht durch ihre große Geste,
der das Leben fehlt.
.Sein Werk gleicht dann der Vogelscheuche,
die erst den Spatzen imponiert, bis sie schließ‐
lich doch merken, daß ‒ „nichts dahinter ist”.
.So ist denn auch alles große Getue, das
sich als Fundamentlegung zu einem neuen Zeit‐
stil gebärdet, eitel Torheit und aufgeblasenes
Gernegroßtum, denn was vom Einzelnen gilt, das
gilt hier auch von den
vielen Einzelnen, die
eine Zeitgemeinschaft bilden.
.Wollen wir die Sehnsucht nach einem „Stil
unserer Zeit” befriedigt sehen, dann muß der
„
Wille zum Stil” verschwinden.
.Dann muß der Wille zurückverwiesen wer‐
den in seine ihm zukommenden Grenzen, muß
dienen lernen, dienen
wollen, wo er jetzt den
Herrn spielen möchte. Und
wäre es nur immer
noch
wirklicher „
Wille”, der sich so gebärdet!
Es ist ja doch allermeistens nichts anderes als
ungezügelter
Affekt, der seine Zeit gekommen
wähnt, sich auszutoben.
.Zu wahrhaftem
Stil in der Kunst gelangen
wir nur, wenn jeder Künstler wieder
in Ehr‐
furcht vor dem Gott in seiner Brust zu seinem
Handwerkszeug greift; auf nichts bedacht, als
seiner Seele Schöpfungsdrang zu folgen, und
seine Mittel zu treuem Dienste am Werk der
lebendigen Gestaltung zu erziehen.
.Mag dieser Stil dann „groß” genannt werden
oder nicht, er wird
unser Stil sein, er wird der
Nachwelt zeigen, daß auch in uns etwas wirklich
Echtes lebte, nicht nur der Talmi-Firlefanz, auf
den allein sie schließen müßte, blieben aus un‐
serer Zeit keine
anderen Werke der Kunst er‐
halten, als die verkrampften hohlen Ausdrucks‐
gesten und Kunst-Grimassen derer, die sich als
Pioniere einer neuen „stilvollen Kultur” gebär‐
den und selbst nicht fühlen, daß ihre ganze
Mache den Kapriolen der Clowns im Zirkus
zum Verwechseln ähnlich ist, ‒ nur leider
nicht
so ernst zu nehmen bleibt, wie diese Arbeit
ehrlicher Artisten.
.Ich will hier nicht von Werken sprechen, zu
denen der Maler, wie etwa ehedem Gabriel von
Max, durch
spiritistische Séancen angeregt
wurde, oder gar von den fragwürdigen Erzeugnis‐
sen „begnadeter” Mal-Medien und solcher Maler,
die sich gerne dafür halten lassen. Es wird viel‐
mehr die Rede sein vom Übersinnlichen im
Schaffensvorgang bei einem
jeden wahrhaf‐
tigen
Künstler, ‒ von dem geheimnisvollen
Etwas, das die treibende
Ursache des Schaffens
bildet: von den in sinnlichen Formen Darstellung
suchenden
Seelenkräften, die in manchen Men‐
schen, ‒ den echten „
Künstlern”, ‒ in einer
nach Ausdruck drängenden Tendenz gegeben sind,
um dann durch die künstlerische Tat zu Tage zu
treten.
.Der Laie macht sich im großen und ganzen
meistens eine sehr irrige Vorstellung zurecht, wenn
er sich das Schaffen, das Schaffen-
müssen eines
wirklichen Künstlers erklären will.
.Die fast allgemeine Annahme ist, daß ein sol‐
cher Mensch eben sein Métier „gelernt” hat und
nun bestrebt ist, es anzuwenden. Man verwechselt
das Künstlertum mit dem erlernbaren
Beruf,
der ihm zur Schaffens-Äußerung
verhilft, wäh‐
rend es eine psycho-physisch begründete, ange‐
borene Eignung eines Menschen ausmacht, der
Vermittler sinnlich faßbaren Ausdrucks für sonst
unfaßbare Seelenregungen zu sein.
.Was sich für einen geborenen Künstler
er‐
lernen läßt, ist nur
die technische Handha‐
bung der Ausdrucksmittel seiner Kunst, was
sich
üben läßt, ist
die Beobachtung der in
seiner Kunst zu brauchenden Wirkungs‐
mittel im Schaffen der Natur.
.Hier, im Schaffen der Natur, findet der Künst‐
ler auch die ewigen kosmischen
Gesetze ausge‐
sprochen, denen er selbst in seinem Schaffen sich
unterordnen muß, will er nicht seine Ausdrucks‐
kraft ins Chaotische strömen lassen und will er
wirklich den „tanzenden Stern” aus dem Chaos
gebären, von dem die Macht ausgeht, seine eigenen
Welten in ihren geordneten Bahnen zu erhalten.
.„Schaffen”
im künstlerischen Sinne ist nicht
das Erscheinenlassen einer Form aus dem
Nichts.
Künstlerisches Schaffen ist:
Organisieren.
.„Formlose Kunst” ist ein Unding. Etwas, wie
das Lichtenbergsche „Messer ohne Heft und
Klinge”.
.Alle Kunst ist seelische Bewegung,
die
zur Form gestaltet wurde.
.Wo also
der durchgereifte Kristallisa‐
tionsprozeß fehlt, wo seelische Bewegung nicht
zur
Gestaltung, zur
Form geworden ist, dort
darf man füglich nicht von „
Kunst” reden, dort
handelt es sich lediglich um unvermögende Ver‐
suche, seelische Bewegung zu gestalten, oder um
die Bemäntelung dieses Unvermögens durch ein
neues oder altes Schlagwort.
.Unsere Zeit ist reich an solchen Erscheinungen,
und es fehlt ihnen allen nicht an begeisterten
Harfnern, die ihren fragwürdigen Göttern in allen
Tonarten, aus der eigenen Ekstase heraus, Lobes‐
hymnen zu singen wissen.
.Um Schlagworte ist man niemals verlegen.
Auch das berühmte: „Sprengen der Form”, durch
das man hilfloses Unvermögen als eine Überfülle
der Kraft zu deuten beliebt, ist ein schönes Schlag‐
wort.
.Wo ein wirklicher „Künstler von Gottes Gna‐
den” eine hergebrachte Form zu „sprengen” unter‐
nimmt, da ist längst
seine eigenschöpferische
Form vorhanden, und der Edelguß seelischer,
klingender Glockenmetalle strömt nicht formlos
dahin, sondern wird umgegossen in eine erweiterte,
längst die alte umfassende neue Form.
.In der Kunst ist das „Gottesgnadentum” auch
heute noch nicht abgeschafft und wird auch
trotz aller bolschewistischen Agitationskunst sich
nicht abschaffen lassen. „Ersatz” dafür ist zwar
reichlich vorhanden, aber das Hochland der Kunst
liegt unerreichbar für seine Usurpatorengelüste.
.Wer nicht von der Urnatur zum Künstler
gebildet, zum Schaffen
gezwungen wurde, der
bleibe fern von ihrem Allerheiligsten!
.„Nimm deine Schuhe von den Füßen, denn
der Ort, da du stehst, ist heiliges Land” ‒ so
spricht Natur zu jedem, den sie zum Künstler
schuf, und wehe ihm, wenn er die Göttergabe
die ihm wurde, jemals profaniert. Er wird niemals
zurückfinden in das Reich des ursprünglichen
Schaffens, das ihm vorbehalten war.
.Die aber
nicht berufen sind und
dennoch
die Toga des Künstlers um ihre Schultern dra‐
pieren, betrügen nur
sich selbst, indem sie
an‐
dere betrügen.
.Gras bleibt Gras, so sehr es sich auch recken
mag, um zum Baume zu werden!
.Eine kleine Zeit hin mag es wohl gelingen,
alle Geister vor den Siegeswagen eines überschätz‐
ten Epigonen zu spannen, aber die ihn heute
zie‐
hen, werden
selbst ihn schon morgen
stürzen.
.Die seelischen Kräfte, die im wahrhaften
„Künstler” sich offenbaren wollen, sind ‒ latent
und ohne Äußerungsdrang ‒ in jedem Menschen.
.Würde sie jeder in sich
erkennen, dann würde
die Menschheit im Künstler ihren berufenen Zei‐
chendeuter: den Seher ihrer geheimsten Regungen
verehren, und es wäre nicht möglich, daß sich
Abertausende durch allerlei Scheinwerk täuschen
ließen, das von wahrhafter „
Kunst”: vom Werke
der geborenen „
Künstler”, nur den
Namen
stiehlt.
.Das Werk des Künstlers entsteht
nicht durch
den
Nachahmungstrieb der Natur gegenüber.
Der Künstler, auch wenn er sich selbst so wenig
kennt, daß er es etwa
meint, will
niemals die
Natur „
wiedergeben”.
.Die Natur bringt ihm nur die
Auslösung
einer seelischen Bewegung, und um dieser seeli‐
schen Bewegung nun
Ausdruck in sinnenfälliger
Weise zu schaffen,
kann er mehr oder weniger,
je nach der Sonderart seiner Begabung, die For‐
men oder Farben der Natur, ihre Erscheinung im
allgemeinen oder im einzelnen
benutzen, er
kann in hohem Grade
von dieser äußeren Er‐
scheinung der Natur abhängig bleiben,
kann
aber, wenn er dazu fähig ist, auch
in ihr Inneres
dringen und
das Wirken ihrer Kräfte in
seinem Werke entschleiern.
.Der wahrhafte Künstler schafft
immer eine
neue Welt aus seinem Innern, indem er die Be‐
wegungen seiner Seelenkräfte zu Formen sinnen‐
fälligen Ausdrucks gestaltet, auch wenn diese neue
Welt der äußeren Erscheinungswelt auf das Ge‐
naueste zu gleichen scheint.
.Inwieweit sich diese neue, durch Eigenschöp‐
fung entstandene Welt mit den Formen der äuße‐
ren Natur deckt, das ist Sache der Begabungsart,
und keineswegs ist, wie ich schon sagte, „Natur‐
treue”, in diesem
äußeren Sinn, ein Gradmesser
für die Höhe oder den Umfang einer Begabung.
.Diesen Gradmesser finden wir nur, wenn wir
in jedem Kunstwerk, das diesen hohen Namen
verdient, nach der
Intensität des Erlebens
einer seelischen Bewegung forschen, und diese
gibt sich zu erkennen in der Intensität der daraus
entstandenen sinnenfälligen
Ausdrucksform.
.Ich glaube klar genug gesagt zu haben, daß
diese Ausdrucksform wohl den äußeren Formen
und Farben der Natur entsprechen
kann, aber
keineswegs ihnen etwa in jedem Falle entsprechen
muß.
.Ein Werk der Malerei oder Plastik kann ein
Kunstwerk höchsten Ranges sein, auch wenn seine
Formen und Farben nirgendwo in der Natur ihre
Entsprechungen haben, aber was immer es an
Formen zeigt, muß
gestaltet, und innerhalb die‐
ser Formenwelt
rhythmisch geordnet erschei‐
nen, oder es hört auf, ein „
Kunstwerk” zu sein.
.Welcher „
Richtung” man einen „Künstler”
zuzählen will oder welcher er sich selber zuzählt,
ist für seine Wertung völlig gleichgültig. Die Frage
muß immer lauten: „ist seine 'Richtung'
echt,
ist es wirklich
seine 'Richtung' oder '
richtet'
er sich selbst”, ‒ das Wort hier im andern Sinne
verstanden, ‒ indem er zeigt, daß er selbst kein
eigenes „
Müssen” in sich trägt, sondern sich
nach einem
Anderen richtet?
.All diese „Richtungen” in der Kunstbeflissen‐
heit unseres an wirklicher „Kunst” so armen Zeit‐
alters sind ja nur
möglich dadurch, daß stets ein
ganzer Klüngel solcher, die
keine eigene Rich‐
tung haben, im Hinterhalt liegt und sich, sobald
einer kommt, der mit seiner
eigenen Richtung
erfolgreiche Bahnen zieht, an sein Schlepptau
hängt.
.Und wer von denen, die heute
über Kunst
zu
schreiben wagen, fühlt denn die großen Zu‐
sammenhänge mit dem Ursprung aller Kunst aller
Zeiten und Völker so tief im Blute strömen, daß
ihm ein
Recht daraus würde, über dieses Myste‐
rium schreiben zu
dürfen??!
.An den Fingern einer Hand sind sie aufzu‐
zählen, die heute „
berufen” wurden, das hohe
Amt des Sprechers für die Kunst zu verwalten.
.So kommt es denn, daß diese Hinterhältler,
die sich ans Schlepptau eines „Echten” hängen,
massenweise beflissene und für alles mit Worten
gewappnete Anreißer auffischen, die dann dem
staunenden Publikum mit überlegener Geste den
endlichen Triumph der „Kunst” in der „neuen
Richtung” verkünden.
.Wäre Kunst, wie es heiß zu wünschen ist,
eine Angelegenheit der allgemeinen Bildung, dann
wüßte auch der gebildete Laie, daß jede große
Kunsterneuerung nur von
Einzelnen ausging
und daß deren Mitläufer bald in wohlverdiente
Vergessenheit gerieten. Würde Kunst als
Lebens‐
äußerung verstehen gelehrt, dann wüßte jeder,
daß echte Künstlerschaft
stets und zu allen
Zeiten nur auf den Schultern Einzelner ruhen
kann und daß jedes „Programm” in der Kunst
den Tod alles ehrlich-wahren Schaffens bedeutet.
.Der wirkliche „Künstler” muß malen, muß
meißeln,
wie es ihm der Gott in seinem In‐
nern befiehlt, einerlei welchen Namen man
seiner Ausdrucksart geben mag.
.„Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Amen!”
.Die aber sich zu „Richtungen” zusammentun,
zeichnen sich zumeist dadurch aus, daß sie auch
einmal
anders konnten, bis sie aus suggestib‐
ler Schwäche sich umnebeln ließen von dem
Weihrauch, den man einem oder dem andern
sonderlinghaften, aber
echten Künstler,
nicht
wegen seines
Künstlertums, sondern
wegen
seiner bizarren Darstellungsallüren dar‐
brachte, wenn sie nicht gar zu denen gehören,
die
allerdings nicht „
anders können”, weil
ihnen
alles tatsächliche „
Können”
fehlt.
.Wer den ganzen Kunstbetrieb ‒ Verzeihung,
aber man kann es nicht anders nennen, ‒ an
den heutigen Kunststätten auch nur einigermaßen
kennt, der weiß auch, daß noch ganz
andere,
wenig erfreuliche Motive viele dazu bringen, ihre
eigene Richtung aufzugeben und sich einer „neuen
Richtung” zu verkaufen, die Erfolg verspricht.
.Es sind durchaus nicht immer unlautere Ele‐
mente, die so handeln. Aber wenn ein Maler
jahrelang sein Bestes zu geben sucht, und er muß
die Erfahrung machen, daß ihm die geschäftlich
erfolgreichsten Kunsthändler die Türen verschlie‐
ßen, während die „neue Richtung” mit ihrem
durchsichtig oberflächlichen Rezept auf allen
Wänden prangt, dann gehört schon eine seltene
Festigkeit und Charakterstärke dazu, weiter zu
darben, während sich die Herren der „neuen Rich‐
tung” mit dem leichtverdienten Gelde reicher
Kunst-Snobs gute Tage bereiten.
.Man sagt, daß Wohlleben das Schaffen so
manchen Künstlers untergraben habe. Es mag
das in vereinzelten Fällen wahr sein, aber ich
glaube behaupten zu dürfen, daß die gemeine
materielle Not
viel mehr Unheil im Bereiche
der Künstlerschaft angerichtet hat!
.Nicht alle von der Natur zur Künstlerschaft
Berufenen haben die nötige
Ehrfurcht vor ihrem
eigenen Priestertum, die sie befähigen könnte,
jeder Not die Stirne zu bieten.
.Soll der wüste Indianertanz, der als modernes
„Kunstleben” auch vielversprechende junge Kräfte
in Massen für alles wahrhafte Künstlertum ver‐
dirbt und zu Grunde richtet, nicht noch weiter
ansteckend stets neue Reihen in seine Delirien
ziehen, soll nicht weiterhin eine Wertvernichtung
großen Stils am Nationalvermögen aller Länder
zehren, dann muß sich das kaufende Publikum
endlich einmal daran erinnern, daß wahrhafte
„Kunst” nur gedeihen kann, wenn das
Volks‐
empfinden hinter ihr steht.
.Erst aber, wenn man sich erinnert, daß der
„Künstler” kein Dekorateur der leeren Wand‐
flächen unsrer Wohnräume, sondern ein Künder
und Deuter der
Seele ist, wird auch das Volks‐
empfinden dem Schaffen seiner Künstler den er‐
forderlichen Rückhalt geben
können.
.Ein jeder berufene echte Künstler ist ein
Brückenbauer, der das Reich der äußeren Sinnen‐
welt mit den Gestaden des Übersinnlichen ver‐
bindet.
.Man muß nur über diese Brücke zu gehen
wissen, das heißt: man muß das stete Bewußtsein
in sich wach erhalten, daß in jedem Werke echter
Kunst
eine seelische Bewegung,
ein seeli‐
sches Erlebnis nach
Ausdruck ringt, und muß
eben dieses „
Erlebnis” in sich
nachzuerleben
suchen.
.Eine solche Stellungnahme des Publikums
würde auch gar bald der leidigen Großmannssucht
der Mäßigbegabten, die sich so gerne „Künstler”
nennen hören, ein Ende bereiten.
.Es gibt ja so viele Gebiete, auf denen eine
erträgliche Begabung Ersprießliches leisten kann.
Nicht jede gute Veranlagung zum Malen oder
Modellieren, selbst nicht ein hervorragender Ge‐
schmack in den Bereichen der Farbe und Form,
ja nicht einmal die beste Beobachtungsgabe und
Treffsicherheit in der Darstellung, berechtigen
ohne weiteres einen solchen
Könner, sich unter
die „
Künstler” zu zählen.
.Hier tut eine Entwirrung der Begriffe bitter
not, wenn sich etwas zum Guten ändern soll.
.Es hat Künstler gegeben, Künstler
aller‐
ersten Ranges, die bei jedem Werke mühevoll
mit den einfachsten Problemen der Darstellung
ringen mußten.
.Von einem überaus feinkultivierten hollän‐
dischen Maler erzählt man, daß er oft lieber
eine Situation, die ihn künstlerisch anregte, in
Worten in sein Notizbuch schrieb, da ihm
das Zeichnen eine Qual war, das Zeichnenkönnen
nicht immer hinreichend zu Gebote stand. Seine
Werke aber sind
echteste und
tiefste „Kunst”.
Aus jedem seiner Bilder spricht eine im Inner‐
sten bewegte Seele.
.Man behauptet: „Das Publikum in seiner All‐
gemeinheit wird niemals fähig sein, große Kunst
aus sich heraus zu würdigen. Es sucht
die Anek‐
dote, klebt nur
am Gegenstand und
ahnt
nichts von wirklichen künstlerischen Werten.”
.Wenn man damit das Publikum treffen will,
so wie es
jetzt ist, irregeleitet durch das alle paar
Jahre in anderen Dissonanzen ertönende Feldge‐
schrei der „Richtungen”, irregeleitet durch eine
von mehr oder weniger Unberufenen geschriebene
oberflächliche Kunstliteratur, dann mag man Recht
haben.
.Aber die Kräfte der Seele, in denen alle Kunst‐
schöpfung ihre letzte Ursache hat, lassen sich
nicht
auf die Dauer verschütten. Man muß nur
den Unrat lockern, der sich seit Generationen
angesammelt hat, und die Kräfte der Seele wer‐
den zeigen, daß sie noch am Leben sind.
.Den weitaus meisten Menschen sind die Werke
der bildenden Kunst, wenn nicht reine
Schmuck‐
Objekte, so doch nur
Abbildungen, Schilde‐
rungen, Darstellungen irgendeines Geschehnisses,
einer landschaftlichen Szenerie, einer Gestalt,
eines Menschen oder auch anderer Lebewesen,
‒ mitunter, wie bei Stilleben, auch der „leb‐
losen Dinge”.
.Spricht man daher von Kunst und Weltan‐
schauung, so setzt man sich leicht dem Mißver‐
ständnis aus, als rede man von dem möglichen
Darstellungs-Inhalt eines Kunstwerkes.
.Nun kann gewiß auch der dargestellte
Gegen‐
stand, im weitesten Sinne, einer Weltanschauung
Ausdruck geben, wobei man nur an die religiöse
Kunst aller Zeiten zu erinnern braucht, ‒ allein,
nicht
dieser, durch den
Darstellungsgegen‐
stand erkennbare Ausdruck einer Weltanschau‐
ung ist hier gemeint, sondern die Weltanschau‐
ung, die sich in der Auffassungs- und Darstel‐
lungs-Art eines jeden Künstlers verrät, ganz
gleich,
welchen Gegenstand der Außenwelt oder
seiner Phantasie er durch sein Bildwerk vor
Augen stellt.
.Ich gehe sogar noch weiter, indem ich aus‐
drücklich betone, daß ein Bildwerk selbst auf
jede, noch so vage Anlehnung an Gegenständ‐
liches
verzichten, daß es eine reine Symphonie
der
Farben oder der
Formen sein kann, und
dennoch ‒
dann erst recht, ‒ eine ausge‐
prägte
Weltanschauung zum Ausdruck bringt.
.Wer die majestätisch feierlichen Grabmale
und die wie aus Schöpfungskräften kristallisierten
Brunnen des viel zu früh verstorbenen Schweizer
Bildhauers Hermann Obrist kennt, wird mich
ohne weiteres verstehen.
.Aber auch wenn ein Künstler in der Wahl
seiner Motive sich als Diener einer bestimmten
Weltanschauung zeigt, ist es noch lange nicht
ausgemacht, daß diese Weltanschauung auch wirk‐
lich die
seine ist, und über alles Gegenständ‐
liche hinaus verrät er sich dem Kundigen
durch
sein Werk als solches!
.Gar viele Maler haben, seit
Giotto seine
Fresken in der Arena zu Padua schuf, die Mo‐
tive der christlichen Heilsgeschichte und mancher
Heiligenlegende behandelt, obwohl ihre
wahre
Weltanschauung
recht wenig mit dem Darge‐
stellten harmonierte. Ihre
Darstellungs-
Ob‐
jekte sind „christlich”, ihre Linie und Farbe
ist Heidentum und Freigeisterei. Bei Giotto
aber ist
jede Linie Ausdruck reinster Religiosi‐
tät, jeder
Pinselstrich ein Gebet eines gläu‐
bigen Herzens.
.Es sind
Imponderabilien, die so zu Ver‐
rätern der wahren Geistesart eines Künstlers
werden, die uns sagen, ob er ein seichter, hohler,
äußerlicher
Könner, oder ein wirklicher
Be‐
gabter des Herzens ist, ob er nur darstellt, was
seine Zeit ihm als Motiv übergibt, oder ob er
wahrhaft
innerlich Erfühltes aus den Tiefen
seiner Seele holt und sichtbar macht.
.In heutiger Zeit ist es sehr beliebt geworden,
wieder die Episoden des Alten und Neuen Testa‐
mentes als Vorwurf zu künstlerischen Werken
zu wählen, aber die Künstler, die hier nun bald
eine „Verkündigung”, bald „Isaaks Opferung”
malen, ahnen es kaum, wie sehr man ihren Wer‐
ken jene müde Skepsis anmerkt, die im Grunde
längst den Glauben
an sich selbst verloren hat.
Sie sehen nicht, was
Rembrandts inbrünstig
erfühlte Geisteswelt von der ihren
trennt, und,
ewig unzufrieden, suchen sie ein unbestimmtes
Ziel, erwarten Schöpfungs-Schauer, wie sie alle
Großen kannten, ohne sich bewußt zu sein, daß,
allen „
Könnens” spottend, Großes nur aus einem
großen
Geiste keimen kann.
.Jeder will
mehr sein als er
ist und verläßt
so, vom Ehrgeiz gejagt, den sicheren Platz, den
ihm die Natur vorbehielt, um dann wie ein
Heimatloser durch die Gefilde der Kunst zu
hetzen, ohne
sich und seine Stätte je zu
finden.
.Es gibt viel mehr solcher geplagter Künstler‐
Existenzen als man glaubt, und mancher recht
berühmte Name wird aus diesen Gründen nie‐
mals seines Ruhmes froh!
.Die
wirklich religiösen Bilder unserer Zeit
werden
selten unter denen zu finden sein, die
durch den
religiösen Vorwurf sich als Werke
hoher Geistigkeit erweisen möchten. Ein
Still‐
leben oder eine
Landschaft können höchste
Geisteswerte in sich tragen, können erfüllt sein
von tiefster Religiosität und so zu wahren
An‐
dachtsbildern werden, während daneben Bil‐
der aus der heiligen Geschichte, trotz aller großen
Geste nichts als matte Anempfindung zu verraten
brauchen. Es bleibt dabei völlig gleich, ob eine
Begabung
älteren Ausdrucksformen folgen zu
müssen glaubt, oder ob sie in neuen und neuesten
Formen den ihr gemäßen Ausdruck findet, ja
sich selbst erst neue Formen schaffen mag, da
alle, die sie um sich findet, ihrem Ausdrucks‐
drang sich nicht bequemen können.
.Es gibt ein Wort von
Goethe, in dem er
Stellung nimmt zu der Frage: wer als „der
Größere” zu betrachten sei, ‒ er oder
Schiller
‒ und in dem er zu dem Schlusse kommt, die
Menschen sollten
froh sein, daß sie „zwei solche
Kerle” hätten. ‒ Dieses Wort ließe leicht sich
variieren und auf die verschiedenen großen Strö‐
mungen anwenden, denen unsere heutigen Künst‐
ler folgen.
.Der ganze Streit über die „Berechtigung”
dieser oder jener Auffassung der Kunst ist ebenso
töricht wie
überflüssig. Ja selbst die
Bezeich‐
nungen verwirren nur, statt zu klären, denn
bald geht ein „Expressionist” notorisch von reiner
Impression aus, bald werden einem „Impressio‐
nisten” seine Darstellungsmittel nur zu Zeug‐
nissen seines reinen Ausdruckswillens:
Expres‐
sion! Nicht anders geht es zu in der „neuen
Sachlichkeit”, im „Surrealismus”, oder der „Neu‐
romantik”. Auch wenn die Künstler sich mit
einem wahren Eigensinn ihren „Richtungen” ver‐
schrieben haben, begehen sie ungewollt bei der
Gestaltung jedes neuen Werkes neue Grenzver‐
letzungen.
.Gewiß wurde die Kunstrichtung, die man mit
dem Namen „Impressionismus” bezeichnet, zu
einer Zeit geboren, die in einer steril-materia‐
listischen Weltauffassung fast erstickte, und
wurde darum auch zum
Spiegelbild jener ma‐
terialistisch orientierten Zeit, allein darin liegt
keine unabänderliche Naturnotwendigkeit, und es
wird stets darauf ankommen, ob der jeweilige
„impressionistische”
Künstler Geistiges zu sagen
hat oder
nicht.
.So überzeugt auch die Freunde „expressio‐
nistischer” Kunst dieser Auffassungsart künstle‐
rischen Schaffens den Ausdruck des
Geistigen
in Erbpacht gegeben haben, so sehr auch unsere
Zeit wieder nach Geistigem
verlangt, so dürfte
es dennoch nicht schwer fallen, auch unter „ex‐
pressionistischen” Werken gerade genug Zeug‐
nisse
banalster Ungeistigkeit zu finden.
.Es ist eben immer und immer wieder die
innerste
Weltanschauung eines Künstlers, die
seinen Schöpfungen das unverwischbare Siegel
aufprägt, und im Grunde lassen sich Kunst und
Weltanschauung
niemals trennen.
.Ein Kunstwerk ist nicht nur ein
Schmuck
der Wand, nicht nur eine
Darstellung irgend‐
welcher Art, sondern stets das ‒ oft unfreiwil‐
lige ‒ tiefste
Seelenbekenntnis seines Schöp‐
fers, weit über alle „
Richtungs”-Angehörigkeit
hinaus.
.Statt sich über die Erscheinungen, die sie be‐
trachten, in eingehender Weise Rechenschaft ab‐
zufordern, sind die meisten Menschen schon zu‐
frieden, wenn sie dafür ein mehr oder weniger
treffendes
Schlagwort finden, und glauben einen
geistigen Besitz errungen zu haben, während sie
nur dessen halbwegs zureichende
leere Hülle
nach Hause tragen.
.Eine solche leere Hülle ist auch das Wort
von der
modernen Kunst.
.Soll damit nur eine
Zeitbestimmung ge‐
troffen werden, soll das Kunstschaffen
heute
Lebender als „moderne Kunst” sein Rubrum
finden, dann ist gegen die Bezeichnung nichts
zu sagen, aber das Schlagwort will
anderes
ausdrücken, will eine
Wertung sein.
.Als Wertung wurde es auch stets gebraucht,
von jeder der einander ablösenden neueren
Kunstrichtungen, die seit fünfzig Jahren als
Symptom neuen ernsten Kunstwillens auftauch‐
ten, und
jede dieser Richtungen machte An‐
spruch darauf,
die „moderne” Kunst zu sein
oder ‒ wie man jetzt lieber sagt ‒ „
die neue
Kunst”.
.Es gibt aber in der
wahrhaftigen Kunst
zwar ein
Früher oder Später, aber
niemals
ein
Alt und
Neu, denn
echte Kunst ist
zeit‐
los, entströmt
ewigen Forderungen der Psyche
und kann, auch wenn Jahrtausende seit ihrem
Erstehen im Werk dahingegangen sind,
niemals
unmodern werden.
.Insofern ist also die Bezeichnung „moderne
Kunst” entweder auf
alle echte Kunst aller
Zeiten anzuwenden, oder man hat es hier nicht
nur mit einem
Schlagwort, sondern mit einer
bedenklichen
Phrase zu tun.
.Gewiß gibt es auch
Modeströmungen in
der Kunstübung einer Zeit, und selbst die Werke
der
Eigenartigsten und
Besten unter den
Schaffenden können von solchen Modeströmun‐
gen berührt sein, aber ihre Symptome sind für
den echten Kunstfreund, der seinem Fühlen
ver‐
trauen kann, entweder eine stärkere, mitunter
auch nur leise irritierende
Beeinträchtigung
seines Kunstgenusses, oder sie werden von ihm
als ein sublimer
Reiz empfunden, der ihn das
Wesen der
Entstehungszeit des Werkes mit‐
empfinden läßt, der aber
außerhalb aller ei‐
gentlichen
Wertung des Kunstwerkes liegt.
.Wenn man also mit dem Schlagwort: „mod‐
derne” oder „neue” Kunst nur das bezeichnen will,
was an einem Werke etwa der neuesten
Zeit‐
mode entspricht, so berührt man damit in keiner
Weise das Werk als ein Werk der
Kunst.
.Echte Kunst entsteht aus dem innersten,
quellenden Grunde der Seele! Die tiefen
Brunnen, aus denen der wahrhafte Künstler
schöpft, reichen hinab,
weit unter das Reich
des im Alltag
Bewußten,
weit unter die tief‐
sten Tiefen des „Stromes der Zeit”, empfangen
ihre stets sich erneuernde Fülle durch tief ver‐
borgene Quelladern ewig sich selbst gleichenden
Lebens.
.Nur das
Gefäß: der Eimer, mit dem der
Künstler schöpft, kann
modische Form tragen,
und wie Wasser, stets die Formen des Gefäßes
ausfüllend, in dem es gefaßt wird, gleichsam
auf diese Weise die Form des Gefäßes
darstellt,
und dennoch in
jeder Form immer
Wasser
bleibt, so nimmt auch echte Kunst zwar äußer‐
liche
Formen an, die ihr die
Zeit ihres Ent‐
stehens zur Sichtbarkeit gibt, und bleibt doch
zu
jeder Zeit die gleiche
ewige Kunst.
.Sofern es sich nur um wirkliche
Kunst han‐
delt, nicht um einen Versuch,
die Natur zu
imitieren, im Sinne des Panoramas oder des
Panoptikums, ist die Kunst
aller Zeiten stets
„modern”, weil das
Ewige aller Zeit Gegen‐
wart ist und niemals „unmodern” werden
kann.
.Es wird nun begreiflich erscheinen, wenn ich
sage, daß dem Glauben jeder neuen Kunstrich‐
tung,
ihre Werke seien nun
allein berechtigt,
sich als moderne oder als
die neue Kunst zu
bezeichnen, eine
tiefe Sehnsucht zugrunde
liegt, zugleich ein unruhig gewordenes
Ahnen
von der ewigen Moderne
aller echten Kunst.
.Man will sagen, daß man wieder
echte
Kunst zu schaffen willens sei, und man um‐
schreibt das, indem man von moderner oder
neuer Kunst redet.
.Nach den großen Kunstperioden des Mittel‐
alters und der Renaissance waren allmählich die
Brunnen echter Kunst immer mehr überwuchert
worden von dem üppig emporschießenden Un‐
kraut bloßen
Imitationswillens, und nur ver‐
einzelt fanden einige Wenige ihre Zugänge,
schöpften daraus und wurden von ihren Zeitge‐
nossen gering gewertet, weil ihre Zeit nichts
mehr von den
Quellen der Tiefe ahnte, und
es bequemer fand, ihren Durst an den säfterei‐
chen Stengeln und Früchten des Unkrautes über
den Brunnenrändern zu stillen.
.Am Anfang des
neunzehnten Jahrhun‐
derts erst begann wieder ein reges Suchen nach
den
Quellen der Kunst. Junge, begeisterte
deutsche Künstler glaubten diesen Quellen wie‐
der näher zu kommen, indem sie sich
in der
äußeren Form den Künstlern des Mittelalters
und der Renaissance anschlossen. Sie
erstrebten
das Höchste, aber zu den
Quellen fanden sie
nicht zurück. In der Geschichte der Kunst
sind sie unter dem Namen der „
Nazarener”,
einer ursprünglich als Spottname gebrauchten Be‐
zeichnung, bekannt.
.Näher den Quellen kamen schon die „
Ro‐
mantiker”, die durch Wackenroders „
Ergießun‐
gen eines kunstliebenden Klosterbruders”
mächtig angeregt, beinahe als seelische Vorläufer
des Expressionismus betrachtet werden können,
so fern sie auch
in formaler Hinsicht der
expressionistischen
Methode stehen.
.Wirklich zu den Quellen zurück fanden
erst gegen die Mitte des neunzehnten Jahrhun‐
derts einige französische Künstler, in deren Lande
die Tradition nie ganz abgerissen war, vor allem
Manet und
Cézanne, und so ist die Bewegung,
die alle zur künstlerischen Vollendung streben‐
den Künstler aller Nationen einmal nach Frank‐
reich führte, keineswegs als eine „üble Auslän‐
derei”, als ein Vergessen eigenen Wertes aufzu‐
fassen, sondern entsprang einer
Naturnotwen‐
digkeit, die vor keinen nationalen Grenzen
Halt machen
durfte.
.Tatsächlich zeigten auch die beiden genann‐
ten Künstler dem Kunstschaffen
der ganzen
Welt wieder den Weg zu den Quellen, so sehr
auch dann die Künstler verschiedener Nationen,
oder starke eigenschöpferische Begabungen, wie
etwa Hodler, oder Edvard Munch, in ihren Wer‐
ken voneinander abweichen mögen. Sind doch
selbst Künstler, wie der bewußt aus tiefster Seele
deutsche
Hans Thoma, oder der an mittelalter‐
liche deutsche Frühkunst erinnernde
Leibl, ohne
ihre Pariser Zeit überhaupt nicht zu denken.
.Einmal auf
die ewig strömenden Quellen
hingewiesen, glaubte aber die
neuere Generation
der Künstler mit allem Recht in den Werken
Manets und
Cézannes noch keineswegs die
tief‐
sten dieser Quellen wirksam, und so entstand das
bohrende Suchen nach
neuen,
tieferen Quellen.
.Es ist in nicht wenigen Fällen
eine heilige
Sehnsucht, die diese jüngeren Künstler erfüllt,
die lieber am Wege ermattet umkommen wollen,
als daß sie je das
Ziel ihrer Sehnsucht preis‐
geben möchten.
.Daß allerhand
Mitläufer ohne inneren Be‐
ruf ihnen „abgucken, wie sie sich räuspern und
spucken” nimmt den wenigen
Echten nichts
von ihrem Wert.
.Verderben bringt nur das beflissene
Kunst‐
schreibertum unserer Tage, das im Jargon der
Jahrmarktsausrufer hinter
jeder derartigen Er‐
scheinung her ist, mag sie echt oder unecht sein,
und ihr „Räuspern und Spucken” unter totaler
Verkennung der
wirklichen Wertmaße mit Em‐
phase anpreist, als ‒
die „neue” Kunst.
.Statt dem Laien überzeugend darzulegen, daß
es sich hier um ein verzweifelt ernstes
Ringen
um das Höchste und zugleich im Allertiefsten
Begründete handelt, daß aber alles, was
bis
jetzt vorliegt, nur aus glühender Sehnsucht ge‐
borene
Versuche sind, zu tieferen Quellen vor‐
zudringen,
Versuche, auch wenn sie schon in
manchen Fällen den Sieg
versprechen, wird
ihm alles, was irgend eine neue Richtung her‐
vorbringt, mag es das Werk eines Echten, oder
durchsichtige Charlatanerie sein, in Bausch und
Bogen aufgeredet, oder aufzureden versucht, als
die einzige Kunst, die fürderhin noch in Be‐
tracht kommen könne.
.Kein Wunder, wenn da viele, die noch ge‐
sunde Instinkte in sich spüren, aber doch auf
dem Gebiet der Kunst nicht erfahren genug
sind, das Kind mit dem Bade ausschütten, und
das, was sie als ernsthafte
Versuche allenfalls
verstehen könnten, als aufgedrungenes letztes
Ziel der Kunst rundweg ablehnen.
.Die Zeit wird zeigen, daß die
Ernsten und
Echten unter den neueren Künstlern eines Ta‐
ges ihr
Ziel, den unmittelbarsten Ausdruck ihres
geistigen, künstlerischen Fühlens zu geben,
er‐
reichen werden, wenn auch das
Endresultat
ganz
anders aussehen mag, als man das jetzt
noch, nach den vorliegenden Versuchen, erwarten
oder gar fürchten möchte.
.Was so zutage gefördert werden wird, ist
dann keineswegs moderner als die Werke
Giot‐
to'
s,
Dürers,
Holbeins,
Rembrandts oder des
Frans Hals.
.Es wird, wenn es das letzte Ziel
erreicht
hat,
ewige Kunst sein, wie die Kunst des
Mittelalters, die Kunst der alten
Chinesen
und ihrer Schüler, der
Japaner, die
altgrie‐
chische oder die beste
ägyptische Kunst:
es wird, wie
jedes echte Kunstwerk, von
Lio‐
nardo und
Michelangelo bis zu allem Echten
unserer Tage, niemals unmodern werden
kön‐
nen, und so ist es nur freudig zu begrüßen,
daß auch unsere ‒ nicht immer den
Jahren
nach ‒ „Jüngsten” einer
echten,
modernen
Kunst entgegen
streben, wenn sie ihr Ziel auch
heute noch keineswegs
erreicht haben, was ja
die Besten unter ihnen willig zugeben.
.„
Expressionismus” ist, ‒ fast muß man
schon sagen: „war”, ‒
eine der vielen modernen
Künstlerbestrebungen und wird von den Laien
meistens mit
Kubismus,
Futurismus,
Sphä‐
rismus und wie die schönen Worte alle heißen,
in einen Topf geworfen.
.Das Wort „Expressionismus” will aber als
künstlerische Bestrebungs-Bezeichnung nichts
weiter besagen, als daß die Anhänger dieser Be‐
strebung zum unmittelbarsten
Ausdruck, zur
„
Expression” ihres seelischen Empfindens drän‐
gen, im Gegensatz zum „Impressionismus” der den
intensiven
Eindruck wiedergestalten will, den
ihm die
Außendinge vermitteln. „Expressionis‐
mus”
will also zu einer
vergeistigten Kunst,
und einerlei, ob die zur Zeit unter diesem Namen
gepflegten Bestrebungen in der Malerei, der Pla‐
stik, Literatur und Musik jemals ihr
Ziel durch
ihre heute schon zur Mode und Manier gewordenen
Methoden erreichen
werden oder auch nur
erreichen
können, so hat doch solches Ringen
um den heiligen Geist, solches Streben um die
Weihe des heiligen Gral, wahrhaft Anspruch auf
ernsteste Beachtung.
.Daß die
Nachläufer zur Negerkunst, zum
kulturlosen Lallen des Urzeit-Menschentieres ent‐
arten, darf nicht davon abhalten, in den wenigen
echten Künstlern dieser Art das Ringen um
höchste Ziele anzuerkennen.
.Etwas ganz anderes ist es, ob man die
Me‐
thode für tauglich halten wird, zu dem erstrebten
hohen Ziele zu gelangen, und hier fehlt es meines
Erachtens auch den
besten Künstlern, die auf
diesen Wegen wandeln, an
philosophischer
Durchdringung des Wesens
aller Kunst. Sie
möchten eine neue Kunst
erschaffen, auf We‐
gen, die sie niemals konsequent
zu Ende zu
denken willig sind.
.Sie fanden einen
Anfang, der eine gangbare
Straße verspricht, und sind davon derart begei‐
stert, daß ihnen die Ruhe fehlt, das
Ende zu
erschließen in logischer Folge, zu dem diese Straße
schließlich führen
muß.
.Beliebt ist es heute, für jede neue „Kunst‐
richtung” sich unter den großen Meistern der
Vergangenheit die
Ahnen zu suchen.
.Aber die hier ihre Ahnen zu finden meinen,
verkleinern sich selbst, gleichen Parvenus, die
sich mit ihrem Gelde Schlösser bauen im Stil
der Großen der Vergangenheit.
.Wenn
für die expressionistische Malerei
im Ganzen „Ahnen” gemacht werden sollen aus
allen großen Künstlern, die einem stark bewegten
seelischen
Ausdruck in ihrer Kunst zustrebten,
und wenn sich beflissene Kunst-Snobs finden, die
für alles, in dem sie Hautgout wittern, begeistert
sind und die den auf expressionistischer Bahn
wandelnden Künstlern in suggestiv übersteigerter
Sprache diese Ahnen einzureden, aufzuschwatzen
suchen, so ist das, gelinde gesagt: ‒ „Grober
Unfug”.
.Auch die Künstler
selbst, die auf diese, nur
durch ihre unbewußte Komik etwas versöhnende
Ahnenmacherei hineinfallen, sind sich leider
nicht bewußt, welche
Blößen sie sich damit
geben, denn hätten sie jemals einen dieser Großen
wirklich gründlich studiert, nicht eingeengt
in ihrem Gesichtsfeld durch das Sehrohr ihrer
eigenen Wünsche, dann hätten sie finden müssen,
daß zwar in den Werken eines jeden nach beweg‐
tem Ausdruck strebenden Künstlers
Elemente
der expressionistischen Methode zu finden sind,
aber
niemals losgelöst und
für sich bestehend,
sondern
eingegangen in das Werk, darin ver‐
borgen, wie das Knochengerüst im Körper.
.Wie im Werke eines jeden guten Künstlers
auf die eine oder die andere Art „
Ornament”
verborgen sein muß, ja wie sein Werk erst da‐
durch Halt und Ausdruck findet, so war auch zu
allen Zeiten in jedem Werke, nach starkem be‐
wegtem Ausdruck strebender Künstler, die
ex‐
pressionistische Methode latent enthalten,
und es wird auch in den Werken, die erst nach
Jahrtausenden entstehen, nicht anders sein.
.Das, was die expressionistische Methode jetzt
isoliert und
nackt zutage schafft, ist wie ein
Mensch ohne Haut, ein anatomisches Präparat,
aber ‒ kein
Leben, so sehr sich auch die Ver‐
treter dieser Methode zugute halten, daß erst
sie
dazu gekommen seien,
das Leben selbst auf‐
zuzeigen.
.Expressionistische Methode muß in einem
auf seelisch bewegten Ausdruck angelegten Kunst‐
werk sein, wie
Perspektive oder
Anatomie in
jeder Landschaft, jedem guten europäischen Fi‐
gurenbilde der letzten Jahrhunderte stecken: ‒
latent darin enthalten, aber nicht losgelöst,
gleichsam herauspräpariert aus der lebendigen
Neuschöpfung einer inneren, der äußeren zwar
mehr oder weniger ähnlichen, doch stets
für sich
bestehenden Welt, die das Werk eines jeden ech‐
ten Künstlers darstellt, mag es ein Werk der Ma‐
lerei, eine Plastik, ein Werk der Literatur oder
eine musikalische Schöpfung sein, bei welch letz‐
terer allerdings der Fall insofern etwas anders
liegt, als die „Außenwelt”, der sie entspricht,
das
Reich der rhythmischen Intervalle, der
kosmischen Bewegung kleinster
Energie‐
zentren ist, die dem Nichtmusiker erst in ihren
Wirkungen, innerhalb der uns umgebenden
Erscheinungswelt, bewußt werden.
.Es ist darum
scharf zu unterscheiden
zwischen „Expressionismus” als
Willens-
Im‐
puls, und expressionistischer
Methode.
.Der expressionistische
Willens-
Impuls stellt
eine Reaktion dar, auf die vorausgegangenen
künstlerischen Aspirationen, deren letzte Ziele
ein Ersticken im
Ungeistigen, im
Nur-
mate‐
riellen bedeuteten.
.Insofern ist er
in hohem Maße begrüßens‐
wert.
.Aber
Geist läßt sich nicht von
Materie
scheiden, und das
wirklich vergeistigte Kunst‐
werk kann
nur entstehen, wenn es in der inneren
Welt eines Künstlers
Gestalt findet, ‒ auch
da aus subtilster Materie geschaffen! ‒ aber den
ewigen kosmischen Gesetzen
aller Gestaltung,
sowohl in der sinnlich wahrnehmbaren Außen‐
welt, als auch in allen metaphysisch ergründ‐
baren Welten, entsprechend.
.Als
Durchgangs-Station für einen innerlich
bewegten, echten Künstler mag der expressioni‐
stischen
Methode der gleiche Wert beigemessen
werden, wie dem Studium anderer künstlerischer
Hilfsmethoden, und in diesem Sinne sollte sie
nebenbei, zum Nutzen der Studierenden, auf
unsern Akademien betrieben werden, aber
im
Werke des Künstlers kommt ihr nur
dienende
Bedeutung zu.
.Schlagworte haben in der Welt schon den
übelsten Schaden angerichtet. Wer das nicht
weiß, der sehe sich nur im Leben des Alltags
um. Er wird da genug Beispiele finden!
.Verhängnisvoll wird aber auch die Herrschaft
der Schlagworte auf den Gebieten des mensch‐
lichen
Geisteslebens, und besonders dort, wo
sie das
Empfinden einer Erscheinung verfäl‐
schen, weil sie die Seele des Empfindenden in
irriger Weise „einstellen”.
.Zu der Kategorie solcher verderblicher Schlag‐
worte gehören die Bezeichnungen, die von ein‐
zelnen
Künstlergruppen aufgegriffen wurden,
um ihrer Art der Auffassung des künstlerischen
Schaffens zu einem Namen zu verhelfen.
.Der Laie, ohnehin schon konfus gemacht und
verärgert durch dieses unruhige, ihm ganz un‐
begreifliche Drängen der Künstler nach „neuen”,
immer wieder
überneuerten Zielen, weiß sich
schließlich keinen andern Rat, als je nach Nei‐
gung und Kunstgefühl die Kunstauffassung, die
ihm unter einem solchen Schlagwort entgegentritt,
und die ihm stets wieder und wieder als das
Alpha und Omega aller wahren Kunst aufgeredet
wird, für das
endgültig aus diesem Wirrwarr
Erlösende zu halten, und verschreibt sich so seinem
Schlagwort, wütend, und außer sich geratend,
wenn es eines Tages wieder gestürzt werden soll.
.Längst ist der „Impressionismus” noch nicht
auf allen Linien Sieger geworden, aber lange
schon treten immer neue, ihn verwerfende an‐
dere „Richtungen” zutage, Richtungen, die zwar
zum Teil weiter nichts als eine entsprechend
„
modernisierte” Auflage des seligen „Jugend‐
stils” unglückseligen Angedenkens darstellen,
zum anderen Teil aber
wirklich auf ihre Art
zu hohen, neuen Zielen weisen, wenn man auch
noch auf den Wegen zu diesen Zielen bald da‐
hin, bald dorthin abirren mag.
.Nun soll der Laie, der eben erst kaum dabei
war, halbwegs zu begreifen, um was es sich ei‐
gentlich beim „Impressionismus”
handelt, schon
wieder umlernen, weil ‒ der „Impressionismus”
angeblich „überwunden” sei.
.Kein Wunder, wenn man sich sträubt, und
was sich
nicht sträubt, und mit wildem Gesti‐
kulieren schleunigst dabei ist, mitzulaufen, weil
es „etwas Neues, noch nie Dagewesenes” gibt,
das hat den „Impressionismus”
ganz sicher
noch nicht überwunden”, weil ‒ es ihn ebenso‐
wenig verstand, wie es das einzig
Wesentliche
dessen begreift, was ihm unter dem Namen „Ex‐
pressionismus” in einem Sammelsurium der ver‐
schiedensten Strebungen entgegentritt.
.Die Wahrheit ist: daß
weder das Wort „Im‐
pressionismus”,
noch die Bezeichnungen „Expres‐
sionismus”, „Surrealismus”, „Kubismus”, „Neue
Sachlichkeit”, oder wie immer die Etikette einer
neuen Kunstrichtung lauten mag, sei es der
reinen Wortbedeutung nach, sei es in bezug auf
die darunter verstandenen praktischen Bestre‐
bungen, irgendwie gerade
das bezeichnen, auf
was es den ernst zu nehmenden Künstlern aller
Zeiten
allein ankam, und auf was es auch
allen wirklich Wertvollen in
heutiger Zeit an‐
kommt: den
Bekenntnistrieb ihrer Seelen‐
kräfte im Schaffen auszuleben!
.Dazu aber gibt es die
verschiedensten Mög‐
lichkeiten, und das ist gut so, sonst würde die
Kunst das langweiligste Gebiet menschlichen
Geisteslebens.
.Es gibt allenfalls
gute und
schlechte Kunst,
‒ streng genommen überhaupt nur
Kunst,
denn ein
wirkliches „Kunstwerk” ist niemals
schlecht.
.Was man so landläufig als „schlechte” Kunst
bezeichnen mag, ist die Talmiware, die sich für
Kunst
ausgibt und dem Publikum Sand in
die Augen bläst, damit es ihre Erbärmlichkeit
nicht sehe.
.Gewiß tauchen in jeder Zeitperiode neue
Ziele aus kosmischen Urtiefen auf, die dann die
Kräfte der Besten magnetisch an sich fesseln:
die
erreicht sein wollen, ob auch der einzelne
Künstler auf seinem Wallfahrtswege zu Grunde
geht, oder mit Spott und Hohn übergossen wird.
Aber immer wieder handelt es sich um die gleiche
Frage: „Zeige mir, ob Du zu Deinem Streben
auch
berechtigt bist, ‒ ob man Dich innerlich
berufen hat, oder ob Du nur ein
Nachläufer
bist auf den Wegen, die
nie und nimmer von
Dir betreten werden wollen, weil Du sie ent‐
weihst!?!”
.Der wahrhaft von seinem Gott getriebene
echte Künstler kann nie im Zweifel sein über
seinen Weg, sobald er einmal die ersten Anhöhen
im Lande der Kunst erklommen hat, die ihm
das ausgebreitete Gefilde weithin zeigen.
.Er wird still seine Straße ziehen, und nur,
wenn ihm
sein Gott eines Tages befiehlt, ur‐
plötzlich seine Wegrichtung zu ändern, wird er
ihm gehorsam folgen, auch wenn Ruf und Namen
durch den neuen Weg gefährdet werden, den der
Künstler dann erst mühevoll sich selber bahnen
muß.
.Niemals aber kann er zum „Nachläufer”
entarten!
.Ein wahrer Künstler hebt die Hand nicht
zum Werke ohne
inneren,
verpflichtenden
Befehl, und es wird ihm stets völlig gleich‐
gültig sein, ob man sein Werk
dieser oder
jener Kategorie künstlerischen Schaffens zu‐
zählen mag.
.Ob er nun auf den Grundlagen aufbaut, die
man speziell dem „
Impressionismus” verdankt,
oder ob er eine Form der Aussprache pflegt, die
irgendwo in den Sammelnamen „
Expressionis‐
mus” miteinbezogen werden kann, das ist ja
auch
so unsäglich nebensächlich, ‒ viel
nebensächlicher noch, als ob er diese oder jene
Farben bevorzugt, ob er überhaupt die Farbe
braucht, oder aus Schwarz und Weiß die Skala
der Töne bildet, die ihm zur Aussprache dienen
müssen, ‒ ob er große oder kleinste Formate
für sein Schaffen wählt.
.Stets wird es darauf ankommen, ob das, was
er schafft,
echte Kunst,
ursprünglichstes
Seelenbekenntnis ist, und aller
Wert, auch
in
materieller Hinsicht, wird allein nur von
dieser Voraussetzung her bestimmt, alle
Dauer
dieses Wertes ruht nur in der
überzeugen‐
den Kraft, die dem Bekenntnis seiner Seele
innewohnt.
.Man hat allzulange den „Laien” betrogen,
indem man ihn glauben machte, das Wesentliche
der echten Kunst sei Dokumentierung der Ge‐
schicklichkeit. „Kunst kommt doch von Kön‐
nen”, lautet das läppische und so triviale Wort,
das man heute noch im Munde besonders Klu‐
ger findet!
.Gewiß, ‒ aber hier handelt es sich um ein
„Können”, das aus der
Seele strömt, ein
Ver‐
mögen des schöpferischen Entfaltens, ‒
und
nicht um eine durch „Erlernen” zu erwer‐
bende
Geschicklichkeit!
.Ein Künstler „
kann” etwas, weil er
schaf‐
fen kann, weil er nicht nur „produziert” und
Gelerntes auf mehr oder weniger geschickte Art
zur Anwendung bringt.
.Nicht die „stupende Technik”, die „korrekte
Zeichnung”, die „fabelhafte Differenzierung der
Valeurs”, und wie die schönen Lobestitel alle
heißen, durch die man geschickte
Mache als
„
Kunst” vorzutäuschen sucht, geben jemals
einen Gradmesser ab zur Bewertung eines wahren
Kunstwerkes.
.Die
schöpferische Kraft und die
ursprüng‐
liche Bekenntnisfreudigkeit des Künstlers
zu dem Ausdrucksdrang seiner Seelenkräfte, ent‐
scheiden
ganz allein über den
Wert seines
Werkes, und sie
allein verleihen dem Wert des
Werkes
Dauer.
.Kein Mensch wird in hundert Jahren dar‐
nach fragen, ob es mehr dem „Ex”- oder dem
„lmpressionismus” zuzuzählen sei, wenn ein
Kunstfühlender seinen Wert bestimmt.
.Zur Zeit
Rembrandts gab es eine Menge
Maler, die herrlich und in Freuden lebten und
die Gunst des Publikums genossen. Heute greift
man sich an den Kopf und faßt es nicht, daß
diese traurigen Tröpfe ihren Markt hatten, wäh‐
rend Rembrandt stets mehr im Elend versank,
je ungehemmter er dem Gott seiner großen Seele
diente.
.Als
Kuriositäten, nicht ganz ohne Lieb‐
haberwert, betrachtet man nunmehr diese Mach‐
werke seiner Nebenbuhler, während das beschei‐
denste Bildchen von Rembrandts Hand heute
fast unbezahlbar ist.
.So war es und so wird es immer sein, mag
auch die Meute hinter allen Großen kläffen, die
anderes zu offenbaren haben, als das ihr Alt‐
bekannte.
.Stets wird die
Zeit zu richten wissen, und
niemals wird sie danach fragen, durch welches
Schlagwort man die Werke eines Künstlers ein‐
mal einzuengen suchte, oder welcher „Richtung”
er sich selbst vielleicht verschrieben glaubte.
.Was an Echtem ans Licht will, kommt aus
den
Tiefen der menschlichen Seele, aus
göttlich klaren Brunnen, wenn es auch heute
noch manche Trübung durch das Erdreich zeigt,
das erst durchbrochen werden muß.
.Wer darf es denen, die diese Quellen rauschen
hören, heute verargen, wenn sie nun
alles Heil
allein von
ihren Brunnen her erwarten?!
.Die
Echten, die
Schaffenden, werden gar
bald erkennen, daß deshalb die
vor ihnen
von
Früheren begründete Kunstrichtung noch lange
nicht „überwunden” ist, werden im
Gegenteil
sehen lernen, wie sie selbst nur fest auf dieser
Erde Boden stehen, wenn sie alles in sich sau‐
gen, wie die Wurzeln eines Baumes, was an
echten Werten in
jedem echten, künstlerischen
Streben aufzufinden ist.
.Es gibt sehr feinsinnige Kunstfreunde, die
durchaus nicht allem Neuen abhold sind, und
dennoch den neueren Bestrebungen in der Malerei
scharf ablehnend gegenüber stehen.
.Man kann das wohl begreifen, denn was bis
jetzt an Resultaten vorliegt, ist zwar reich an
einzelnen guten
Ansätzen, aber das meiste Gute
erstickt fast im üppigen Unkraut abstruser Ge‐
bilde, deren wilde Geste oder idiotenhafte, naiv
sein
wollende Grimasse wahrlich jedem geläu‐
terten Geschmack ein gelindes Grausen abnötigen
muß.
.Es geht eben hier wie überall: ‒ wer
Kultur‐
werte schaffen will, muß
selbst ein gerüttelt Maß
hoher Kultur
in sich tragen, und die, von denen
man solches behaupten darf, sind und waren zu
allen Zeiten selten.
.Wenn aber die wirklich wertvollen Stilele‐
mente, die bereits da und dort zu ersehen sind,
zu einem neuen Stil in der Malerei ausreifen
sollen, dann darf der Kunstfreund, für den doch
alle Kunst geschaffen wird, trotz aller wohlbe‐
gründeten Abneigung gegen das mitunterlaufende
Chaotische, seine
Mitarbeit nicht versagen.
.Diese Mitarbeit aber verlangt in erster Linie
eine vorurteilslose, willige Einstellung des eigenen
Einfühlungsvermögens gegenüber den neuen,
und auf den ersten Blick befremdenden Formen.
.Man darf sich, will man zu einem
sicheren
Urteil kommen, nicht selbst den Weg dazu ver‐
sperren durch theoretische Erwägungen, die von
ganz andersartigen Strebensäußerungen im
Reiche der Kunst ihre Sanktion empfangen.
.Unsagbar viel ist zu allen Zeiten darüber ge‐
schrieben worden, was die Malerei als höchste
Kunst sein „
soll”, sein „
kann” und sein „
darf”.
.Künstler stellten die Forderungen, die
ihr
eigner Genius an sie stellte, als
allgemein‐
gültige Normen auf, und gelehrte Kunstfreunde
suchten das, was
sie selbst am stärksten beein‐
druckte, mit allem psychologischen und philoso‐
phischen Apparat emporzuschrauben, damit es
den kommenden Zeiten als hohes Vorbild leuchte.
.Aber das Schaffen-„
Müssen” echter Künstler
spottet aller gutgemeinten Ermahnungen, spottet
des grimmigsten Tadels und der überschwäng‐
lichsten Lobeserhebung, weil jeder wirklich be‐
rufene, starke Künstler, allen Theorien entrückt,
stets wieder nur nach den
ihm innewohnenden
Gesetzen allein gestalten
kann.
.Sein Werk dient dann vielleicht zum Aus‐
gangspunkt für eine
neue Theorie, die ebenso‐
wenig auf
allgemeine Gültigkeit Anspruch hat,
wie die
früheren Theorien.
.Selten nur macht sich der Kunstfreund klar,
welcher Kunsttheorie seine Liebe zur Kunst und
sein Urteil unterworfen ist.
.In den meisten Fällen sind seine Kunstfor‐
derungen hergeleitet von einem Sammelbecken
aller erdenklichen Kunst-Theorien, die im
Laufe der Jahrhunderte entstanden, und deren
tatsächliche
Befolgung durch schaffende Künst‐
ler stets nur eine matte und kraftlose Epigonen‐
kunst zutage förderte.
.Er hat vielleicht viele große Museen alter
Kunst durchwandert, viele der modernen Aus‐
stellungen gesehen, und allerhand kunstgeschicht‐
liche Studien hinter sich, so daß er sich nur allzu‐
gerne ein gewisses „Kunstverständnis” zutraut,
und es auch, vielleicht, in gewissem Maße besitzt.
.Nun ist aber
Kunst etwas
Lebendiges, etwas,
das in stetem Wandel seiner Formen begriffen
ist, so daß man, auf das bekannte Wort Nietzsches
anspielend, wohl sagen könnte: „Nur wer sich
wandelt, ist mit ihr verwandt”: ‒ nur wer sich
in seinem Einfühlungsvermögen stets wandlungs‐
fähig zu erhalten weiß, tritt in ein
inneres,
lebendiges Verhältnis zur Kunst.
.Der in seine, ihm von außen her überkommene
Kunst-Theorie verrannte Eigensinnige wird es
dagegen dulden müssen, daß die Kunst lächelnd
ihre Bahn weiter schreitet, ob er sie nun erken‐
nen mag oder nicht.
.Das Gebiet der freien Kunst läßt sich nicht
mit Staketenzäunen abgrenzen, und seine Straßen
sperren keine Schlagbäume.
.Die sich vermessentlich berufen dünkten, seine
Ausdehnung
bestimmen zu dürfen, glaubten
noch zu allen Zeiten, die Kunst
überschreite
ihr eigenes Gebiet, wenn sie sich nicht an
jene Grenzlinien kehrte, die diese Neunmalklugen
ihr fürsorglich gezogen hatten.
.So spricht man denn auch jetzt noch, gelassen
und von keinem Zweifel beirrt, zuweilen den
Satz aus, das Bestreben der neueren Malerei sei
„eine Überschreitung der
Grenzen” dieser Kunst.
.Wenn man aber auch wahrlich nicht in Ver‐
legenheit gerät, sobald man ernstlich nach kriti‐
schen Waffen sucht, um die heute allerwege
aller‐
neueste Malerei zu
bekämpfen, wenn auch
Expressionismus und Kubismus keineswegs so
unangreifbar sind, wie ihre Anhänger in schöner
Begeisterung glauben, so ist doch gerade der Vor‐
wurf der „Grenzüberschreitung”
diesen Rich‐
tungen gegenüber eine recht
ungeeignete Waffe,
denn sie fliegt unfehlbar zurück wie ein Bume‐
rang, aber durchaus nicht in die
Hände dessen,
der sie geworfen hat.
.Abgesehen davon, daß man nur im Banne
einer bestimmten Ästhetik diesen Vorwurf als
Tadel auffassen kann, daß er aber ebensowohl,
‒ ich erinnere hier nur an die Entwicklung der
Musik seit Beethoven, ‒ von
anderem Stand‐
punkt her gesehen, höchstes
Lob in sich schließt,
ist ja gerade die puritanisch strengste Selbstbe‐
schränkung auf das
allerengste Gebiet maleri‐
scher Ausdrucksmittel, das
Kennzeichen der
neueren Malerei.
.Gerade weil sie in der bisherigen Auffassung
der Kunst des Malens eine Menge von Kunst‐
mitteln in Anwendung sahen, die im
allerstreng‐
sten Sinne
nicht mehr den Wirkungsmitteln
zuzurechnen sind, über die nur der Maler
allein
verfügt, sehen sich ja die Neueren veranlaßt, nach
Wegen zu suchen, auf denen sie sich, im
engsten
Gebiet ihrer Kunst bleibend, dennoch aussprechen
können.
.Sie erstreben ja nichts Geringeres, als die
„
absolute Malerei” zu schaffen: ‒ ihr Bild soll
ein Gebilde sein, frei von jeder Tendenz der
Naturnachahmung, soll
nur durch sich selbst,
durch seine freien Farben und Formen, zu der
Seele des Betrachters sprechen.
.Man kann die Grenzen der Malerei schlecht‐
hin nicht
enger ziehen, denn die Kunstmittel,
mit denen es die Malerei unter
allen Künst‐
lern
allein zu tun hat, sind
verschieden ge‐
formte Farbflecken, die, wenn das Gebilde
überhaupt zur
Kunst zu zählen sein soll, in ge‐
wisse
rhythmische Verhältnisse zueinander
gebracht werden müssen.
.Daß man diese Farbflecken auch so gestalten
kann, daß durch ihre Anordnung auf der Netz‐
haut des beschauenden Auges ähnliche Eindrücke
hervorgerufen werden, wie wir sie vom Sehen
der Dinge in der Außenwelt her gewohnt sind,
ist eine Sache für sich, und gehört in das Gebiet
der
möglichen Anwendungsarten der primä‐
ren Kunstmittel des Malers.
.Schließlich kann man ja auch Farbflecken
ohne jede Gesetzmäßigkeit nebeneinandersetzen,
oder ihre Anordnung, wie bei gewissen Batik‐
stoffen, dem
Zufall überlassen und nur durch ge‐
schmackvolle
Auswahl der
Farbtöne nachhelfen.
.Den
allerstrengsten Vertretern gewisser
neueren Richtungen in der Malerei erscheint nun
jede Anwendungsart der primären Mittel des
Malers „unrein” und kunsthemmend, bei der das
Endresultat noch etwas
anderes aussagen will,
als was sich
allein durch die rhythmische Ver‐
teilung und gegenseitige Beziehung der Farb‐
flecken und ihrer Formen aussagen läßt.
.Die weniger strengen lassen wohl Reminiszen‐
zen an die Dinge der greifbaren Welt noch zu,
jedoch nur in einer
Umformung, die aus den
Gesetzen der primären Mittel und ihrer Aus‐
drucksfähigkeiten
an sich hergeleitet wird.
.Es liegt eine zwingende
Logik in diesen Rei‐
nigungsbestrebungen, mag man die Art, wie sie
der Einzelne auffaßt, erfreulich finden oder nicht,
und dieser Logik unterliegen die meisten der
jungen Maler unserer Tage, so daß sie sich scharen‐
weise den neuen Richtungen zuwenden.
.Diese Reformer sind es, die von ihrem
Standpunkt aus mit vollem Recht fast
aller seit‐
herigen Malerei „Grenzüberschreitung” vorwerfen
können!
.Demgegenüber bleibt nun aber die Frage
offen, ob wir uns nicht eines unschätzbaren Reich‐
tums in freiwilliger Askese begeben, wenn wir
auf allen
Sinnenreiz der Außenwelt
verzich‐
ten, und, uns nur in den engen
Grenzen der
ureigensten Mittel einer
Kunst bewegend,
nichts
als lediglich abstrakt formalen Ausdruck geben
wollen?
.Sollen wir uns denn wirklich nur auf ein
Gestikulieren und auf eine Kunst, die nur
das
aussprechen kann, was ihre
Mittel an sich schon
erschöpfen, beschränken, oder wird es nicht höher
führen, wenn wir unsere Mittel dazu erziehen,
uns in
allen ihren möglichen Anwendungsarten
zu
dienen, auch wenn strengstens dabei ver‐
mieden werden muß, sie zu vergewaltigen?
.Ist es dem Maler
möglich, seine
primären
Mittel: die verschieden geformten Farbflecken,
in rhythmische Beziehung zu setzen, was das
erste
Grunderfordernis des Kunstwerkes aus‐
macht, und kann er,
ohne diese rhythmische
Gestaltung zu
gefährden, darüber hinaus auch
andere Saiten in der Seele des Beschauers durch
subtilere Verwendung seiner Mittel zum Erklin‐
gen bringen, so ruft er zweifellos eine
Verstär‐
kung des Erlebens wach, ohne den zugewiesenen
Bereich seiner Kunstmittel verlassen zu müssen,
und ohne Anleihen in fremdem Gebiet.
.Die Mitwirkung dieser,
nicht mit den
pri‐
mären Mitteln seiner Kunst erreichbaren Vor‐
stellungen darf nur nicht auf Kosten der
Kunst‐
gestaltung, durch ein Umgehen ihrer Gesetze,
erschlichen werden, darf nicht etwa nur dazu
dienen, das mangelhafte Beherrschen der primä‐
ren Mittel zu verschleiern.
.Jedes wahre Kunstwerk entsteht in einem
seelischen Zentrum, in dem durchaus keine scharfe
Scheidung der einzelnen Kunstarten getroffen ist.
.Erst zur
Mitteilung bedarf der Künstler ge‐
sonderter Mittel in der Außenwelt.
.Der Ring aber schließt sich, indem das so
entstandene Werk vom
Genießenden wieder in
dem
gleichen seelischen Zentrum
empfunden
wird, aus dem es in der Seele des
Schaffenden
hervorging.
.So dürfte also der eigentliche bleibende
Wert,
den die neueren Bestrebungen auf dem Gebiete
der Malerei zu erlangen fähig sind,
nicht dort
liegen, wo ihn die Verfechter dieser Bestrebungen
suchen.
.Was diese Künstler, soweit es sich um be‐
rufene Schöpfer handelt, mit elementarer Gewalt
in neue Bahnen zwingt, ist nichts anderes als
jene Urgewalt der Seele, die sich uns, in dafür
eigens geschaffenen Gebilden, als
Kunst offen‐
baren will, aber die im Laufe der Jahrhunderte
erwachsenen Darstellungsformen durch allzu große
Überfeinerung
kraftlos geworden findet, und sie
nun zurückschneidet, wenn es sein muß, bis auf
den Stamm, damit neue,
kräftigere Äste,
vollere
Blüten und
reichere Früchte sich bilden können.
.Wir haben also von den neueren Richtungen
in der Malerei zwar keine
neue Kunst, wohl
aber reinere und stärkere
Ausdrucksmittel zu
erwarten, und weiterhin neue
Symbole, die man
zwar erst
deuten lernen muß, die aber weit über
den engen Bezirk der primären Mittel der Male‐
rei hinausführen werden, als
Bildzeichen der
Seele.
.Man rede uns daher nicht ein, daß ein vom
Gärtner zurückgeschnittener Obstbaum der In‐
begriff aller Schönheit sei, aber man werte diesen
Baum auch deshalb nicht etwa
gering, sondern
warte erst die
Entwicklung seiner neuen, stär‐
keren Triebe ab, warte, bis der Frühling
Blüten
bringt und der Sommer schließlich
reife Früchte
zeitigt!
.Wenn man die Anfänge bildnerischen Ge‐
staltens bei Naturvölkern und in den Malereien
der Urzeitmenschen betrachtet, lassen sich sehr
verschiedene Impulse feststellen, die solches
Schaffen bewirkten.
.Fraglos verdanken die bewegten Darstellun‐
gen der Tierwelt, die den Urzeitmenschen um‐
gab, wie auch die lebendigen Buschmann-Zeich‐
nungen, rein künstlerisch der Freude am
Wieder‐
gebenkönnen der Augeneindrücke ihr Da‐
sein, auch wenn es daneben ihr Nützlichkeits‐
zweck war, über die dargestellten Tiere einen
Jagdzauber auszusprechen, während die Malereien
an einem Fetisch-Tempel im Urwald als reinste
Ausdruckskunst anzusehen sind.
.Wie hoch sich auch die Kunstübung der
Kul‐
turvölker über die genannten
primitiven
Kunstleistungen erheben mag, so lassen sich
dennoch diese beiden Hauptimpulse künstleri‐
schen Schaffens immer wieder feststellen, bis
auf den heutigen Tag.
.Man hat die bildende Kunst gar oft auf ein
Schmuckbedürfnis zurückzuführen gesucht
und es scheint tatsächlich, als ob der Wunsch,
sich selbst oder einen Gegenstand, ein Bauwerk,
mit Schmuck zu versehen, vielfach der erste
Anlaß zu künstlerischer Betätigung gewesen
sei, aber wir gehen zweifellos fehl, wenn wir in
diesem Schmuckbedürfnis auch die
innere Ur‐
sache zu sehen vermeinen, die den Menschen
auf die Bahn des Gestaltens in Form und Farbe
führte. Zwar geht sicherlich das Schmuckbe‐
dürfnis mit den bereits genannten Impulsen
vielfach Hand in Hand, aber es ist nicht,
für
sich betrachtet, Ursache künstlerischer Ge‐
staltung, auch nicht in deren primitivster Form.
.Es Iäßt sich überdies die Frage aufwerfen,
ob der primitive Mensch jemals ein
reines
Schmuckbedürfnis
ohne symbolische Beiwerte
empfand?
.Ich glaube diese Frage verneinen zu dürfen
und möchte eher behaupten, daß
jeglicher
Schmuck des primitiven Menschen für ihn einen
symbolischen Wert besitzt. Sobald dann der
Kunsttrieb in Erscheinung tritt, um das Schmuck‐
bedürfnis auf eine höhere Stufe zu erheben, dient
er in irgend einer Weise zur Ausdeutung sym‐
bolischer Werte, wird er Ausdruckskunst: „
Ex‐
pressionismus”, ‒ oder aber, er benützt den
zu schmückenden Gegenstand lediglich als Folie,
als Unterlage, um seiner Darstellungsfreude zu
genügen: um als reiner „
Impressionismus” die
Wiedergabe des Augeneindrucks zu versuchen.
.Expressionismus tritt immer als eine Art
Geheimsprache auf.
.Wir können die seltsame Ornamentik ma‐
layischer oder afrikanischer Fetischtempel nie‐
mals recht verstehen, wenn wir nicht wissen,
welcher Gefühlswert sich für den Menschen
dieser primitiven Kulturkreise mit den einzelnen
Formen und Farben verbindet.
.Auch
unser Expressionismus, soweit er ech‐
tem Empfinden entstammt, strebt einer solchen
„Geheimsprache” zu, nur fehlt ihm die sichere
Tradition primitiver Völkerschaften, die einheit‐
liche Gebundenheit durch allgemein verbreitete
Glaubensform, so daß die
Gefahr besteht, eine
babylonische Kunstsprachen-
Verwirrung
statt einer
hieratischen Sprache zu erreichen.
.Im Gegensatz zum expressionistischen Kunst‐
Impuls liegt es dem Impuls zum
Impressio‐
nismus völlig fern, Unsagbares sagen, Urgefühle
aufregen und Geheimnisse der Seele deuten zu
wollen.
.Der Urzeitmensch, wie der afrikanische Busch‐
mann, ist bei seiner Wiedergabe bewegten Le‐
bens von keinem anderen Trieb beherrscht, wie
der
moderne Impressionist, den seine Freude
an der bewegten Erscheinung mit so viel voll‐
kommeneren Mitteln und unvergleichlich größe‐
rem
technischen Können zur Darstellung sei‐
nes Augeneindrucks führt, mag auch dem primi‐
tiven Menschen schon
jedes Darstellenkönnen
an sich wie die Ausübung einer magischen
Kunst erscheinen.
.Aus dieser kurzen Betrachtung ergibt sich,
daß wir im Grunde alle menschliche Kunstübung
auf
expressionistische und
impressioni‐
stische Impulse zurückführen können, ‒ beide
Worte freilich nicht in dem
engen Sinne ver‐
standen, der ihnen durch neuere und aller‐
neueste Künstlergruppen zuteil wurde, ‒ und
daß
beide Impulse im menschlichen Kunst‐
schaffen am Werk waren von Urzeittagen an.
.Es wird auch in Zukunft nicht anders sein,
und damit erübrigt sich der Streit,
welcher
der beiden Impulse der wertvollere sei, denn
beide entstammen der gleichen Urtiefe der
Menschenseele.
.Wohl mag Jahrhunderte lang der eine Im‐
puls im kunstbegabten Menschen stärker zur
Auswirkung kommen als der andere, wohl mö‐
gen gewisse Kulturströmungen dem
Impressio‐
nismus, andere wieder dem
Expressionis‐
mus günstig sein, doch niemals wird einer der
beiden Kunst-Impulse völlig verschwinden, und
dem aufmerksamen Beobachter zeigt sich das
Wirken
beider zu
allen Zeiten, auch wenn
es auf den ersten Blick scheinen möchte, als sei
nur der eine vorhanden gewesen.
.Eine verhängnisvolle
Verirrung aber ist es,
wenn nun moderne Künstler, in denen der
ex‐
pressionistische Impuls wieder stark nach Ge‐
staltung drängt, ihre Anregungen bei der Kunst‐
übung
primitiver Völkerschaften holen zu
müssen meinen, oder deren Werke gar als Eides‐
helfer heranziehen, um eigene abstruse Gebilde
zu rechtfertigen.
.Es gibt bekanntlich moderne Künstler, deren
höchstes Ausdrucks-Ideal in der
Negerplastik
oder in gewissen
Malereien der Südseeinsu‐
laner sich noch übertroffen fühlt.
.Wenn nun ein derartiger Künstler es glück‐
lich soweit gebracht hat, daß sein Werk, dem
äußeren Anschein nach, seinem Kunstideal an‐
nähernd entspricht, dann hat er nichts anderes
getan, als ein Geldfälscher, der eine Banknote
schlecht nachmacht. Er frage einmal einen
jener primitiven Menschen des Urwaldes und
der Koralleninseln, ob dieser sein Gebilde etwa
für
echt nimmt, ob er es
verstehen kann,
was doch der Fall sein müßte, wenn das, was
der moderne Europäer der Kunstsprache des
Primitiven willkürlich entlehnt hat, wirklich die
Elemente einer, dem
nicht durch moderne
Kunstüberfeinerung verdorbenen Menschen ei‐
genen Ausdruckssprache in sich enthielte.
.Dem primitiven Menschen ist seine Kunst‐
sprache etwas
genau Bestimmtes, und er würde
in dem Werk des Europäers nur Willkür sehen,
während ihm das schlechteste Kunstdruckbild‐
chen wenigstens
verständlich bleibt. Ich weiß
von einer Erfahrung dieser Art, die mir sehr zu
denken gab.
.Will der moderne Künstler, der von
expres‐
sionistischen Impulsen ausgeht, wirklich Wert‐
volles schaffen, dann darf er nicht die Balken‐
kontur malayischer Malereien oder die plump
dekorative Roheit afrikanischer Götzenbilder als
Vorbild seiner Kunstsprache wählen, sondern
muß sich eine Ausdrucksform schaffen, die
un‐
serer europäischen Kultur entspricht, wie
zu allen Zeiten die expressionistische Kunstbe‐
tätigung dem künstlerischen Status der Zeit ent‐
sprach.
.Archaistische Tendenzen zeigten noch immer
Zeiten des Niederganges an, besiegelten den
Ver‐
fall der Kunst.
.Man kann aber mit seinen archaisierenden
Stilübungen gewiß nicht gut weiter gehen, als
wenn man glaubt, hohe Kunstwerke zu schaffen,
indem man die primitiven Kunstäußerungen der
Urwald- und Höhlenmenschen im Stil zu imi‐
tieren versucht, wie das viele der als „Expres‐
sionisten” heute auftretenden Künstler tun, wäh‐
rend gleichzeitig allerdings auch zugleich expres‐
sionistische Werke entstehen, die erhoffen lassen,
daß ihre Urheber den Weg zur Kunst, wie sie
allezeit war und sein wird, wiederfinden werden.
.Die Verirrungen neuerer Künstler ins Archa‐
ische und Exotische sind nicht etwa, wie man
irrigerweise annehmen könnte, vom expressioni‐
stischen
Impuls, sondern nur von einem Miß‐
brauch ihrer eigenen ‒ von diesen Künstlern
selbst geschaffenen ‒ expressionistischen Dar‐
stellungs-
Methode ausgegangen!
.Es ist die
Überschätzung der expressionisti‐
schen
Methode durch die dem expressionisti‐
schen
Impuls ergebene Künstlerschaft, die den
verirrten Schaffenden in eine Art Selbsthypnose
zwingt, und ihn dann glauben läßt: das, was er
zum Ausdruck zu bringen habe,
könne nur in
der Weise primitivster Kunstausübung zur rech‐
ten Darstellung gebracht werden.
.Die
wirklichen „Primitiven” aber, die er
aus solcher Verwirrung seiner Einsicht heraus
nachahmt, würden nur
kindische Unbeholfen‐
heit in seinem Werke ausgedrückt finden.
.Als
Cimabues Madonnenbild im Triumph‐
zug aus seiner Werkstatt geholt und durch Florenz
getragen wurde, bevor es an seinen Bestimmungs‐
ort kam, konnte keinen Augenblick in dem Künst‐
ler ein Zweifel nisten, für
wen er eigentlich sein
Werk geschaffen habe.
.Wohl lag auch ihm an der Bewunderung, die
ihm seine
Berufsgenossen zollten, aber in
erster Linie wußte er, daß er sein Werk dem
Volke gab. Allen denen, die es sehen konnten,
wollte er Bewunderung entlocken.
.Die Maler späterer Tage sind weniger an‐
spruchsvoll geworden.
.Als
Böcklin einst ein Heft der damals neu‐
gegründeten Zeitschrift: „Kunst für Alle” sah,
ärgerte er sich an dem Titel, weil es eine Kunst
für alle nicht geben könne, und Cézanne sprach
es unverhohlen aus, daß Kunst nur immer eine
Angelegenheit sehr weniger Menschen sei.
.Böcklins Stellungnahme muß heute Verwun‐
derung erregen, denn
seine Kunst will uns
Heutigen so verständlich erscheinen, daß sie wirk‐
lich die Charakterisierung als eine Kunst „für
alle” vertragen könnte.
.Weniger verwunderlich ist uns die Auffassung
des französischen Malers, denn so hoch er auch
heute gefeiert werden mag, nachdem er sein
Leben in relativer Armut verbrachte, so sind es
verhältnismäßig doch nur sehr wenige, die seine
Kunst gebührend zu schätzen wissen. Gleich
ihm aber gibt es heute eine große Anzahl von
Künstlern, deren Werke nur von sehr wenigen
verstanden werden, weil ‒ sie eben
nur für
sehr wenige ihre Bilder und Statuen schaffen.
.Wie frei der Künstler auch an die Gestaltung
seines Werkes herantreten mag, immer steht ein
idealer Auftraggeber vor seinem Geiste, mag er
auch dessen irdische Personifikation nur in seiner
eigenen Persönlichkeit finden. Es ist natur‐
gemäß, daß er für
andere Augen schafft, auch
wenn nur
er selbst, als
Betrachtender, vor
seinem fertigen Werke diese „anderen Augen”
repräsentiert.
.Die Künstler
früherer Tage wollten ganz
bewußt, daß ihr Werk von
allen verstanden
würde, und sie fanden darum in sich die Auf‐
gabe gestellt, ihr inneres Müssen, den überintel‐
lektuellen Trieb zum künstlerischen Schaffen, in
Einklang zu bringen mit den Erfordernissen, die
das allgemeine
Verständnis heischte.
.Wer aber wollte behaupten, daß
Phidias der
Menge „unkünstlerische Konzessionen” gemacht
habe, oder daß
Giotto auf die von ihm er‐
kannten Kunstgesetze nicht geachtet hätte, nur
um der Masse zu gefallen, ‒ und doch sind die
Werke der alten Kunst durchweg selbst dem in
Kunstdingen Ungebildetsten
verständlich,
wenn sie auch das, was
ihre höchste Schön‐
heit ausmacht, erst einem reichentwickelten
Kunstgefühl offenbaren.
.Die Künstler
neuerer Zeit hingegen haben
sich immer mehr und mehr Sonderinteressen zu‐
gewandt: Darstellungsproblemen, die zwar im
Bereich der Werkstatt sehr „
interessant”
bleiben, die aber niemals das echte Interesse der
Allgemeinheit finden können, eben weil es
sich nur um
Experimente handelt, deren Wert
bestenfalls nur
in der eigenen Förderung
des Künstlers liegt. Ich stehe nicht an zu be‐
haupten, daß drei Viertel (wenn nicht mehr)
unserer ganzen heutigen Kunstproduktion aus
solchen Werkstatt-Experimenten besteht, denn
die Künstler haben das Interesse, das man diesen
Studienmitteln entgegenbrachte, derart zu ihrem
eigenen Schaden umgedeutet, daß sie zumeist
gar nicht mehr über das Experiment hinaus
wollen. Es genügt ihnen um den Schaffenstrieb
oberflächlich zu befriedigen, und sie verlangen
nun von ihren Zeitgenossen, daß sie mit dem
Gegebenen sich abfinden und darin die
höchste
Leistung der Künstler sehen sollen.
.Daß hier eine grenzenlose Verirrung vorliegt,
wird nur dem nicht klar, der bereits bis zum
Rausch von den Weihrauchwolken umnebelt ist,
die durch zahllose,
selbst in tiefer Hypnose
redende Wortführer dieser Experimentier-Me‐
thode, der neueren Kunst dargebracht werden.
.Die Sammelnamen für die neueren Kunst‐
bestrebungen besagen nichts Zwingendes, denn
jede „Richtung” teilt sich wieder in zahllose
Unter- und Seitenrichtungen, weil das
Experi‐
ment, auf dem alles ruht, bis ins Unendliche
variabel ist. In jedem Künstler kann es andere
Formen finden, und doch macht jeder im Grunde
das Gleiche, so daß für den Beschauer, der ein‐
mal über das erste Sensationsgefühl hinaus ge‐
langte, nichts Langweiligeres existiert, als die
Ausstellungen dieser allezeit Aller-Modernsten,
die jetzt in allen Kunstzentren haufenweise zu
sehen sind.
.In einzelnen solcher Arbeiten finden sich hie
und da noch Spuren einer fast gewaltsam be‐
haupteten Individualität Einzelner, aber bei den
meisten Werken könnte man ruhig die Namen
vertauschen, denn es handelt sich ja kaum mehr
um Schaffensprodukte bestimmter
Persönlich‐
keiten, sondern nur um Mitarbeit an den Be‐
strebungen eines Kollektivwillens zum bloßen
Experiment.
.Als
Durchgangs-
Phase könnte dieses Aus‐
toben in Experimenten den
Künstlern gewiß
von Nutzen sein, denn sie lernen dadurch die
unendlichen Möglichkeiten kennen, die ihnen
ihr Ausdrucksmaterial bietet, aber der Leid‐
tragende bei der heutigen Verhimmelung der‐
artigen Tuns wird der in die Hypnose mitgeris‐
sene
Kunstfreund, der
Käufer, bis er ent‐
weder selbst eines Tages zur Einsicht kommt,
daß er Werkstatt-Experimente teuer bezahlte, wo
er höchste Kunst zu erwerben vermeinte, oder
bis seine enttäuschten Erben einst die betrübliche
Entdeckung machen müssen, daß kein Mensch
mehr auch nur ein Zehntel der einst gezahlten
Summen für diese Kuriosa geben mag.
.Kunst ist und bleibt, trotz andersartiger Auf‐
fassung Einzelner, eine Sache der
seelischen
Gemeinsamkeit.
.Aus dem allgemeinen Fond an Kultur eines
Volkes, eines Landes, einer Stadt selbst, zieht
sie ihre Nahrung, und rückwirkend beeinflußt,
hebt und fördert sie wieder diese Kultur, oder
drückt sie hinab ins Banale und Gemeine.
.Im wünschenswerten
günstigen Falle be‐
deutet das Kunstschaffen einer Zeit eine
Wert‐
steigerung der aus der Gesamtkultur gezogenen
geistigen Kräfte, wie es zur Zeit der alten Grie‐
chen, zur Zeit der Renaissance in Italien war,
‒ im
ungünstigen Falle aber, und der liegt
im großen und ganzen
heute vor, bedeutet die
künstlerische Produktion geradezu eine Vernich‐
tung geistiger Werte.
.Wer daran zweifelt, der lese die exaltierten
Ergüsse moderner Kunst-Snobs, allwo sie vor
Negerplastik und vor Malereien, die tief unter
der Malerei der Urzeitmenschen stehen, einen
wahren Veitstanz der Begeisterung aufführen,
während sie deutlich zu verstehen geben, daß
die göttlichen Werte höchster Kunst ihrem per‐
versen Empfinden längst nicht mehr zugänglich
sind.
.Es gibt kein Mittel, gegen diese Verirrungen
anzukämpfen, als das eine, daß sich der Kunst‐
freund
wach erhält, sich ganz entschieden
wei‐
gert, der heutigen Kollektiv-Hypnose auf künst‐
lerischem Gebiet zu verfallen, trotz all der Flut
neuer Bücher und Zeitschriften, die ihn einen
„Banausen” schelten, wenn er nicht schleunigst
sich bekehre und zu den neuen Göttern bete.
.Wir
müssen wieder zu einer Kunst kommen,
die wirklich eine
Kunst für alle ist.
.Kunst muß wieder
Angelegenheit des
ganzen Volkes werden.
.Freilich nicht in dem Sinne, daß sie ihre
heiligen Gesetze verleugnet, um dem Unge‐
schmack der Menge zu gefallen, denn eine so‐
genannte „Kunst”
dieser Art, die sich ja leider
noch an allen Straßenecken breit macht, ist viel
verwerflicher als selbst die zum Ideal erhobene
Hottentottenkunst.
.Die Kunst, die wir brauchen, muß aus dem
Besten schöpfen, was in der Volksgemeinschaft
lebt, und dieses Beste dem Volke in geläuterter
künstlerischer Form darbieten, als Spiegel seiner
Seele.
.Experimente gehören in die
Werkstatt des
Künstlers, und wenn er sie schon zeigt, sollen
sie auch als
Experimente, und
nur als solche,
bezeichnet werden! Darüber hinaus aber brauchen
wir Werke, die wie in jeder großen Kunst- und
Kulturperiode
allen verständlich sind, wenn
auch immer nur die künstlerisch Gebildeten ihre
höchste Schönheit zu fassen vermögen.
.Was die marktschreierische Experimentier‐
kunst unserer Tage aber bei ihren Anhängern
finden will, ist nichts weniger als wirkliches
„Kunstverständnis”. Sie braucht nur halbzer‐
rüttete Nervenbündel, die sich widerstandslos
jeglicher Suggestion durch die brutalsten sinn‐
lichen Mittel unterwerfen.
.Ihre Anhänger gebärden sich, als ob sie allein
über das rechte Kunstverständnis verfügten, sie
schwatzen von der Befreiung des
Geistes, wäh‐
rend sie vor Idolen knien, die ebenso tief unter
den erhabenen Werken vom Geiste erfüllter
Kunstperioden stehen, wie der Fetisch eines Wil‐
den tief unter dem Kultbild steht, das einst im
Parthenon Verehrung fand.
.Das Wort „Dilettantismus” ist bei uns sehr
in Mißkredit gekommen. Man hört zum mindesten
lieber die Verdeutschung und spricht von „Lieb‐
haberkunst”. Aber „im Deutschen
lügt man, wenn
man höflich ist”, und unsere deutsche Sprache
ist immerhin kräftig genug, um ein paar Fremd‐
worte vertragen zu können, die schlechthin
Begriffe bergen, mit denen sich das deutsche
Wort
nicht deckt, wie das nun einmal bei
der Verdeutschung des Wortes „Dilettantismus”
der Fall ist.
.„
Liebhaberkunst” besagt
mehr als „Dilettan‐
tismus”, denn „Liebhaberkunst” kann wirkliche
Kunst sein, ‒ nur wird mit dem Worte gesagt,
daß ihr Schöpfer nicht zu den
Berufskünstlern
zählt, ‒ während es
völlig ausgeschlossen ist,
daß das Werk eines „Dilettanten” jemals den Rang
eines wirklichen
Kunstwerks beanspruchen darf.
.Ich habe mit Absicht diese Erörterung mit dem
Worte „Dilettantenkunst” überschrieben, nicht,
weil ich etwa hier von der „Kunst” reden will,
die in dem Erzeugnis eines „Dilettanten” stecken
könne, sondern: ‒ weil ich diesem bösen Wort
den Garaus machen möchte.
.So wenig nun aber auch durch dilettantische
Betätigung jemals „
Kunst” entstehen kann, so
sehr ist es Unrecht, allen „Dilettantismus” in
Bausch und Bogen geringschätzig anzusehen. Ver‐
werflich ist „Dilettantismus” lediglich dort, wo er
nicht hingehört, und man kann einem Berufs‐
künstler keinen schlimmeren Vorwurf machen,
als wenn man sagt, sein Werk sei „dilettantisch”.
.Man drückt damit aus, daß es als Kunstwerk
unzulänglich ist, daß es sich nur mit den glei‐
chen
Handwerksmitteln hervorgebracht er‐
weist, mit denen man auch ein wahres Werk der
Kunst hätte schaffen können, daß es aber besten‐
falls nur Geschmack und Fleiß verrät, keineswegs
jedoch die spezifisch
künstlerische Begabung.
.Das „dilettantische” Werk eines Berufskünst‐
lers wird jeder Kenner
ablehnen, wohl aber
wird er unter Umständen seine
Freude an dem
liebevollen Erzeugnis irgend eines „Dilettanten”
haben können.
.Das Erzeugnis des Dilettanten ist nur dann
schlecht, wenn es selbst unter der
mäßigen
Begabungsgrenze bleibt, die überhaupt erst zu
irgend einer dilettantischen Betätigung ein
Recht
gibt, oder aber, ‒ wenn es zeigt, daß sich der
Dilettant gern als „
Künstler” gewertet sehen
möchte, ‒ wodurch es
auch als Dilettantismus
unzulänglich wird.
.Es gibt ganz reizende Dilettantenarbeiten aus
der Zeit unsrer Groß- und Urgroßeltern, und diese
gezeichneten oder aquarellierten Blättchen bilden
heute das Entzücken eines jeden Sammlers, so
wie sie auch damals schon allenthalben Freude
bereitet haben, und sehr sorglich in Ehren ge‐
halten wurden.
.Eine ganze Reihe von illustrativ begabten
Künstlern unserer Tage hat den eigenartigen Reiz
solcher preziösen Blättchen zum Ausgangspunkt
für einen oft recht ansprechenden
Illustrations‐
Stil genommen. Wahrlich die beste Anerkennung,
die sich ein „Dilettant” nur wünschen kann!
.Ich bezweifle aber sehr, daß in hundert Jahren
kommende Illustratoren
irgend etwas unter den
Erzeugnissen
heutiger Dilettanten finden wer‐
den, das ihnen in irgend einer Hinsicht stilistische
Anregung geben könnte.
.In jenen alten, bedächtigeren Zeiten freute
man sich, wenn man etwas geschmackvoll Sinni‐
ges in zierlicher Art mit Bleistift aufzuzeichnen
wußte, und wenn es hoch kam, suchte man mit
zarten Wasserfarben eine gewisse „Stimmung”
zu erzielen. Aber es
gelang! Es wurde stets etwas
Rechtes draus, weil keiner dieser „Dilettanten”
sich heimlich für einen „Künstler” hielt, und
weil keiner etwas versuchte, was
über seine
Kräfte hinausging.
.Zum Teil lag das auch an der damaligen
Kunst.
.Man sah viel zu deutlich, daß man es mit einem
„Künstler” nicht aufnehmen könne.
.Als dann später das Handwerk des Malers ro‐
bustere Züge annahm, als schließlich die pastose
„Prima”-Malerei, das Malen Naß in Naß, und in
einer skizzenhaften, mehr andeutenden als durch‐
führenden Art, in der Künstlerwelt Einzug hielt,
da glaubte der Dilettant nicht mehr recht Grund
zu haben zu seiner früheren Bescheidenheit. Die
Sache schien ihm „gar nicht so schwer”, er sah
nur das Alleräußerlichste, und so versuchte er
nun frischweg und mit einer durch keinerlei
künstlerische Bedenken gedämpften Courage „in
Öl” draufloszumalen und verlor auf diese Weise
jeden festen Halt, verlor das Beste, ‒
den guten
Geschmack.
.Aber muß das so bleiben?
.Können wir nicht diesem Strom des Unrats
endlich
Einhalt tun und den Tätigkeitstrieb des
Dilettanten wieder in
gesunde, seiner Art gemäße
Bahnen lenken??
.Tun wir es
nicht, dann bildet die eben er‐
keimende neue Sonderkunst seelischer Ausdrucks‐
werte für den Dilettanten eine
neue Gefahr, die
nicht unterschätzt werden darf.
.Das rechte Material des Dilettanten, ‒ zumeist
dürfte ja die
weibliche Form des Wortes in
betracht kommen, ‒ wird stets nur aus „Formen
und Farben” bestehen können,
die er selbst
intensiv in seiner Umwelt erlebt.
.Alle
Reminiszenzen an vorhandene
Kunst
sind ihm
gefährlich!
.Die Weite der Landschaft an einem Aussichts‐
punkt, der Feldstrauß, den er sich von einem
Ausflug mitbringt, die Innenräume seines Hauses,
und vielleicht auch, soweit Porträtbegabung vor‐
liegt, die Züge der Menschen, die ihm nahe und
vertraut sind, ‒
das sind die Gebiete, auf denen
ein gesunder, berechtigter und
erfreulicher
Dilettantismus gedeihen kann.
.Will er sich dort, wo er selbst in der Dar‐
stellung nicht weiter weiß, einmal Rat und Hilfe
suchen, so bergen Museen und Sammlungen ge‐
nügend Material, an dem er lernen kann, wie
etwas darzustellen ist, ‒ aber nur, wenn er sich
an Meister der
allereinfachsten Darstellungs‐
arten halten will, wird er Ersprießliches nach
Hause bringen.
.Mit keinem Worte scharf genug zu brand‐
marken ist natürlich alles Malen oder Zeichnen
nach „Vorlagen”. Hier muß
zuallererst gebro‐
chen werden! Der Dilettant, der etwas auf sich
hält, muß wissen, daß ein simpler Halm, den er
empfindend wiederzugeben weiß,
hoch über der
farbenbuntesten „Vorlage” steht, die er in mühe‐
voller Arbeit nachzupinseln unternimmt.
.Das Wecken der
Empfindungsfähigkeit
des Auges ist der höchste Zweck, den er ver‐
folgen muß.
.Wer so an
Formen der Natur sein Auge
bildet, der wird auch für die Werte, die im
Kunst‐
werk ruhen, sich empfänglich machen, und seine
Ehrfurcht vor der Kunst wird ihm verbieten,
jemals noch von
Kunst zu reden, wo nur heiteres
Spiel in anmutfrohen Formen vorliegt, wenn das
Beste wurde, was der „Dilettant” zu geben hat.
.„
Raffael von Urbino, geboren am 26. März
(Karfreitag) 1483 zu Urbino, gestorben am 6.
April (Karfreitag) 1520 zu Rom.” So überschreibt
der berühmte Maler-Biograph der Renaissance,
Giorgio Vasari, in seinem „Leben der Maler”
die Lebensbeschreibung
Raffael Santis, und
er legt sichtlich Wert darauf, daß dieser, wie
eine Erscheinung aus einer Überwelt wirkende
Künstler-Genius, der nur ganze siebenunddreißig
Jahre auf dieser Erde lebte, geheimnisvollerweise
an einem
Karfreitag sein Erdendasein begann
und an einem
Karfreitag wieder von der Erde
genommen wurde.
.Für jene Zeit, in der die fortgeschrittensten
Geister die Mysterien der Astrologie zu ergrün‐
den suchten, konnte dieses seltsame Zusammen‐
treffen beider Tage kein „Zufall” sein, zumal
für ihre Anschauung alles, was am Karfreitag
geschah, von seiner geglaubten tiefen mystischen
Bedeutung im Hinblick auf das Geschick dieses,
unsres Planeten, erfüllt sein mußte.
.Die bezaubernde Wirkung der Erschei‐
nung
Raffael Santis aus Urbino auf seine
Zeitgenossen spiegelt sich in den Worten Vasa‐
ris, wenn er schreibt: „Gewiß kann man sagen:
wen so reiche Gaben schmücken, der sei nicht
nur schlechthin ein
Mensch, sondern wenn der
Ausdruck erlaubt ist, ein
sterblicher Gott zu
nennen”... „Niemals ging er zu Hofe (dem
Hofe der Päpste), ohne daß er, vom Ausgehen
aus seiner Wohnung an, ein Gefolge von fünfzig
Malern gehabt hätte, ‒ alles gute und tüchtige
Maler, ‒ die ihm das
Ehrengeleite gaben; er
lebte überhaupt nicht als
Maler, sondern als
Fürst.” Und Vasari wird nicht müde, die
hin‐
reißende Liebenswürdigkeit, wie den
Adel
dieser Seele zu betonen, die es jedem unmög‐
lich machten, in Raffaels Gegenwart auch nur
ein „ungeziemendes Wort” zu gebrauchen.
.Aber dieser bewunderungswürdige
Mensch,
dieser unvergleichliche
Künstler war zugleich
ein geborener
Organisator, der es vorzüglich
verstand, alle die reichen Kräfte seiner Zeit dem
Werke dienstbar zu machen, das er der Welt
hinterlassen sollte.
.Die prachtliebenden Päpste
Julius der Zweite
und
Leo der Zehnte schaffen, in Bewunderung
gebannt, die nötigen
Mittel und
Gelegenhei‐
ten zur Betätigung seiner großen Kunst, seine
zahlreichen
Schüler beugen sich willig seiner
Leitung, um den weit über die Kräfte eines
Einzelnen umfangreichen Plänen ihres jungen
Meisters sichtbare Gestaltung zu verleihen, und
bis nach Griechenland schickt er seine Zeichner
aus, die ihm das Studienmaterial, dessen er be‐
darf, zu verschaffen haben. Unablässig ist er
bemüht, zu
lernen und das Gelernte in seiner
Weise zu verwerten. Jede Quelle der Anregung
muß sich ihm erschließen.
.Man kannte zu jener Zeit in der Kunst noch
nicht das ängstliche Bestreben unserer Tage, das
jeden Künstler dazu zwingt, von allen, die
vor
ihm schufen und
neben ihm wirken, möglichst
weit
abzurücken, damit man nur ja seiner
Originalität gewahr werde. Man wollte nicht,
gleich den Heutigen, das Einmaleins der Kunst
stets wieder von neuem erfinden.
.Bewußt des eigenen Wertes, stand man fest
auf den Schultern seiner Vorgänger, und es
wurde einem Künstler zum höchsten
Ruhme
angerechnet, wenn er das Beste seiner Zeitge‐
nossen in sein Werk zu übernehmen verstand.
.Man kann nicht sagen, daß diese Art Gemein‐
samkeit in der Kunst ihr zum Schaden gereicht
hätte!
.Auch das Genie
Raffaels war nicht „vom
Himmel gefallen”, und sein Biograph zählt mit
Stolz die Namen aller derer auf, von denen er zu
lernen, denen er „nachzueifern” suchte, um sie
schließlich alle durch seine
eigene Anmut und
Vollkommenheit zu übertreffen.
.Nur so aber konnte auch jene
abgeklärte
Harmonie erstehen, die aus den Werken die‐
ses Künstlers strahlt, die sein eigenes Jahrhun‐
dert überstrahlte und die den Werken seines
Geistes jene göttergleiche
Heiterkeit verleiht
für alle Zeiten, jene Heiterkeit, die ein kleines
und allzu erdgebundenes Geschlecht als „Leere”
und „Mangel an seelischer Tiefe” auszulegen
suchte.
.Doch darf man nicht etwa glauben, der Künst‐
ler, der in einer solchen Welt der idealen Schön‐
heit geistig heimisch war, sei
erdenfern, der
Welt,
die ihn umgab,
entrückt gewesen! Er
stand mit beiden Füßen
fest auf dieser Erde
Boden! Seine eigenen Briefe beweisen aufs
deutlichste, wie sehr er, ‒ darin seinem an ge‐
waltiger Kraft überlegenen Zeitgenossen
Michel‐
agniolo Buonarotti nur allzu ähnlich, ‒ auch
den Wert des
Geldes zu schätzen wußte, und
wie wichtig ihm seine
glänzende Stellung,
seine äußeren
Ehren waren.
.Allerdings strömten ihm Gold und Ehrungen
in so reichlicher Fülle zu, daß es ein Wunder
gewesen wäre, hätte der Sohn eines armen klei‐
nen Malers aus der Provinz diese Anerkennung
seiner Begabung nicht mit hohem wertbewußtem
Stolz empfunden.
.Wenn man nun
heute der Kunst Raffaels
gerechten Sinnes gegenübertreten will, ‒ nicht
viele
wollen es! ‒ dann ist zuerst die üble
Wirkung jener grauenhaften Popularisierung zu
überwinden, die sein Werk im letzten Jahrhun‐
dert erfahren mußte. Vom Bierglasdeckel, der
die „Madonna della Sedia” profanierte bis hin‐
auf zu so manchem „raffaelesken” Kirchenbild
der alten Düsseldorfer Schule, war alles dazu
angetan, das Werk eines Unvergleichlichen zu
schänden, und das Auge für die
wahre Schön‐
heit seiner
originalen Bilder stumpf und un‐
empfänglich werden zu lassen.
.Es ging ihm hier mit seinen
Madonnen,
wie es manchem der romanischen Komponisten
mit
Opern-
Melodien ergeht: man kann sie in
jenen Ländern nicht mehr unbefangen hören,
weil sie in jeder Gasse eine andere Drehorgel
in stets wieder neuer Verzerrung dem Fremdling
in die Ohren kreischt.
.Für viele der heutigen Menschen hat auch
der
Zeitgeschmack ein reines und hingege‐
benes Genießen raffaelischer Werke fast unmög‐
lich gemacht.
.Rembrandt sagt ihnen
mehr, weil sie
selbst
dem Leben nicht als
souveräne Beherrscher,
sondern als
ringende Beherrschte gegenüber
stehen und darum die allerwege
mit dem Le‐
ben ringende Kunst
Rembrandts tiefer
be‐
greifen.
.Es wird einer
kommenden Zeit vorbehalten
bleiben, jene
überweltliche Region wieder
geistig zu erobern, aus der das Genie
Raffaels
seine unsterblichen Intuitionen empfing, jene
göttliche Klarheit wieder empfinden und lie‐
ben zu lernen, in der seine Gestalten ein Dasein
über aller Erdenschwere führen, jene formgewor‐
dene
Mathematik der Seele zu erfassen, die
in den Kompositionen dieses übermenschlich
klaren Geistes, dem zu ihrer Ergründung Be‐
fähigten, ihre tiefsten Geheimnisse enthüllt.
.Er strebte, wie die Antike,
absoluter Voll‐
kommenheit zu. Er gab die abgerundete
Ge‐
schlossenheit seiner innerlich geschauten Welt.
.Der Mensch der heutigen Zeit aber
haßt
beinahe das „Vollkommene”, weil es ihm „
un‐
wahr” erscheint, gegenüber der eigenen
bruch‐
stückhaft empfundenen Natur.
.Die Menschen der Renaissance waren gewiß
von Natur aus nicht anders als wir, aber ‒
sie
strebten
über diese ihre Naturgegebenheit hin‐
aus,
empor zu einer nur geahnten Höhe mensch‐
licher
Größe und
Kraft. Sie wollten
mehr
sein, als sie „von Natur aus” waren, und so
er‐
schufen sie sich selbst, wie wir sie staunend
und bewundernd in der
Kunst ihrer Zeit ge‐
wahren.
.Was die Natur ihm mitgegeben hatte, war
dem Menschen jener Zeit nur
rohes Material,
aus dem er
selbst sich erst zum
Kunstwerk
zu gestalten suchte.
.Wir aber sind genügsamer und auch ‒ be‐
quemer geworden. Wir sind schon froh, wenn
wir uns recht „natürlich” geben können, und
alle
Form ist uns stets mehr und mehr ent‐
schwunden. Jedoch die unterdrückte Fähigkeit
zu formen, was der Form bedarf, läßt sich nicht
dauernd binden.
.So mag es leicht möglich sein, daß unsere
späten Enkel eine
neue Renaissance erleben,
wie jene zu der Zeit der großen Päpste, und
daß dann die
Vollkommenheit, nach der das
Leben damals strebte, mit
neuer Kraft zum
Lebensideal erhoben wird. Dann wird aber ge‐
rade die Kunst
Raffaels den spätern Geschlech‐
tern wie ein hoher Meilenstein erscheinen, der
wie die Kunst der
Antike, den Weg in die
Unendlichkeit bezeichnet, aber
nicht den
Weg ins Chaos, ins „
Grenzenlose”, den heute
noch die meisten gehen.
.Kunst ist Manifestation einer Weltan‐
schauung.
.Wir Heutigen aber leiden alle mehr oder
weniger an einer Weltbilderklärung, die das
„
Grenzenlose” als
Axiom aufstellte und es
mit dem
Unendlichen verwechselte.
.Wir müssen erkennen lernen, daß
das Welt‐
bild der Renaissance, aus dem Raffael seinen
Formen-Kanon schuf, einem
Wellenberge der
Entwicklung menschlichen Denkens sein Dasein
dankte, während wir, von
der überragenden Ge‐
stalt
Goethes in ihrer erhabensten Selbstdarstel‐
lung abgesehen, die letzten Jahrhunderte hindurch
in einem
Wellental verharrten, so sehr wir auch
auf unseren „
Fortschritt” pochten.
.Doch, endlich werden auch
wir wieder auf
eine Wellen-
Höhe gelangen, denn
alle geistige
Entwicklung geht in stets belebten
Krümmun‐
gen voran, und
nicht in jener schnurgeraden‐
Linie, die sich die Apostel des „ewigen Fort‐
schritts” irrtümlich erträumten.
.Wer
Raffaels Kunst als Ausdruck einer
wahreren Erkenntnis, als es die
unserer Zeit
ist, betrachten mag, wer erkennt, daß sie der
wirklichen geistigen
Weltstruktur entspricht,
und wer dann von diesem
Ewigkeits-Standpunkt
aus ein
Originalwerk, wie etwa die von den
Kunst-Snobs so verächtlich gering geschätzte „
Six‐
tinische Madonna” auf sich wirken läßt, der
wird vielleicht mit einiger Ergriffenheit in sich er‐
fahren, daß diese Größe, der in Anmut und Ge‐
schlossenheit sich selbst begrenzenden Kraft einer
Kunst ‒
Urewiges enthält, das
leben bleiben
wird, wenn längst „
Titanenkraft”, wie wir sie
heute so bedenklich
höher schätzen, ‒ ‒ auf‐
gelöst in Götterdämmerung und Chaos-Nacht ver‐
sunken ist.
.Ihm wird vielleicht ein leises Ahnen eine Zeit
verkünden, die
nicht Madonnen malen wird und
dennoch wieder auf den Bahnen dieses abge‐
klärten,
harmonieerfüllten Überwelt-Be‐
reiches zu wandeln weiß, weil sie die Welt als
homogenes Ganzes faßt, wie sie in
anderer
Form das frühere Geschlecht erfaßte, dessen
schönste Blüte „
Raffael von Urbino” war.
ENDE