DAS
GEHEIMNIS
KOBERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL
(Anm.: Erstausgabe 1923)
Um den Forderungen des Urheberrechtes zu entsprechen, sei
hier vermerkt, daß ich im zeitbedingten Leben den Namen
Joseph Anton Schneiderfranken führe, wie ich in meinem ewigen
geistigen Sein urbedingt bin in den drei Silben:
BÔ YIN RÂ
Copyright by
Kobersche Verlagsbuchhandlung Basel 1952
Druck: Adolf Holzhausens Nfg., Wien
Allen Suchenden der Welt!
SÜDLICHER Sonne greifbares, lagerndes
Licht hatte die Augen der drei Wanderer
also der Helle trunken werden lassen, daß sie
zuerst wie geblendet standen und in dem
dunklen Gastraume der ländlichen Osteria
nichts als tiefe Finsternis gewahrten.
.Drinnen aber hatte man die Eintretenden
bereits als vornehme Reisende erkannt und
so kam es, daß etwas wie jäher Schreck sie
durchfuhr, als plötzlich aus der Tiefe des
Raumes die polternden Tonkaskaden des
landesbeliebten Drehorgelklaviers ihnen in
burleskem Pathos entgegenschallten.
.Zugleich auch löste sich aus der Düsternis
eine große massige Gestalt, die ihnen beide
Hände zum Gruße bot.
.Es war zwar zu bemerken, daß die Gestalt
so etwas wie Worte der Begrüßung sprach
und nicht wenig stolz zu sein schien auf den
lärmenden Empfang, den sie den Reisenden
bereiten ließ, allein hier ging jedes Wort der
klangreichen Sprache des Landes in einer
Sturmflut tollen Geklimpers und bumsender
Paukenschläge, prasselnder Trommelwirbel
unter.
.Durch Zeichen nur konnten die Gäste
ihrem fettbäuchigen Gegenüber, in dem sie
den aufmerksamen „Padrone”, den Gast‐
wirt, erkannten, allmählich begreiflich ma‐
chen, daß er den wilden Lärm doch endlich
beseitigen möge, und nachdem der Verste‐
hende schweren Schrittes wieder in der Fin‐
sternis verschwunden war, riß plötzlich das
Tongewirre mitten entzwei.
.In der überraschenden Stille hörte man
den Alten Befehle erteilen, auf die eine klare
Knabenstimme gehorsame Antwort gab.
.Alsbald gewahrten die nun mehr und
mehr an das Dunkel gewohnten Augen der
Reisenden denn auch den unschuldigen Ver‐
ursacher so grausamen Lärmens, wie er ‒
ein behender schwarzer Krauskopf der etwa
elf oder zwölf Jahre zählen mochte ‒ noch
ganz erhitzt von dem eifrigen Drehen des
Schwungrads seiner tumultuösen Maschine,
bestrebt war, die Krümel der Mahlzeit frü‐
herer Gäste von dem grünen Tuche wegzu‐
blasen, das den zunächst stehenden Tisch be‐
deckte.
.Nun erst konnte man auch dem in schwer‐
fälliger Grandezza dienernden Padrone seine
Wünsche nach einfacher, landesüblicher Er‐
quickung vermitteln, und es dauerte nicht
mehr lange, da saßen die drei Männer auf
den strohbeflochtenen primitiven Stühlen
um den grünen, mit unzählbaren Spuren ver‐
gossenen Weines und Olivenöles gesprenkel‐
ten Tisch, vor sich die schilfumhüllte lang‐
halsige Flasche, deren vorzüglicher Inhalt:
ein tintig dunkler Chianti, bereits die klei‐
nen Wassergläser füllte.
.Käse, Oliven und weißes Brot, jeweils al‐
les zusammen auf drei altersgrauen Stein‐
guttellern, bildeten das ersehnte Mahl.
.Der Padrone und sein kleiner Sohn waren
nach der Bereitstellung dieser Genüsse dis‐
kret in unbekannte seitliche Schlupfwinkel
verschwunden; man aß und trank und fand
sich zuletzt sehr angeregt, das beim Eintritt
in diesen Gastraum abgebrochene Gespräch
nun fortzusetzen.
.Süßlich aromatischer Duft orientalischer
Zigaretten erfüllte bereits das niedere Ge‐
wölbe und dünne Streifen bläulich-weißen
Rauches umzogen spielend den ragenden,
bastumschnürten Hals der Chiantiflasche.
.So war die Atmosphäre zu gewissen träu‐
merischen Betrachtungen recht geeignet.
.Man glaubte alsbald zu fühlen, daß sich
hier wohl besser über alle die mysteriösen
Dinge reden lassen wollte, über die man vor‐
dem nicht ins Reine gekommen war, als
draußen im allzu unbarmherzig klaren Son‐
nenlicht.
*
.„Ich bleibe bei meiner Behauptung”, be‐
gann der älteste der drei Männer, „und wenn
mir selbst auch jede diesbezügliche Erfah‐
rung fehlt, da ich nie dergleichen erlebte, so
zeugen mir doch namhafte Gelehrte fast aller
Kulturnationen genugsam dafür, daß an die‐
sen Erscheinungen, die uns moderne Men‐
schen wie Spukszenen aus alten Märchen an‐
muten, irgend etwas Wahres sein muß.
.Unmöglich können diese nüchternen Ex‐
perimentatoren, die oft sogar mit Hilfe fein‐
empfindlichster Instrumente ‒ ganz abge‐
sehen vom photographischen Apparat ‒
solche Phänomene prüften, allesamt einer
groben Täuschung erlegen sein!”
.Der Jüngste, ein Mann von etwa dreißig
und einigen Jahren, entgegnete mit leichter
Unruhe in der Stimme:
.„Gewiß sind Sie im Recht, und ich sagte
Ihnen ja schon vorhin, daß alle Zeugnisse
der Wissenschaft, so wichtig sie Ihnen auch
erscheinen mögen, für mich ganz überflüssig
sind, denn es begab sich einst in meinem Le‐
ben, daß ich alles das, wovon Sie uns vorher
auf Grund der von Ihnen eingesehenen Be‐
richte erzählten,
selbst zu erleben Gelegen‐
heit fand; ‒ ja, ich vermisse in Ihren Be‐
richten noch gar Vieles, das weit staunen‐
erregender sich anhören ließe und das ich
dennoch selbst erlebte!”
*
.„Wenn ich Sie nicht als einen Menschen
kennen würde, der mit beiden Beinen so fest
auf unserer geliebten lachenden Erde zu ste‐
hen weiß”, wandte der dritte nun ein, der,
von fester, gedrungener Statur, ganz wie ein
biederer italienischer Landpfarrer wirkte,
„so müßte ich wahrhaftig glauben, mein jun‐
ger Freund, Sie seien da die Beute recht ge‐
fährlicher Halluzinationen geworden!
.Ich begreife es, offen gestanden, nicht, daß
ein Mensch wie Sie, der doch gar nichts vom
tagfremden Träumer an sich hat, allen Ern‐
stes die spukhaften Phänomene, von denen
unser lieber alter Bibliothekar da so viel zu
erzählen weiß, für bare Münze nimmt und
nun gar noch selbst behauptet, dergleichen
sei ihm nicht unbekannt!
.Aus Ihnen wird man überhaupt nicht
recht klug!
.Bald geben Sie sich ganz wie ein Mensch
des zwanzigsten Jahrhunderts, den man auch
den realsten Problemen gegenüber vernünf‐
tig urteilen hört, und dann wieder könnte
man denken, man hätte irgend einen indi‐
schen Dschungelfakir vor sich, der nichts
von der Welt kennt, oder einen wieder‐
gekehrten Mönch aus einer mittelalterlichen
Klosterzelle ‒ obwohl Sie doch sonst wirk‐
lich mit der Weltflüchtigkeit solcher Men‐
schen nichts gemeinsam haben!” ‒
*
.Da der Weißbärtige, der sich mittlerweile
eine Virginia angezündet hatte, aus der er
dicke Rauchwolken sog, augenscheinlich
jetzt lieber zuhören als reden mochte, nahm
der Jüngere wieder das Wort und sprach:
.„Wohl kann ich es begreifen, daß man‐
ches an mir Ihnen widerspruchsvoll er‐
scheint, aber andererseits finde auch ich kei‐
nen Grund, weshalb ein Mann, der so das
Leben kennt wie Sie, gerade vor allem
Über‐
sinnlichen sich der Klarheit seines Blickes
selbst beraubt, nur weil es ihm nun einmal
als ausgemachte Tatsache gilt, daß es derlei
Dinge nicht geben könne!
.Warum versuchen Sie nicht selbst diesen
Dingen auf den Grund zu kommen, oder sich
wenigstens zu überzeugen, daß Andere ein‐
wandfreie Beweise erhielten?!
.Mir scheint solche voreingenommene Skep‐
sis wieder sehr schlecht zu
Ihrem sonstigen
Wesen zu passen, nachdem Sie mir doch oft
genug erklärten, daß nur
Erfahrung Ihnen
als ausreichender Grund für jede Erkenntnis
gelten könne! ‒”
*
.Und der Andere gab ihm die Antwort:
.„Ja, wenn es hier Erfahrungen zu machen
gäbe, die man jederzeit nachprüfen kann!
.So aber braucht man zu alledem, was Ihr
hier 'Erfahrung' nennt, die seltsamste Vor‐
bereitung und weiß hinterdrein immer noch
nicht, ob man nicht doch genarrt wurde!
.Außerdem aber ist mir dieser ganze Er‐
fahrungskomplex in tiefster Seele zuwider!
.Was kommt denn bestenfalls dabei her‐
aus?! ‒
.Angenommen, Sie selbst und die Gewährs‐
männer unseres verehrten Freundes seien
tatsächlich nicht getäuscht worden, so wer‐
den Sie mir doch zugeben, daß alle die be‐
richteten Phänomene außerordentlich al‐
bern und praktisch wertlos sind!
.Was soll mir zum Beispiel ein tanzender
Tisch, der gelegentlich auch nach dem Al‐
phabet ganze Predigten herunterklopft?
.Mir ist ein Tisch, der feststeht, wie dieser
hier, entschieden lieber, und es scheint mir
mehr der Natur eines Tisches zu entsprechen,
festzustehen, statt zu tanzen!
.Will ich aber eine fromme Predigt hören,
so gibt es dazu alle Sonntage bessere Ge‐
legenheit; und wenn der Prediger dann
nichts taugt, so weiß ich doch wenigstens, mit
wem ich es zu tun habe!
.Meinetwegen mag es Kräfte geben, die
ihrer selbst bewußt sind und sich herbei‐
lassen, auf Wunsch Tische tanzen zu lassen
oder salbadernde Offenbarungen zu klopfen,
‒ dann aber verbitte ich mir das Eindringen
dieser Herrschaften in meinen wohlgerunde‐
ten Lebenskreis, und wenn es ihnen jemals
einfallen sollte, ihn stören zu wollen, ohne
gerufen zu sein, dann bin ich überzeugt, daß
ich ihrer Herr werde!
.Besser mit Kindern 'Blindekuh' spielen,
als dieses Gelichter, falls es wirklich existiert,
auch noch selbst herbeizurufen!
.Und was ist's mit all den anderen Phäno‐
menen?
.Da sitzt, nach den Erzählungen, so irgend‐
ein armer Kerl, oder ein halbhysterisches
Frauenzimmer ‒ Eure sogenannten 'Me‐
dien' ‒ die halbe Nacht, in einem mehr oder
weniger seiner Sinne gerade noch mächtigen
Zustand, vor Stößen von Schreibpapier und
bewundert erstaunt, was seine Hand auto‐
matisch niederschreibt als Kunde aus der
'Geisterwelt', oder gar als angebliche 'gött‐
liche Offenbarung'. ‒
.Bei Licht besehen ist dann das ganze Ela‐
borat eine Beispielsammlung von Platti‐
tüden, oder, wenn es hoch kommt, ein Sam‐
melsurium aus allerlei frommen Traktätchen
und halbverdauten philosophischen Brocken.
.Ich muß sagen, daß mir keine Höllen‐
strafe, die sich die Alten ausgedacht haben,
so entsetzlich erscheinen kann wie die Vor‐
stellung, ein Mensch, der ein halbwegs an‐
ständiges Leben hinter sich hat und dann für
immer die Augen schließt, könne im Jenseits
auf diese Weise zur Freibeute irgendwelcher
Leute unter den Zurückbleibenden werden,
denen an der Erlangung solcher Botschaften
gelegen ist.
.Geradezu gotteslästerlich aber wird die
Sache, wenn derartiges Zeug, als göttliche
Offenbarung ausgegeben, die Gehirne be‐
nebelt!
.Zum Teufel, wo er hingehört, mit einem
'Gott', der nichts Besseres zu sagen hat und
diese Irrlichtereien braucht um sich mit‐
zuteilen!
.Was Euch aber offenbar am meisten impo‐
niert: diese physikalischen Kunststücke und
das Materialisieren menschlicher Formen, so
fällt das für mich am allerwenigsten ins Ge‐
wicht, denn hier kann ich als Physiker auch
noch mitreden, und wenn ich einmal anneh‐
men will, daß keine Beobachtungsfehler vor‐
liegen, daß Ihre 'Medien' auch nicht schwin‐
delten, dann stehe ich hier bestenfalls vor
Bekundungen eines noch unentdeckten Tei‐
les der physischen Welt, aber keineswegs
habe ich es mit dem 'Geisterreich' zu tun!
.Wenn ich es nicht verstehen kann, daß ein
vernünftiger Mensch mit gesunden Sinnen
dieses Pseudogeistertheater ernst nimmt, so
soll dies durchaus kein Leugnen der beob‐
achteten Erscheinungen sein.
.Ich verwahre mich nur gegen die Erklä‐
rung dieser Manifestationen, als seien es
Zeugnisse für die Existenz einer geistigen
Welt, und es ist mir unfaßbar, wenn ein
Mensch mit einiger Kritikfähigkeit hier nicht
merkt, woran er ist!
.Ich bin wirklich keinem religiösen Dogma
mehr verpflichtet, aber gegenüber der Be‐
griffsverwirrung, die dieses angeblich 'nach‐
weisbare' Jenseits Ihrer okkulten Phäno‐
mene anrichtet, erscheinen mir doch die
frommen Geschichten, die meine Kinderzeit
mit Poesie und himmlischem Glanz um‐
gaben, voll reinster Weisheit!
.Welcher Wust von Aberglaube wird da
heute für den kernhaften frommen Glauben
der Alten eingetauscht! ‒ ‒
.Wenn ich mich nicht mit den okkulten
Phänomenen beschäftige, mein junger
Freund, so geschieht es wahrhaftig nicht aus
Ignoranz, sondern weil mir das Zeug zu
dumm ist, weil ich Besseres zu tun habe,
als die Offenbarungen derartiger 'Geister'
zu erforschen!
.Ich trage in mir eine zu hohe Vorstellung
vom menschlichen Geiste, als daß ich ihn
eines solchen Verkommens für fähig halten
könnte, wie es nötig wäre, wenn diese Theo‐
rien stimmen würden, und wir hätten es bei
irgendwelchen okkulten Phänomenen mit
den Geistern ehemaliger Erdenbewohner zu
tun!
.Ich bin kein Theologe und weiß infolge‐
dessen auch nichts mit den Formeln anzu‐
fangen, mit Hilfe derer man die Gottheit
analysieren zu können glaubt wie ein che‐
misches Präparat, aber:
ich glaube '
Gott'
in mir zu fühlen, und darum erscheint es
mir wie die greulichste Blasphemie, wenn
man die Stimmen, die aus diesen ewigen
Nachtgefilden der Natur herüberraunen,
auch gar noch als 'Gottesoffenbarungen' wer‐
tet, die Bibel und anderer Völker heilige
Schriften zum 'Beweis' heranziehen will,
oder gar das religiöse Genie, sofern es sich
in großen Menschengestalten zeigte, mit 'Me‐
dien' und Somnambulen vergleichen möchte!
.Das alles ist mir zu
absurd, und da ich
keinerlei geistigen Gewinn für die Mensch‐
heit herausschauen sehe, auch wenn in allen
Häusern den okkulten Phänomenen nach‐
geforscht würde, ‒ dagegen unermeßlichen
Schaden dadurch verursacht wüßte, ‒ so
glaube ich, daß es besser wäre, man ließe die
Hände von diesen Dingen, zumal es ja noch
genug in der Natur zu erforschen gibt, und
unsere eigene Seele auch den Klügsten noch
ein Buch mit sieben Siegeln ist! ‒ ‒
.Vielleicht, liebe Freunde, werden Sie mich
jetzt besser verstehen!? ”
*
.Noch während der also Redende sich ver‐
nehmen ließ, konnte man auf dem Antlitz
des Jüngeren den immer mehr sich verstär‐
kenden Ausdruck überraschter Freude be‐
merken, während der Ältere öfters bedächtig
das Haupt zur Seite neigte und in allem er‐
kennen ließ, daß er während der ganzen Er‐
örterung nach
Gegengründen suchte, da‐
mit seine eigene Auffassung nicht aus dem
Felde geschlagen werde.
.Kaum war dann das letzte Wort verklun‐
gen, so begann er mit seiner Erwiderung:
.Diese Auffassung der Dinge lasse sich ja
begreifen, meinte er, obwohl sich vielleicht
doch auch noch allerlei Einwände machen
ließen, ‒ aber alles, was da zur Sprache ge‐
kommen sei, betreffe doch lediglich den so‐
genannten „Spiritismus”, während ‒ was
sein Freund offenbar nicht wisse ‒ der
eigentliche wissenschaftliche Okkultist allen
diesen Phänomenen nur als Beobachter
gegenüberstehe und sich, sofern er ernst zu
nehmen sei, vorläufig jeder Hypothese ent‐
schlage, die etwa von anderer Seite zur Er‐
klärung herangezogen werde.
.Es seien doch auch von verschiedenen,
sehr bedeutenden Gelehrten Erscheinungen
an Somnambulen beobachtet worden, bei de‐
nen selbst die geistergläubigsten „Spiri‐
tisten” keinesfalls an die Mitwirkung von
„Geistern” dächten.
.Und er setzte seinen Gedankengang fort
indem er sprach:
.„Meinetwegen sollen Sie, was die 'Geister'
verstorbener Menschen anlangt, oder die
'göttlichen Offenbarungen' die man so zu er‐
halten glaubt, völlig Recht behalten, aber ‒
sollte es nicht doch möglich, ja höchstwahr‐
scheinlich sein, daß der Okkultismus be‐
rufen ist, die Existenz der Seele schon im
diesseitigen Leben
mit Evidenz zu be‐
weisen?!
.Man hat doch zum Beispiel Somnambule
im Tiefschlaf ausgefragt und es zeigte sich,
daß man so zu immer verborgeneren Regio‐
nen des Innern vordringen konnte, wobei
dann eine andere, höherstehende Wesenheit,
und später eine
noch weit höherstehende
aus der Somnambule sprach, so daß man den
Eindruck erhält: je mehr das äußere Be‐
wußtsein verdunkelt wird, desto deutlicher
offenbart sich
etwas anderes, das im ge‐
wöhnlichen Tageserleben
nicht wahrnehm‐
bar ist.
.Damit aber wäre doch sozusagen der Be‐
weis für ein das Erdenleben überdauerndes
Geistiges voll erbracht!”
*
.Darauf beeilte sich nun der Jüngere zu
antworten und sprach:
.„Ich sehe mich in der seltsamen Lage, be‐
züglich der Dinge über die wir hier reden,
bei Ihnen
Beiden Unterstützung zu finden
und bemerke dennoch, daß ich mich Ihnen
Beiden deutlicher als es bisher geschah, er‐
klären muß, sollen wir nicht dauernd anein‐
ander vorbeireden!
.Zuerst möchte ich die eben erwähnten
Versuche mit Somnambulen des Näheren be‐
leuchten, und wenn ich dabei eine gewisse
Vertrautheit mit Dingen zeige, die den mei‐
sten Menschen unbeweisbar, unerleb‐
bar und unerklärbar dünken, so bitte ich
Sie, dies einstweilen hinzunehmen, bis eine
spätere Stunde mir erlaubt, Ihnen von der
Quelle meiner Erkenntnisse zu sprechen
und Ihnen Beiden dann einiges zu sagen,
was Ihnen durchaus unbekannt bleiben
müßte, fänden Sie nicht Gelegenheit, es von
einem zu hören, der es selbst erfahren hat. ‒
.Bezüglich der Somnambulen muß nun
auch ich mich als sachverständig bezeichnen
und muß mit allem Nachdruck einer Mei‐
nung entgegentreten, die hier an der Pforte
zum Geistesmysterium zu stehen glaubt!
.Es beweist nur, daß man noch nicht im
entferntesten ahnt, was der
Geist in
Wirklichkeit
ist, daß man noch über keiner‐
lei
wirkliche geistige Erfahrung verfügt,
wenn man glaubt, man könne in dem, was
aus einer im Tiefschlaf gebundenen Som‐
nambule spricht, dem wesenhaften
Geiste
begegnen! ‒ ‒
.Ich stimme in allem dem zu, was vorhin
über die Unzulänglichkeit okkulter Phäno‐
mene gesagt wurde und es war ein offensicht‐
licher Irrtum, wenn man von mir glaubte,
ich sei der Beschäftigung mit solchen Mani‐
festationen ‒ sei es aktiv, oder auch nur als
Beobachter ‒ meinerseits zugetan.
.Fü
r einen, der die geistige Schulung durch‐
laufen durfte, die mir vergönnt war,
haben
die Rätsel des Okkultismus allen Reiz
verloren! Der Nimbus des Verborgenen
und Unerklärlichen wurde ihnen im Ver‐
lauf dieser Schulung gründlich genom‐
men! ‒ ‒
.Wenn ich trotzdem einigen Wert darauf
lege, daß man die
Tatsächlichkeit der
Phänomene des Okkultismus erkenne, so ge‐
schieht dies deshalb, weil man ohne diese
Kenntnis Gefahr laufen kann, eines Tages in
verhängnisvollster Weise düpiert zu werden
und zwar gerade dort, wo man es am wenig‐
sten erwartet hatte. ‒
.Es ist mir sehr lieb, daß unser Gespräch
diese unerwartete Wendung nahm, dadurch,
daß vorhin Folgerungen eines nüchternen
Denkens ausgesprochen wurden, die sich fast
vollständig mit meinen geistigen Erfahrun‐
gen decken, ‒ jedenfalls aber sich ohne
Mühe mit den Ergebnissen meiner Erfah‐
rung vereinigen lassen.
.Jetzt kann ich sozusagen bei offenem Vi‐
sier zu Ihnen Beiden sprechen und werde
kaum zu befürchten brauchen, daß ich miß‐
verstanden werden könnte...
.Was also die Somnambulen betrifft,
durch deren Mund man Genaueres über Seele
und Geistigkeit des Menschen zu erfahren
hofft, so unterscheiden sich die mit ihnen an‐
gestellten Versuche in nichts Wesentlichem
von einer 'spiritistischen' Sitzung, es sei
denn, man betrachte die wissenschaftliche
Aufmachung dabei als wesentlich! ‒
.Es sind die
gleichen unsichtbaren
phy‐
sischen Wesenheiten und mit Bewußtsein
begabten Kräfte, die
hier wie
dort ihren
Unfug treiben, sobald der Erdenmensch die
Gelegenheit dazu schafft. ‒ ‒
.Die Somnambule im Tiefschlaf ist nicht
anders die zeitweise Beute dieser dunklen
Gewalten, die wahrlich 'jenseits von Gut und
Böse' handeln, wie das sogenannte 'Medium'
in seinem 'Trance'-Zustand! ‒ ‒ ‒
.Nie wird ein Blick in
wirkliche Geistes‐
welten getan: bei
verdunkeltem irdischem
Sinnenbewußtsein des also Schauenden! ‒
.Ekstase,
Verzückung, '
Trance' und
Somnambulismus sind nichts anderes als
Zustände
körperlichen Aufruhrs, und
je mehr bei solchem Aufruhr die Herrsch‐
gewalt auf körperliche Komplexe übergeht,
die ihrer Natur nach nur unter straffer
Bin‐
dung segensreich zu wirken fähig sind, desto
tiefer wird der somnambule Zustand, desto
dichter wird die Zwischenwand, die das
eigentliche Ich-Bewußtsein von den Ge‐
hirnfunktionen scheidet, bis schließlich
Lemurenwesen der unsichtbaren, aber kei‐
neswegs 'geistigen' Welt den herrenlosen
körperlichen Organismus ihrem Willen un‐
terwerfen!
.Man wird dann aus dem Munde der Som‐
nambulen wie des Trance-Redners jeweils
das vernehmen, was dazu angetan ist, dem
Experimentator interessant zu erscheinen,
oder der gläubigen Gemeinde, sei es durch
edles Pathos, sei es durch triviale, aber der
vorherrschenden Glaubensrichtung ange‐
paßte Phrasen, ja sei es selbst durch Unflätig‐
keit, zu imponieren. ‒ ‒
.Was aus dem armen umnachteten Men‐
schen in solchen Zuständen spricht, hat ja
kein anderes Bestreben, als sich selbst
möglichst eindrucksvoll bemerkbar zu ma‐
chen und weiß oft mit größter Schlauheit
die Maske zu wählen, die ihm das meiste
menschliche Interesse zu sichern vermag.
‒ ‒ ‒
.Auch der Ekstatiker erlebt den gleichen
Zustand wie die sogenannten 'Medien', nur
mit dem Unterschiede, daß bei ihm das Ich‐
Bewußtsein nicht allen Kontakt mit den
Gehirnfunktionen verliert und ihm nur die
äußere Leibesempfindung unwahr‐
nehmbar wird.
.Die 'geistigen' Welten, die er zu schauen
vermeint, sind nichts anderes als die Gebilde
seiner plastischen Phantasie, greifbar
und wirklich für ihn geworden durch die Vi‐
brationen krampfdurchtobter Nerven! ‒ ‒
.Es ist darum eine strenge Trennungs‐
linie einzuhalten, zwischen allen solchen
Methoden körperliche, abnorme Empfin‐
dungen zu erwecken, die dann als 'geisti‐
ges' Erlebnis gedeutet werden und dem
wirklichen Geisteserfahren, das stets nur
bei völlig ungetrübtem, ja bei gestei‐
gertem Körperbewußtsein erfolgt! ‒ ‒
.Der sogenannte 'Okkultismus' ist ja
wahrhaftig keine Entdeckung der neueren
Zeit!
.Bei allen Völkern und zu allen Zeiten hat
man okkulte Phänomene gekannt.
.Noch keiner aber hat dieses dunkle Gebiet
betreten, es sei denn unter herrschafts‐
sicherer Leitung, der dort nicht am Nar‐
renseil herumgeführt worden wäre! ‒ ‒
.Für das Erfahren des wesenhaften Gei‐
stes ist ein solcher dann meist dauernd ver‐
loren.
.Was ihn festhält, läßt ihn gutwillig
nicht mehr los, und muß es ihn fahren las‐
sen, da er allmählich völlig ausgesogen ward
und nun nicht mehr brauchbar ist, so wurde
ihm vorher längst alle Kraft genommen,
mit deren Hilfe er sich wieder erheben
könnte. ‒
.Wenn Sie Beide, liebe Freunde, bis jetzt
glaubten, ich huldigte dem 'Okkultismus',
der Erforschung all der Phänomene, die in
unserem Gespräch bisher genannt wurden
und mit denen sich zurzeit tatsächlich sehr
namhafte Gelehrte in verschiedenen Län‐
dern befassen, so waren Sie sehr im Irrtum!
.Ich mußte nur
auch dieses Gebiet der
menschlichen Lebensäußerungen vor Zeiten
kennen lernen, weil es mein Guru so von
mir verlangte.”
.„Was ist das: 'mein Guru'? ‒” unter‐
brach der Physiker den Sprechenden, dem
das ihm selbst so gewohnte Wort sichtlich un‐
achtsam entglitten war.
.„Ich gestehe”, antwortete der Jüngere,
„daß ich nicht im Sanskrit bewandert bin,
aber der, den ich 'Guru' nenne, erzählte mir
einst, daß in seiner Heimat die Lehrer gei‐
stiger Entfaltung und Erweckung so genannt
werden.
.Guru soll etwa geistiger 'Vater' oder 'vä‐
terlicher Lehrer' bedeuten.
.Mich selbst nannte er 'Chela',* und obwohl
dies ganz allgemein nichts anderes als 'Schü‐
‒ ‒
* Chela: sprich = Tschela
ler' heißen dürfte, erklärte er mir, daß diesen
Ehrentitel nur wenige empfingen, und daß
man
in einer ganz besonderen Weise
Schüler seines Guru sein müsse, um mit Fug
und Recht auch bereits als sein angenomme‐
ner 'Chela' zu gelten.
.Er selbst war ein Meister der 'Weißen
Loge'.”
*
.„Also Freimaurer?” warf der Alte ein.
.„Nicht doch”, entgegnete der Junge.
.„Die Freimaurerei ‒ wenn man nicht nur
am Wort klebt, sondern
die Sache selbst
meint ‒ könnte einigen Grund haben, sich
von der 'Weißen Loge' herzuleiten, aber die
geistige Gemeinschaft aus der mein Guru
stammte, hat
nichts mit der Freimaurerei
zu tun. Im übrigen ist 'Weiße Loge' nur eine
äußere Bezeichnung dieser Gemeinschaft
und ihre Glieder
selbst nennen sich '
Leuch‐
tende des Urlichts'. ‒
.Es kann keiner zu ihnen kommen, der
nicht
vor seiner Geburt dazu bestimmt war.
Aber die ihnen, ohne selbst zu ihnen zu ge‐
hören, in geistiger Weise am
nächsten ste‐
hen, bezeichnen sie als 'angenommene Che‐
las'.
.Es sind solche Menschen, die eine beson‐
ders intensive Schulung im Geistigen durch‐
zumachen haben, weil sie ein psychophysi‐
sches Erbe in sich tragen, das sie zu mancher‐
lei verpflichtet, wozu andere nicht verpflichtet
sind.
.Erlassen Sie mir, mehr darüber zu spre‐
chen, denn wie Sie ja bereits hörten, haben
Sie einen solchen Chela vor sich. ‒
.Ich denke, es dürfte sich so manches, was
Sie zeitweilig an mir befremdete, durch diese
Mitteilung nun erklären! ‒”
*
.Der vor den Freunden so seltsame und
unerhörte Eröffnungen zu geben hatte, hielt
nun inne in seiner Rede und es entstand vor‐
erst eine tiefe Stille, so daß der Padrone ‒
wohl in der Meinung, seine Gäste wollten
sich entfernen ‒ aus seinem Versteck wieder
auftauchte und als er seinen Irrtum sah, mit
überflüssiger Geschäftigkeit an den Fässern
zu hantieren begann, die im Hintergrunde
des Raumes auf einer Balkenunterlage ne‐
beneinander ruhten.
.Man konnte jetzt alles im Gewölbe aufs
deutlichste unterscheiden, denn die Augen
waren nun an das Dunkel gewöhnt und schon
die schmale Lichtritze, die der Vorhang an
der Türe ließ, schmerzte sie bereits, obwohl
die Sonne schon tief am Himmel stand und
sicherlich draußen längst lange Schatten
warf...
*
.„Da hört man ja merkwürdige Dinge!”
meinte der Untersetzte, den man für einen
halten konnte dem es nicht gar zu weit zu
den Fünfzig fehlt, und warf so mit seiner so‐
noren Baßstimme das erste Wort wieder in
die Stille.
.Sodann fuhr er fort:
.„Freilich wird mir jetzt manches an Ihnen
verständlicher, aber es wird doch noch eini‐
ger Aufklärung bedürfen, bevor sich mir das
alles rundet!
.Sie reden da mit unglaublicher Sicherheit
von vielem, das für mich bisher recht unzu‐
gänglich war, doch das Schönste ist: ‒ daß
Sie mich eigentlich überzeugen, ohne mir
Beweise angeboten zu haben!
.Ich fühle, daß es sich mit alledem so ver‐
halten muß, wie Sie sagen, mögen Sie nun
imstande sein, dafür Beweise zu erbringen
oder nicht.
.Ihre Worte tragen eine eigentümliche Be‐
weiskraft in sich selbst! ‒ ‒
.Jetzt fängt aber das alles auch erst an, für
mich interessant zu werden!
.So etwas gibts also heutzutage inmitten
unserer nivellierten Welt?! ‒
.Wissen Sie, junger Freund, davon müssen
Sie uns noch mehr erzählen!
.Ich glaube zwar nicht, daß einer von uns
dazu bestimmt ist, der 'Chela' eines solchen
'Guru' wie Sie Ihren Lehrer nennen, zu wer‐
den, und vielleicht sind wir auch beide schon
etwas zu alt dazu, aber bevor ich für meinen
Teil einmal von diesem, mir eigentlich im‐
mer recht liebenswert erschienenen Planeten
Abschied nehme, möchte ich ‒ falls solche
Dinge sich hier ereignen können ‒ doch
einigermaßen Bescheid darüber wissen, denn
alle Phänomene des Okkultismus zusammen‐
genommen interessieren mich nicht einen
Augenblick so sehr, wie diese verborgene
'
Weiße Loge', oder wie sich die Gemein‐
schaft nennen mag, und dann die Tatsache,
daß man da also einem ganz normalen
Europäer begegnen kann, der in aller Stille
Erkenntnismöglichkeiten zu besitzen scheint,
von denen die übrige Menschheit ‒ wenig‐
stens heutzutage und bei uns ‒ so gut wie
nichts ahnt. ‒”
*
.„Auch ich”, ließ sich der Weißbärtige
vernehmen, „bitte sehr darum, uns weitere
Aufklärungen zu geben, ‒ besonders weil
mir im Lichte der gehörten Darlegungen
einige Hinweise, denen ich in der diesbezüg‐
lichen Literatur gelegentlich begegnete, des
symbolischen Charakters entkleidet er‐
scheinen!
.Unser jüngerer Herr Kollege ist ja jetzt
durch die gemeinsamen Reise- und Er‐
holungstage, denen wir hier uns widmen
wollen, für einige Zeit mit uns zusammen,
so daß sich wohl Gelegenheit finden wird,
uns etwas tiefer in die Mysterien einzuwei‐
hen, denen er seine Erkenntnisse dankt!
.Im Augenblick scheint es mir dagegen ge‐
raten, ans Heimgehen zu denken, denn wenn
auch die Sonne jetzt nicht mehr brennend
auf uns lastet, so haben wir doch immerhin
anderthalb Stunden zurück bis zur Stadt. ‒
.Wir dürfen vielleicht unterwegs schon
einiges hören, das die uns bereits gewordenen
Mitteilungen ergänzen könnte? Ich habe da
ein paar ganz bestimmte Fragen auf dem
Herzen.”
*
.Da die beiden anderen Männer den Vor‐
schlag, alsbald nach der Stadt zurückzukeh‐
ren, gut fanden, bereinigte man seine Zeche
und verließ gemeinsam, unter den nicht
endenwollenden Bücklingen des Padrone
und seinen, mit dem Wunsche eines baldigen
Wiedersehens verknüpften Segenssprüchen,
die dunkle Osteria.
.Unwillkürlich atmete man auf, als die
schon etwas abgekühlte Abendluft die Stir‐
nen bestrich.
.Das ganze Gelände lag wie unter einem
opalfarbenen Duft; Pinien und Zypressen
prägten ihre Silhouetten kräftig in den blaß‐
goldenen Abendhimmel, und das nahe Meer,
wie das Innere einer ungeheuren Perl‐
muschel schimmernd, verschmolz in kaum
geahnter Horizontlinie mit fernen milchig
bläulichen Lüften.
.Zuerst schritten die Wanderer einer
Gruppe von Eukalyptusbäumen zu, dem
Kreuzungspunkt zweier Wege, deren einer als
Fahrweg durch Felder und kleine Ölhaine,
zwischen den nie fehlenden Weingirlanden
von Ulme zu Ulme, oder von Maulbeerbaum
zu Maulbeerbaum, nach der Stadt führte,
während der andere, den Fußgängern genuß‐
reichere und zudem kürzere, erst dem Meere
zustrebte, um dann dem Strande entlang,
bald steingepflastert noch von alten Zeiten
her, bald über Sand und Seetang, die ersten,
von Zypressen überragten Mauern der Parke
städtischer Villen zu erreichen.
.Wie auf Verabredung bog man nach rechts
in diesen Fußweg ein und mit steigendem
Wohlbehagen witterte jeder der Drei den
immer stärker wahrnehmbaren, herbfrischen
Meeresduft.
.Am Strande angelangt, hielten die Wan‐
derer unwillkürlich einen Augenblick an,
im stetig wieder neuen Erleben der Uner‐
meßlichkeit, vor der atlasglänzenden Was‐
serweite.
.Bisher waren nur vereinzelte Worte ge‐
fallen, deren Ursache das abendlich ver‐
änderte Bild der Umgebung war, oder die
der Schönheit der ganzen Gegend, der süd‐
lichen Herrlichkeit italischer Landschaft gal‐
ten.
.Als man aber dann den Weg am Strande
eingeschlagen hatte, erinnerte sich der Weiß‐
bärtige seiner Fragen zu den merkwürdigen
Eröffnungen des Jungen, die diese Nach‐
mittagsstunden in einer ländlichen Osteria
ihm fast wertvoller erscheinen lassen woll‐
ten, als ein neuaufgefundenes, längst ver‐
schollenes Buch aus alter Zeit, obwohl er
stets nach solchen Schätzen alle ihm nur er‐
reichbaren Bibliotheken durchsuchte, und
ganz im geheimen immer noch der Meinung
war, es könne gar keine von Menschen je‐
mals gefundene Erkenntnis geben, die nicht
in einem Buche aufgezeichnet wäre.
.Heute erst waren ihm dennoch leise Zwei‐
fel gekommen, aber sie vermochten seine
Meinung noch nicht zu erschüttern.
.Vielleicht war das Buch, das hier alles
klärte, nur bis jetzt noch nicht in seine Hände
gelangt...
VERZEIHEN Sie, verehrter Herr Kol‐
lege”, wandte sich nunmehr der Alte
an den Jüngsten, „aber über all diese Dinge,
von denen Sie uns da heute sprachen, muß
es doch gewiß auch so etwas wie eine Spezial‐
literatur geben, die mir nur, trotz emsigsten
Suchens, bis zur Stunde noch entgangen
ist?!”
.Und als er auf diese Frage einem sehr er‐
staunten Blick des Jungen begegnet war,
fuhr er fort:
.„Ich meine nicht gerade, daß es eine mo‐
derne Spezialliteratur sein müsse, aber si‐
cherlich war das alles doch auch schon ein‐
mal Menschen bekannt geworden die in frü‐
herer Zeit lebten und es muß doch da Bü‐
cher geben, die ausführlicher zu orientieren
vermögen?
.Ich würde mich noch auf meine alten Tage
an das Studium des Sanskrit heranmachen,
das ich leider über allem anderen früher ver‐
absäumt habe, wenn Sie mir, vielleicht durch
Andeutungen Ihres orientalischen Lehrers
darauf hingewiesen, hier bestimmte Anhalts‐
punkte geben könnten! ‒ Die Bücher selbst
würde ich mir dann schon zu verschaffen
wissen.
.Es ist doch noch alles was jemals den Men‐
schengeist beschäftigte, auch in
Büchern
niedergelegt worden, und bei allem Glauben,
den ich Ihren Ausführungen schenke, wäre
es für mich noch von ganz besonderem, ja
unschätzbarem Wert, wenn sich das, was Sie
uns sagten, durch unangreifbare alte Text‐
stellen belegen ließe und sozusagen autorita‐
tive Bestätigung fände!
.Man mag sagen, was man will, aber die Be‐
hauptung eines einzelnen hängt gewisser‐
maßen immer in der Luft, und erst wenn
man weiß, wie man sie quasi geschichtlich
einzuordnen hat, kann man sich ein gehöri‐
ges Urteil bilden! ‒”
*
.Das Erstaunen im Gesichtsausdruck des
Jüngeren hatte sich während solcher Rede
womöglich noch verstärkt, und ehe auch nur
der Zweite, dem ebenfalls eine Entgegnung
auf den Lippen zu liegen schien, zu Worte
kommen konnte, begann er mit einem nur
schlecht unterdrückten ironischen Lächeln:
.„Sie meinen also, wenn ich Sie recht ver‐
stehe, daß man in diesem Erdendasein nichts
erleben dürfe, was nicht durch die Stellung‐
nahme irgend eines früheren, zu erleben
er‐
laubt würde?!?”
.Und der Alte fiel ihm ins Wort:
.„Nein, mein junger Freund,
so dürfen Sie
das, was ich sagte, nicht gleich auffassen!
.Sie wissen aber doch selbst, daß in der
Welt jede wissenschaftliche Erkenntnis erst
dann so recht zur Geltung kommt, wenn sie
sich auf die Autorität bewährter Vorgänger
zu stützen vermag!”
*
.„Selbst in bezug auf das, was man 'Wissen‐
schaft' nennt”, erwiderte der Jüngere, „wer‐
den Sie diesen Satz, der ja einige Berechti‐
gung hat, nicht verallgemeinern dürfen!
.Bei dem, was ich Ihnen aber heute sagte,
handelt es sich keineswegs um eine 'Wissen‐
schaft', und ebensowenig um einen 'Glau‐
ben', sondern um etwas, das nun einmal
praktisch gegeben ist, und
praktische
Durchführung verlangt, will man zu Re‐
sultaten kommen! ‒ ‒
.Ich muß leider Ihre Frage nach einer älte‐
ren diesbezüglichen Spezialliteratur vernei‐
nen! Wohl würden Sie, auch ohne angenom‐
mener Chela eines wirklichen Guru zu sein,
auf sehr bemerkenswerte Bestätigungen in so
manchem alten Schriftwerk und besonders
auch in den heiligen Schriften der großen
Weltreligionen stoßen, wenn Sie sich an die
Lehren der 'Weißen Loge' halten und unter
ihre unsichtbare Leitung stellen wollten,
allein Sie würden vergeblich die Welt nach
einem Buche durchsuchen, das diese Lehre
in früherer Zeit im Zusammenhang auf ge‐
zeichnet hätte!
.Erst in
unseren Tagen fand man sich be‐
wogen, die hier berührte Lehre der Schrift
zu vertrauen für alle kommenden Zeiten, um
auf solche Weise zum ersten Male der Welt
den Einblick in das Wirken der 'Weißen
Loge' zu vermitteln, durch einen Europäer,
der selbst zu dieser Gemeinschaft ge‐
hört, und dem der ausdrückliche Auftrag
wurde, die Lehre in mannigfacher Form zu
verkünden. ‒
.Sobald Ihre Denkweise dazu genügend
vorbereitet ist, werden Sie diese Lehrschrif‐
ten erkennen und zu nützen wissen. ‒ Es
besteht hier wahrlich keine Gefahr der Ver‐
wechslung, besonders wenn Sie das alles
aufgenommen haben, was ich Ihnen in der
Zeit unseres Zusammenseins noch werde sa‐
gen dürfen! Von dieser Selbstbekundung
der 'Leuchtenden' abgesehen, werden Sie je‐
doch nur erschlichener und verzerrter
Kunde über die Meister der 'Weißen Loge'
begegnen, phantastischem Krimskrams und
den Zeugnissen abenteuerlicher Schwärme‐
rei! ‒ ‒
.Eben weil in solcher Weise ein total
kari‐
kiertes Bild dieser ehrwürdigen Geistesge‐
meinschaft gezeichnet wurde, das besonders
die Gehirne der
westlichen Welt verwirrt,
sie auf falsche Fährte leitet und wüstem
Aberglauben ausliefert, hielt es die 'Weiße
Loge' an der Zeit, diesem Unfug entgegen‐
zutreten, und da sie niemals etwas Schäd‐
liches
bekämpft, auch wenn sie es beim
rechten Namen zu nennen pflegt, so steuert
sie dem Wahn lediglich dadurch, daß sie
durch eines ihrer Glieder, das die nötigen
Voraussetzungen besitzt, die Wahrheit vor
aller Augen
darstellen läßt.”
*
.Nachdem der Jüngere geendet hatte und
der Weißbärtige sich offenbar zu keiner Ge‐
genrede bereiten wollte, nahm der Andere
das Wort, der gleich dem Alten bisher mit
größter Aufmerksamkeit zugehört hatte, und
er begann:
.„Demnach gibt es auch in
Europa Ange‐
hörige Ihrer 'Weißen Loge' und es wäre doch
das Einfachste, einen aufzusuchen und sich
von ihm belehren zu lassen?!”
.„Abgesehen davon” erwiderte der Jün‐
gere, „daß Ihnen
kein Angehöriger der 'Wei‐
ßen Loge'
mehr sagen würde, als was Sie
nach seiner Beurteilung zur Zeit
vertragen,
‒ abgesehen auch davon, daß Sie durchaus
nicht erst einen Meister der 'Weißen Loge'
kennen müssen, um sich unter ihren Einfluß
stellen zu können, ja, daß eine solche äußere
Bekanntschaft für den, der noch nicht selbst
gefestigt genug ist, eher ein Hindernis als
eine Förderung bedeuten könnte, ‒ habe
ich auch nur von
einem einzigen Europäer
gesprochen, der ihr zugehört!
.Außer ihm, der ein Mensch ist wie wir
und es beinahe ängstlich vermeidet, in sei‐
nem alltäglichen Leben sich irgendwie an‐
ders zu gehaben als andere Menschen seines
Standes und Lebenskreises, werden Sie zur‐
zeit
keinem anderen Gliede der 'Weißen
Loge' außerhalb
Asiens, oder allenfalls
Nordafrikas und
Arabiens, begegnen
können.”
.„Sie wollen doch damit nicht sagen”, er‐
widerte der Weißbärtige, „daß der Mann
etwa in einer Stadt Europas, mitten in der
Welt lebt, sich ihren Konvenienzpflichten
unterwirft, unseren Lebensgewohnheiten
huldigt, die Genußmittel des Lebens liebt,
die uns anderen sozusagen fehlen würden,
wenn wir sie entbehren müßten, kurzum:
daß er sich in seiner Lebensführung in nichts
von einem unserer Art unterscheidet?! ‒”
.„
Eben das wollte ich mit meinen
Worten betonen”, antwortete der Jüngere,
„aber aus Ihrer Zwischenfrage höre ich, daß
auch Sie sich diese Meister der 'Weißen Loge'
nur als Halbgötter vorstellen können und
wohl sehr erstaunt wären,
einem davon, der
irgendwo in
Asien lebt, zu begegnen, wie
er gleich einem biblischen Patriarchen in‐
mitten seiner vierzehn Kinder und vieler
Enkel, noch rüstig und frisch, seinem kunst‐
vollen Gewerbe obliegt, in hohem Wohl‐
stand, den er sich durch seine Kunstfertig‐
keit und durch das Geschick, mit dem er
seine Erzeugnisse zu verwerten wußte, er‐
warb. ‒ ‒
.Ebenso, wie ich Ihnen heute schon sagte,
daß
wirkliche Geisteserfahrung das äußere
Sinnenbewußtsein eher
schärft, als ver‐
dunkelt, so muß ich Ihnen jetzt auch sagen,
daß ein Mensch der höchsten, auf Erden nur
unter gewissen Bedingungen überhaupt
möglichen, geistigen Erkenntnis, durch‐
aus nicht etwa für das äußere Leben un‐
brauchbar wird, sondern die ihm von Natur
her für dieses Leben gewordenen Gaben, erst
recht in der intensivsten Art zu nützen weiß!
.Es müßte auch eine klägliche 'Geistigkeit'
sein, die von dem Menschen, dem sie zuteil
wird, verlangen würde, daß er auf die ethisch
nicht ausdrücklich verwerflichen Annehm‐
lichkeiten des Erdenlebens verzichte, nur um
dieser Geistigkeit keine Gefahr zu berei‐
ten! ‒
.Alles, was durch solche
Hingaben und
Opfer irdischer Annehmlichkeiten erhan‐
delt werden kann, hat mit dem wirklichen
Geiste nicht das Allermindeste zu tun!
.Es ist geradezu ein Kennzeichen
derer,
die im Geiste erweckt und le‐
bendig wurden,
daß sie sich durch
keinerlei Absonderlichkeiten im Auf‐
treten und in der Lebensweise von
ihren Zeit-
und Landesgenossen un‐
terscheiden,
daß sie leben wie jeder
andere ehrbare Mensch,
und allen
Weltverbesserungsideen ferne blei‐
ben,
wohl wissend,
daß es keine Le‐
bensform des Menschen auf der Erde
gibt,
die seine geistige Erweckung
hindern könnte,
daß sie aber wohl
gehindert werden kann,
durch die
allzu große Sorge um die Formen ir‐
dischen Gemeinschaftslebens,
auch
wenn diese Sorge edelsten Motiven
entspringt! ‒”
*
.„Das alles”, warf nun der Physiker ein,
„klingt ganz so, wie ich es erwartet hätte,
wäre mir vordem etwas von dem Dasein sol‐
cher leibhafter Geistesmenschen bekannt ge‐
worden!
.Wenn mich irgend etwas an den Konven‐
tikeln heutiger Zeit, die da vorgeben, ihre
Anhänger zum Geiste zu führen, abstieß, ja
anwiderte, so war es die namenlose Furcht
dieser Leutchen vor jeder kraftvollen Äuße‐
rung der Lebensbejahung!
.Ich weiß nun einmal mit einem 'Geist'
nichts anzufangen, der seine Anhänger zu
ängstlichen Furchthasen macht, die sich
kaum getrauen einen Bissen zum Munde zu
führen, ohne die Sorge, er könne ihrer Ent‐
wicklung schaden, und die in allem mensch‐
lichen Tun versteckte Teufelsfallen vermu‐
ten!
.Dagegen muß ich sagen, daß ich mich mit
Ihrer 'Weißen Loge' allmählich befreunde!
.Es ist mir nichts so Unerhörtes, daß Men‐
schen untereinander durch eine Art Äther‐
schwingungen oder Ähnliches in bewußter
Verbindung stehen könnten, und wenn ich
auch selbst das noch nicht als Mitbeteiligter
erlebte, so bin ich doch nicht borniert genug,
die Möglichkeit einfach in Abrede zu stellen,
zumal sie mir von einem Menschen bestätigt
wird, von dem ich, wie von Ihnen, junger
Freund, recht gut weiß, daß er kein Fasel‐
hans ist und genügend Selbstkritik besitzt,
um sich nicht irgendeinen Hokuspokus vor‐
machen zu lassen!
.Nehme ich aber die Möglichkeit solcher
geistiger Verbindung mit Hilfe irgendeiner
hypothetischen Schwingungsunterlage an ‒
ich muß hier unwillkürlich an die Hertz‐
schen Wellen denken ‒ dann kann mir ein
derartiger Anschluß an eine Art geistes‐
menschlicher Zentrale auf Erden ebenfalls
einleuchten, und, falls er herzustellen ist,
nur höchst erwünscht sein, wenn er ähn‐
liche Erkenntniserweiterungen bewirkt, wie
ich sie heute an Ihnen wahrnehme. ‒
.Vielleicht darf ich Sie jetzt einmal rund‐
heraus fragen, wie Sie selbst diesen An‐
schluß gefunden haben, und ob ihn unser‐
einer auf gleiche Weise finden kann, einerlei
ob man zum 'Chela', wie Sie, qualifiziert ist,
oder nicht?!
.Sie sagten doch, dem Sinne nach, wenn ich
nicht irre, daß sozusagen jeder anständige
Mensch in den Stromkreis dieser geistes‐
menschlichen Meister, oder wie man sie nen‐
nen mag, gelangen könne?!?
.Damit wird die Sache praktisch bedeu‐
tungsvoll, und zum wenigsten wäre es mir
erwünscht, die Bedingungen zu kennen,
unter denen sich so etwas bewerkstelligen
läßt.”
.„Die gleiche Bitte möchte auch ich aus‐
sprechen”, ergänzte der Weißbärtige, den
man so wie er jetzt in der Dämmerung gegen
den bereits kupferglänzenden Himmel stand,
leicht selbst für einen alten Orientalen hätte
halten können, obwohl seine Vorfahren in
der Bretagne zu suchen waren.
*
.„Gerne, meine verehrten Freunde, will
ich Ihrem Wunsche entsprechen”, meinte der
Jüngste der Drei, „aber ich glaube kaum,
daß ich Ihnen da heute abend noch Wesent‐
liches sagen könnte, denn wenn ich Sie wirk‐
lich mit alledem vertraut machen will, was
Sie zur Unterlage für Ihre eigene Urteilsbil‐
dung schließlich wissen müßten, werden wir
noch manche Stunde diesem Thema zu wid‐
men haben, und vielleicht wird es auch gut
sein, wenn ich frühere Tagebuchaufzeich‐
nungen zuhilfe nehme, die mir so wertvoll
‒ fast möchte ich sagen: so heilig ‒ sind,
daß sie mich stets auf allen meinen Reisen
begleiten.
.Ich freue mich von ganzem Herzen, daß
Ihr Interesse an diesen Dingen erwacht ist
und daß ich nun auch in dieser Beziehung
ganz offen zu Ihnen reden darf, denn es war
mir immer ein peinliches Gefühl, daß ich
bei aller Herzlichkeit unserer Beziehungen,
die ja auch der Ausführung dieser gemein‐
samen Reise zugrunde liegen, stets etwas vor
Ihnen zu verbergen hatte. ‒
.Sie werden aber wohl begreifen, daß man
über solche Dinge nicht
mehr spricht, als
unbedingt nötig ist, solange man noch an‐
nehmen muß, jede derartige Äußerung
könne in den anderen die Befürchtung aus‐
lösen, man sei geistig nicht mehr ganz zu‐
rechnungsfähig! ‒”
*
.Nach diesen letzten Worten einigte man
sich, daß man nun möglichst jeden Tag
einige stille Stunden bestimmen wolle, um
in südlicher Sonnenklarheit im Freien ver‐
eint, allem zu lauschen, was der 'Chela' über
die ihm gewordenen Aufschlüsse zu sagen
haben mochte.
.Man war im Verlauf solchen Gespräches
bereits zwischen hohen Parkmauern ange‐
langt, die sich zu beiden Seiten des Weges
hinzogen, zuweilen unterbrochen durch ein
höheres Portal in geschwungenen Linien,
umrahmend ein kunstvoll geschmiedetes,
längst verrostetes Eisengitter, durch das hin‐
durch der Blick die filigranartigen Silhouet‐
ten schlanker Oleanderzweige, dunkeltiefe
Laubmassen des Lorbeers, und zuweilen auch
eine noch immer in die Abendstille plät‐
schernde Fontäne gewahrte.
.Dann kam eine enge, schier endlose Gasse,
wie zusammengedrückt durch die hohen ka‐
stellartigen Häusermassen, so daß man durch
die enge Schachtzeile oben nur noch einen
von Dachvorsprüngen zerhackt eingefaßten
Streifen Himmel gewahrte, an dem da und
dort die ersten Sterne aufblinkten.
.Die Stille, durch die man bisher geschrit‐
ten war, wurde mehr und mehr von lauten
Rufen, Karrengeknarre und Fragmenten
fröhlicher Rede aus erleuchteten Gewölben
durchlöchert; in Falsettönen trällerte irgend‐
ein mit seinem Tagewerk zufriedener Sohn
des Südens die gerade beliebte Melodie; im‐
mer mehr Passanten zwängten sich durch die
Enge, bis man sich fast unvermittelt auf dem
volkbelebten gravitätisch vornehmen Markt‐
platz einer kleinen, aber einwohnerreichen
südlichen Stadt befand.
.Die überreichlichen Schätze der Obst‐
händler quollen dann förmlich aus dem In‐
nern der Verkaufshallen hervor, man sah
hellerleuchtete Barbierläden mit blitzenden
Spiegeln fast tapeziert, daneben Auslagen
mit bunten Seidenbändern, andere mit ap‐
petitlich aufgeschichteten Wurstwaren, vie‐
lerlei Käse und ganzen Arsenalen von lang‐
halsigen Chiantiflaschen; dann gab es eine
„Farmacia”, allwo der Eingang von zwei
übermäßig hohen, schmalen Schaufenstern
flankiert wurde, aus deren jedem ein riesiger
Glasballon, der eine mit roter, der andere
mit grüngefärbter Flüssigkeit gefüllt, her‐
vorglühte, und schließlich fehlte auch das
unvermeidliche „Kino” nicht, dessen grelle
Plakate mit unglaublicher Lichtverschwen‐
dung beleuchtet, ein feines Renaissancepor‐
tal gröblich verunzierten.
.Da und dort gewahrte man zwischen all
diesen Herrlichkeiten ein Kaffeehaus, dessen
Tische und Stühle weit, bis fast zur Mitte des
Platzes, herausdrängten, und den Mittel‐
punkt bildete eine Art Obelisk, der aus wo‐
genden Barockmassen inmitten rauschender
Wasserkünste emporstrebte und auf seiner
Spitze, wie man gerade noch erkennen
konnte, eine auf dem Halbmond stehende,
in metallenem Strahlenkranz gefaßte Ma‐
donna trug.
.Nur die eine Schmalseite der „Piazza”
blieb im Dunkel und hier erhob sich ein
mächtiges Bauwerk mit flachgegiebeltem Ab‐
schluß, aus dessen Türöffnung ein rotes Glü‐
hen und Kerzenschein drangen, nur dann
und wann durch die dunklen Gestalten Ein‐
und Ausgehender verdeckt.
.Daneben strebte in den klaren, nun schon
reichgestirnten Himmel ein schlanker Cam‐
panile, dessen Glocken in den freien hohen
Rundbogen seines obersten Geschosses sich
auch jetzt noch deutlich vor der schwinden‐
den Abendhelle erkennen ließen.
.Hier trennten sich zwei der Freunde von
dem dritten, da sie nicht alle in der gleichen
Herberge wohnten und man an diesem Abend
auch nicht gesonnen war, der angenehmen
Ermüdung sich zu widersetzen, um etwa noch
länger zusammen zu sein.
WIE am Vortag bereits verabredet wor‐
den war, verließen die drei Freunde
in der Morgenhelle die Stadt, um ein nicht
allzuweit gelegenes Kloster aufzusuchen, das
aus der hügeligen Umgebung wie ein Wahr‐
zeichen aufragte, hoch auf einen isolierten
Felskegel getürmt, so daß es fast eher einem
trutzigen Kastell, als einer Stätte des Gebets
und des Friedens glich.
.Dort oben sollte man eine wundervolle
Aussicht genießen über die ganze, mit male‐
risch hingelagerten Dörfern und Flecken be‐
säte Hügelkette und über das weithin durch
eine ausgedehnte Bucht umsäumte Meer.
.Der Aufstieg aber, ein alter, mit den Statio‐
nen der Leidensgeschichte des Erlösers fromm
geheiligter Wallfahrtsweg, wurde als ziem‐
lich beschwerlich und meist schattenlos ge‐
schildert, so daß man darauf bedacht war,
das Kloster, woselbst man auch leibliche
Erquickung finden konnte, möglichst noch
vor dem Höchststande der Sonne zu errei‐
chen.
.Sodann wollte man während der heißesten
Tagesstunden dort oben im Freien ruhen
und womöglich das gestern so verheißungs‐
voll begonnene Gespräch fortsetzen, um
dann erst am späten Nachmittag wieder zur
Stadt zurückzukehren.
.Mit einigem Mundvorrat ‒ soweit er sich
in den Taschen unterbringen ließ ‒ hatte
man sich zur Not versehen, wobei man auch
die saftreichen Früchte des Landes nicht un‐
beachtet ließ.
.So wanderten die drei Männer ‒ der
jüngste in der Mitte ‒ frisch ausschreitend,
zuerst über eine fast schnurgerade, staubige
Landstraße dahin, auf der sich trotz der frü‐
hen Stunde die Sonnenwärme schon recht
fühlbar machte.
.Der Weizen nebenan auf den Feldern
stand schon hoch in grünen Ähren und jeder
schmale Landstreifen wurde gleichsam ein‐
gefaßt von hängenden Weinreben, die sich
an niederen Ulmen und gelegentlich auch an
Maulbeerbäumen hochrankten, so daß es oft
den Anschein gewann, als sei der ganze Baum
ein Weinstock, da sein eigenes Laub fast völ‐
lig unter den Blättern der Rebe verschwand.
.Dazwischen gab es auch Artischockenfelder
und Äcker mit anderen Gemüsearten, dann
wieder wildes Buschwerk an schmalen Was‐
sergräben, hoch überragt von jungen, schlan‐
ken Pappeln, deren Laubwerk man längs des
Stammes entfernt hatte, so daß ihre Kronen
wie Büschel auf hohen Stielen in den silber‐
weißen, seidenglänzenden Himmel standen.
.Rechts, nach der Seite des Meeres zu,
dehnte sich weithin dann üppiges Wiesen‐
land, stellenweise durchzogen von niederen
verkrüppelten Weidenstämmen, und in der
Ferne am Strande gewahrte man ein paar
halbzerfallene Fischerhütten.
.Aus der türkisfarbenen Meeresfläche aber
leuchteten einige ockergelbe und orangerote
Spitzsegel auf, die völlig unbewegt an ihre
Stätte gebannt zu sein schienen.
*
.Die drei Wanderer waren offenbar noch
nicht recht zum Sprechen angeregt, und so
kam es, daß sie meist ohne zu reden ihre
Augen schweifen ließen.
.Nur dann und wann wurden kurze Worte
gewechselt, sei es, daß irgendein Gegenstand
des einen oder anderen Interesse erregt hatte,
oder daß man seinem Verwundern Ausdruck
gab, zu so früher Stunde schon die Strahlen
der Sonne derart kräftig zu verspüren.
.Es mochte so eine gute Stunde, oder auch
etwas mehr, vergangen sein, als man sich an
einem kleinen Bildstock angelangt fand, ne‐
ben dem der Seitenweg abzweigte, der jetzt
einzuschlagen war, wollte man dem immer
noch beträchtlich entfernten Felskegel näher
kommen, dessen Schattenseite, in milchigen
Duft getaucht, ihn jetzt wie eine brutale Ku‐
lisse aus dem sanft geschwungenen Hügel‐
gelände emporsteigen ließ.
.Zum wenigsten war man nun der allzu‐
ermüdenden Gleichförmigkeit der staubigen
Landstraße entronnen und es währte auch
nicht lange, bis der mäßig ansteigende und
mannigfach gewundene Weg sich durch hohe
Busch- und Baumgruppen, Fliederbüsche
und Kastanienhaine, emporgeleiten ließ, die
immerhin einigen, recht wohltuend empfun‐
denen Schatten spendeten.
.So hatten sich die drei Wanderer allmäh‐
lich dem Fuße des Felskegels immer mehr
genähert, als man vor dem eigentlichen An‐
stieg, an einer dürftig rinnenden steingefaß‐
ten Quelle kurze Rast zu halten beschloß.
.Hier war man schon unterhalb einer jäh
aufragenden Felswand, von der wohl eine
Erderschütterung einige Blöcke herunterge‐
schleudert haben mochte, die nun, mit wei‐
chem Moose bedeckt, die erwünschtesten
Ruhesitze, im dichten Schatten des Berges,
unter mächtigen Walnuß- und Kastanien‐
bäumen boten.
.Rings umher war der steinige Boden dicht
überschüttet von den Stachelhülsen und zahl‐
losen, bereits geschrumpften, vertrockneten
Früchten der Kastanie ‒ dazwischen
knirschten unter den Füßen die zertretenen
Nußschalen, und man konnte gut bemerken,
daß diese schattige Stelle schon so mancher
Wallfahrerprozession als Rastplatz gedient
haben mochte, bevor sie den sündentilgen‐
den Steilweg, zwischen den Kreuzwegstatio‐
nen empor, zum hohen Kloster beschritt.
.Wenn auch das Wasser nur recht spärlich
zurzeit aus der Steinröhre der Quelle sickerte,
so dünkte es doch den drei Männern als ein
gar köstliches Labsal, und jeder wartete stets
wieder geduldig bis der Reisebecher sich ge‐
füllt hatte, um ihn dann in einem Zuge zu
leeren.
.So war unter allerlei frohen Worten, wie
sie bei derlei Gelegenheit sich von selbst er‐
geben, geraume Zeit vergangen.
.Man hatte sich genügend an dem Mitge‐
führten und dem Wasser der Felsenquelle
erfrischt und fand es nun geraten, wieder auf‐
zubrechen, um den Büßerweg emporzuklim‐
men.
*
.Wenn Menschen, die sich etwas zu sagen
haben, längere Zeit nebeneinander gingen
und im Schweigen verharrten, so geht ihnen
das Wort nicht bald wieder verloren, so sie
es nur erst aufs neue fanden!
.Das war auch an den drei weltlichen Wall‐
fahrern zu bemerken, die nun, nicht weit
von ihrem Rastplatze entfernt, bei einer
kleinen Kapelle der Schmerzensmutter die
ausgetretenen, in das Felsgestein gehauenen
unbequemen Stufen vor sich sahen, auf de‐
nen der Weg jetzt die andere Seite des Fels‐
kegels entlang, in praller Sonne und ohne
die mindeste Aussicht auf schattenspenden‐
des Gehölz, in unzähligen Serpentinen auf‐
wärts führte.
*
.„Etwas besser hätte ich mir diesen Weg
der Leidensstationen eigentlich doch vor‐
gestellt”, meinte der Weißbärtige, obwohl er
trotz seines Alters bis jetzt gezeigt hatte, daß
er es auch mit dem Jüngsten der Drei noch
spielend aufnehmen konnte.
.„Nun, es wird hoffentlich nicht immer in
dieser holperigen Treppenweise weiter‐
gehen”, erwiderte der andere, während der
Jüngere lachend einfiel und sagte:
.„Ich fürchte, wir sehen hier noch den ver‐
lockendsten Teil unseres Aufstiegs vor
Augen, und dort oben, wenn die Erquickung
am Ziele schon bald erreicht scheint, haben
uns die ehrwürdigen Väter des Klosters dann
erst das Schwerste aufgespart!”
.Aber der Weißbärtige gab ebenso lachend
zur Antwort:
.„Mich schrecken Sie mit Unkenrufen nicht
und vorläufig rechne ich mich noch lange
nicht zum alten Eisen! Ich komme schon
hinauf und wenn es eine Kletterei gibt wie
an einer Dolomitenwand! Umsonst habe
ich nicht noch vor ein paar Jahren die alt‐
gewohnten, schwierigsten Bergtouren ge‐
macht! Da meinte es die Sonne manchmal
auch nur allzugut und es ist doch gegangen!
.Aber ob unser lieber, wohlbeleibter Freund
hier nicht die Lust verlieren wird, ist eine
andere Sache!”
.Der Alte war durch die anregende Wande‐
rung ordentlich jugendfrisch geworden, und
wäre sein Äußeres nicht gewesen, nach dem
man ihn als reichlichen Sechziger einschätzen
mußte, so hätte man ihn heute wohl für ganz
erheblich jünger halten können.
.Nun gefiel er sich geradezu in der Rolle
des mit seiner Jugendkraft und Ausdauer
kokettierenden Alters, und die beiden an‐
deren fühlten das und hüteten sich, ihm
seine Freude zu verderben.
.„Ja, ja”, erwiderte der eben wegen seiner
Korpulenz ein wenig Verspottete, „unser
Freund ist trotz seiner Jahre am Ende doch
der jüngste unter uns!
.Da grast er zwar alle Bibliotheken ab und
sitzt dann wochenlang hinter seinen Schmö‐
kern, aber trotzdem findet er noch Zeit da‐
zu, sich als Alpinist zu betätigen, so daß es
schon beinahe keine Bergtour gibt, die er
nicht in seinem Leben einmal gemacht hat,
und daß alle Alpenhütten ihm schon Nacht‐
herberge boten!
.Unsereiner kann da freilich nicht mit!”
.Aber der Alte wehrte doch jetzt ab und
meinte: ganz so schlimm sei es schließlich
nicht, wenn er sich auch etwas darauf zugute
halte, daß er mit seinen dreiundsechzig Jah‐
ren sich immer noch ganz passable Leistun‐
gen zutrauen könne.
.Mit solchen Scherzreden, die eigentlich
schlecht zu dem Bilde der um den gemarter‐
ten toten Sohn klagenden heiligen Frau pas‐
sen wollten, das man in ziemlich kunstloser,
bemalter Holzschnitzerei in der kleinen Ka‐
pelle gewahrte, hatte man sich gegenseitig
gleichsam Mut gemacht und war nun schon
eine ziemliche Strecke des Stufenweges em‐
porgestiegen.
*
.Vierzehnmal sollten sich die Bilder grau‐
enhafter Marter eines Menschen durch Men‐
schenhand noch wiederholen, deren erstes ‒
in ebenso kunstloser Arbeit wie die Darstel‐
lung der „Mater dolorosa”, die gleichsam
den Eingang dieses Schmerzensweges zu be‐
wachen schien, den Aufsteigenden nun ‒
seitlich in die Felswand eingelassen ‒ ent‐
gegenblickte...
.Gleich auf dem ersten dieser Bilder ge‐
wahrte man einen jüngeren Mann, zwar
schmerzdurchbebt, aber von edler könig‐
licher Haltung, mit bloßem Oberkörper,
über und über blutend aus unzähligen Geißel‐
wunden, einen dichten Kranz spitzer Dor‐
nen auf seinem Haupte.
.Wüste Gesellen mit infernalischen Gesich‐
tern und Gesten zerren ihn wohl vor einen
Richter, der in kalter stumpfer Ruhe seine
Hände in einem Becken wäscht, das ein blö‐
der Knabe ihm vorhält.
.Unwillkürlich verweilten die drei Männer
und ihre Rede verstummte...
*
.Mochte es nun der erschreckende Ein‐
druck dieses Bildes sein ‒ inmitten einer
üppigen Natur, von Bienen umsummt und
von Faltern umgaukelt, schamlos dem über‐
hellen südlichen Sonnenlichte preisgegeben,
‒ war es die stets erneuerte Peinigung des
Empfindens vor jedem
neuen Bilde, oder
mochte das beschwerliche Steigen in immer
fühlbarer werdendem Sonnenbrennen die
Ursache ergeben, ‒ ‒ kurz: die drei
Freunde erstiegen nun wortlos die nicht en‐
denwollenden, durch tausendfache Benüt‐
zung oft kaum noch kenntlichen Stufen, bis
sie auch das letzte der Bilder, auf dem zu
sehen war, wie man den armen Gemarterten
in ein Grab versenkte, überstanden hatten.
.Endlich war man auf der Höhe des Klo‐
sters angelangt, wo ein Ruhesitz, gerundet
aus dem Stein gemeißelt, die Ermüdeten
empfing.
.Aber hatte man schon vorher bei einem
der letzten jener grauenhaften Bilder mit
Entsetzen den vom Beginn an gepeinigten
Menschen mit Händen und Füßen angena‐
gelt an zwei überkreuzten Balken hängen
sehen, so bot sich jetzt den Rastenden hier
oben das gleiche Bild erneuert dar, nur in
vollendeter Gestaltung, geformt von
einem, der zu formen wußte, durchströmt
von einer Inbrunst des Leidens, die keinem
darzustellen gegeben ist, der nicht einst selbst
gelitten hat, ‒ gelitten an denen, die ihn
peinigten, und der ihnen dennoch vergeben
konnte...
.Aufrecht stehend unter dem Martergalgen
sah man, mit gleicher Kunst gebildet, die
Gestalt eines bartlosen Mannes, der ‒ ab‐
gesehen von dem Lockenhaar ‒ beinahe
dem jüngsten der drei Freunde zu gleichen
schien, und die eines händeringenden, gänz‐
lich niedergeschlagenen Weibes, das wohl
mit jener Schmerzensmutter identisch sein
mochte, die unten am Eingang des Kreuz‐
weges wachte, damit ihn keiner betrete, der
das Mysterium dieses Leidens nicht erfassen
könne...
.Lange saßen die Freunde hier, ‒ dachten
nicht mehr der Erquickung, die sie auf der
nun erreichten Höhe erwarten sollte, ‒ ach‐
teten nicht der brennenden Sonnenstrahlen,
‒ und verlangten nicht nach der vielbe‐
rühmten Aussicht, die man von der Terrasse
auf der anderen Seite des nahen Klosters ge‐
nießen konnte. ‒
*
.Nun wäre aber niemand je so sehr in die
Irre gelaufen, als einer, der etwa vermuten
würde, die drei Weggefährten hätten heute
zum
erstenmal dergleichen Bilder mensch‐
licher Grausamkeit gesehen, und die Ge‐
schichte jenes Gemarterten sei ihnen
fremd
gewesen. ‒
.Dies war mitnichten so!
.Vielmehr war der Alte aus sehr frommem,
christlichem Haus, und einer seiner Brüder
war zu hoher Würde in dem Priesterkreise
aufgestiegen, dem er in früher Jugendzeit
sich schon gelobte.
.Der andere aber, der so sehr einem wür‐
digen Abate glich, hätte einst alle Aussicht
gehabt, ein solcher zu werden, wenn ihn
nicht quälende Zweifel bewogen haben wür‐
den, noch vorher ein anderes Studium zu
wählen.
.Der dritte und jüngste aber war zwar
nicht ein Kind der Kirche Roms, doch ehe
er sich wieder aufs neue zu den Füßen der
Katheder auf die Bank der Schüler setzte,
um des nunmehrigen Berufes vorbedingtes
Wissen zu erwerben, war er bei jungen Jah‐
ren schon in Amt und Würden und wußte
gar ergreifend einer lauschenden Gemeinde
von dem Marterweg zu reden, den jener einst
gegangen war, als dessen vorgeblicher Die‐
ner er auf der Kanzel stand, wenn seine
Kirche dichtgedrängt erfüllt war, auch von
solchen, die längst, bevor man seinem Wort
begegnete, die Kirchentüren nur mehr noch
von außen kannten...
*
.„Wie man auch zu der altehrwürdigen
frommen Glaubensweise stehen mag”, durch‐
brach endlich der Weißbärtige die aufge‐
schichtet lastende Stille, „so hat doch im‐
merhin dieses Voraugenstellen der Leiden
eines als göttlich geglaubten Menschen, um
dadurch das Mitleid und in seinem Gefolge
den Entschluß zu reinerem Leben zu er‐
wecken, etwas von antiker Größe!”
.„Das ist durchaus nicht zu bestreiten”,
meinte der „Abate”, indem er sich noch
immer den Schweiß von der Stirne wischte,
„aber ich glaube nicht, daß viele von denen,
die hier heraufkommen, etwas von dieser
Größe verspüren!
.Ich kenne diese Art Gläubigkeit vielleicht
zu gut...
.Man betet da vor jedem dieser Bilder eine
vorgeschriebene Gebetsformel ab, versucht
es auch mit knapper Not vielleicht, in dump‐
fem Schuldbewußtsein in sich herumzuboh‐
ren, ob man nicht so etwas wie Grauen und
Mitleid vor den von Kindheit an gewohnten
Darstellungen dieser menschlichen Scheu‐
säligkeiten gegenüber einem Schuldlosen
aufbringen könne, und wandert dann im be‐
friedigten Gefühl, das Seine getan und gar
noch 'himmlische Verdienste' erworben zu
haben, seelenruhig bis zum nächsten Bilde,
bis man so die ganze Reihe durchlaufen
hat. ‒
.Außerdem aber geht mir dieses geflissent‐
liche Betonen des Grauenhaften gegen die
Natur!
.Ich weiß wirklich nicht, ob das die rich‐
tige Methode ist, bösartige Instinkte im Men‐
schen zum Verschwinden zu bringen!?
.Das Boshafte und Gemeine, das da mit
plumper Kunst, aber mit so sichtlichem
Wohlbehagen in den Gesichtern und Gebär‐
den der Schergen dargestellt wird, berührt
das Einfühlungsvermögen ‒ schon weil die
Darsteller dabei viel mehr in ihrem Element
waren ‒ weit stärker, als die duldende
Würde des Gemarterten; und dann wird ja
auch der ganze Vorgang als etwas nur ein‐
mal auf der Erde Geschehenes aufgefaßt,
während man nicht im Traum daran denkt,
daß später im Namen eben dieses Gepei‐
nigten
viel entsetzlichere Scheußlich‐
keiten begangen wurden! ‒ ‒ ‒
.Schreibt doch da selbst im 'Jahre des Heils'
Eintausendneunhundertundeins ein
'Priester', der sich nach dem Namen des Ge‐
kreuzigten nennt, in seinen '
Institutio‐
nen des Kirchenrechts' die menschen‐
freundlichen Worte:
'Die weltliche Obrigkeit muß auf
Befehl und im Auftrage der Kirche
die Todesstrafe am Häretiker voll‐
ziehen und kann den von der Kir‐
che der weltlichen Gewalt über‐
gebenen der Todesstrafe nicht
mehr entziehen.
.Dieser Strafe verfallen nicht nur
diejenigen, die als Erwachsene
vom Glauben abgefallen sind, son‐
dern auch jene, die getauft sind
und mit der Muttermilch die Häre‐
sie eingesogen haben und erwach‐
sen sie hartnäckig festhalten.
.Diese Strafe trifft auch, wo sie
eingeführt ist, alle rückfälligen
Häretiker, auch wenn sie sich be‐
kehren wollen, sowie alle, die nach
erfolgter Mahnung hartnäckig
sind.' ‒ ‒ ‒
.Ich muß sagen, daß mir ein 'Erlöser' recht
notwendig erscheinen würde, der einen Men‐
schen, in dessen Gehirn derart scheusälige
Gedanken sich formen konnten, von
seinem
Denken erlösen würde! ‒ ‒
.In die Gesellschaft dessen, den man da
auf den Bildern als Gemarterten dargestellt
sieht, gehört er wahrlich nicht, aber unter
den mit so wollüstiger Freude am Grausamen
wiedergegebenen Henkersknechten könnte
er sich mit Ehren sehen lassen!”
*
.„Sie nehmen aber derartige Äußerungen
doch auch gar zu ernst”, erwiderte der Alte.
„Ich möchte hier weder die vom heiligen
Ignatius von Loyola gestiftete
Gesellschaft,
der auch mein Bruder angehört, und unter
deren Mitgliedern ich manche gelehrte
Freunde zähle, die recht wohl wissen, daß
ich meine
eigenen religiösen Wege gehe,
noch gar
die Kirche selbst für solche
Äußerungen eines römischen Heißsporns, die
ich sehr wohl kenne, verantwortlich machen!
.Der Herr kann aus seiner recht subjek‐
tiven Enge eben nicht heraus!”
*
.„So! ‒ Er kann nicht heraus?!” entgeg‐
nete der Physiker.
.„Aber die römische Kirche hat doch die
sattsam bekannte Institution der 'Indexkon‐
gregation'!
.Warum setzt sie nicht auch einmal Werke,
in denen, im Namen dessen, durch den der
Grund gelegt wurde auf dem sie ihr stolzes
Gebäude aufrichtete, solche
Unmensch‐
lichkeiten propagiert werden, auf den '
In‐
dex' und rückt so wenigstens
formal von
ihnen ab?!
.Meines Wissens ist das
nicht geschehen!”
.„Aber die päpstliche Kirche”, widersprach
der Alte, „ist doch in der heutigen Praxis
durchaus tolerant, und gerade der Gesell‐
schaft der jener Priester zugehört, macht
man viel eher den Vorwurf, daß sie gegen‐
über der menschlichen Schwachheit nur all‐
zuviel Nachsicht habe!”
.„Ja, wo es ihr paßt”, parierte der andere,
„und was die heute geübte 'tolerantere Pra‐
xis' angeht, so stellt sie
eine Tugend der
Not dar, wenn man nicht eher sagen darf,
daß gerade diese tolerante Praxis
höchst
subjektiver Natur ist, und keineswegs in
dem begründet erscheint, was man sich als
kirchliche
Jurisdiktionsgewalt im Laufe
der Zeiten zurechtgetüftelt hat und woran
man leider auch heute noch ‒ wenn auch in
vorsichtigerer Anwendung ‒ den eigenen
Halt zu finden glaubt, obwohl es schon arger,
und wahrlich
bedenklicher Sophismen
bedarf, um das alles mit der
Lehre des Na‐
zareners, auch nur
unter Auguren, in
scheinbaren Einklang zu bringen! ‒ ‒”
*
.„Sie reden da von der
Lehre des Naza‐
reners”, warf nun der jüngste der drei Män‐
ner ein, „wie von einer Sache, über die man
sich mit Leichtigkeit unterrichten könne!
.Ich muß dagegen einwenden, daß es we‐
nige Dinge auf Erden gibt, über die man
mit ähnlicher Selbstverständlichkeit spricht,
ohne sie zu kennen, wie eben gerade die
Lehre des Nazareners! ‒
.Was man in literarischen Zeugnissen die‐
ser Lehre besitzt ‒ die sogenannten 'Evan‐
gelien' ‒ ist von Anfang an
Bericht aus
zweiter Hand gewesen und wurde, bevor
es auf uns kam, in der skrupellosesten Weise
von den verschiedensten Bearbeitern um‐
gemodelt, weil jeder versuchte, die Bestäti‐
gung seiner
eigenen beschränkten Schul‐
meinung durch die Autorität des hohen Mei‐
sters sicherzustellen. ‒ Jeder der frühen Ab‐
schreiber las aus den ohnehin nur fragmen‐
tarischen Berichten über die Lehre
nur das
heraus, was er selber zu fassen vermochte,
und glaubte sich so bei bestem Gewissen be‐
rechtigt, ihm Unverständliches zu än‐
dern, bis schließlich die letzte Form der
Abschriften entstand, die für uns die frü‐
hesten, noch erreichbaren Texte darstellen,
auf denen all unser äußeres Wissen über die
Lehre des Meisters von Nazareth sich grün‐
det. ‒ ‒
.Wer aber glaubt, daß außer diesen lite‐
rarischen Dokumenten von bereits so zwei‐
felhafter Glaubwürdigkeit, etwa eine münd‐
liche Tradition sich erhalten haben könne,
der zeigt gar wenig Menschen- und Ge‐
schichtskenntnis...
.Schon die alltägliche Erfahrung lehrt je‐
den Richter, daß auch die glaubwürdigsten
Zeugen einer leicht faßbaren Begebenheit,
die verschiedensten Berichte geben, trotzdem
jeder die ganze Wahrheit zu bekunden
glaubt. ‒ ‒
.Blickt man sich aber in der Geschichte der
Menschheit etwas genauer um, so bedarf es
wahrlich nur geringer Kritikfähigkeit, um zu
sehen, wie Worte und Ereignisse sich im
Laufe weniger Jahrzehnte schon zu ändern
vermögen, um irgendwelchen Wünschen
Mächtiger, oder dem Bedürfnis der Menge
gerecht zu werden. ‒ ‒
.Ich spreche es darum hier unumwunden
aus und bin mir der Tragweite meiner Worte
gar wohl bewußt: ‒ daß kein Mensch
auf dieser Erde etwas Sicheres über
die Person und Lehre des Jehoschuah
von Nazareth weiß oder in Erfahrung
bringen kann, solange ihm nicht die
Lehren der 'Leuchtenden des Urlich‐
tes' zugänglich wurden, denn der Mann,
der im Mittelpunkte der alten Berichte steht,
war ein Zugehöriger dieser geistigen
Vereinigung Gottgeeinter, und was er
lehrte, lehrte er wie es der 'Vater' ihm ge‐
boten hatte, ‒ der 'Vater' dieser Leuch‐
tenden, den jeder seiner 'Söhne' kennt
und von dem jeder aus ihnen sagen darf:
.'Ich und der Vater sind eins!'
.'
Wer mich sieht,
der sieht auch den
Vater!' ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Jede der vielen Glaubensgemeinschaften,
die sich heute nach dem
Namen dieses ho‐
hen Meisters, dieses 'Gesalbten' oder
Chri‐
stos, nennen, besitzt wohl in irgendwelchen
Bruchstücken irgendwelche
Teile seiner
Lehre und sucht sie so gut wie es gehen mag,
ihrem Verständnis anzupassen, wobei frei‐
lich meist das Beste verloren geht. ‒ ‒
.Die einen tilgen alles, was über ihre eigene,
rationalistische Denkweise sich erhebt, und
fälschen unbewußt des Meisters Lehre in
eine erhabene menschliche
Ethik um, wäh‐
rend die anderen durch
Zwang zu erreichen
suchen, daß erhalten bleibe, was sie selbst
nur noch irrig deuten.
.Die Kirche Roms krankt an ihrem
Ahnen‐
stolz, wie so manche Adelsfamilie, der die
Zahl der Ahnen wichtiger ward als der eigene
Adel, ‒ wogegen die von ihr
losgelösten
Zweige vergessen, daß zum Gedeihen '
Erd‐
reich' gehört, und so sich nicht beklagen
dürfen, wenn sie allmählich ihre Lebens‐
kraft verlieren! ‒ ‒ ‒
.Wer
wirklich ein Jünger des Meisters
der Evangelien werden
will, der darf nicht
glauben, von diesen menschlichen Institutio‐
nen abzuhängen, auch wenn er in einer oder
der anderen vieles zu finden weiß, das ihm
gemäß ist und zu seiner Seele spricht!
.Aber auch nicht durch die
Loslösung
von solcher Gemeinschaftsbildung kommt
er dem Meister näher, sondern nur durch
Vertiefung seiner eigenen Erkennt‐
nis, die sich in
jeder Glaubensform zum
Aufleuchten bringen läßt!
.So wollen wir nicht hadern über der an‐
deren Torheit, sondern
selbst die Weis‐
heit suchen! ‒”
*
.Hier endete vorerst der jüngere der drei
Männer, und seinen bewegten und bewegen‐
den Worten folgte eine tiefe, fast atemlose
Stille.
.Es war, als ob der Gekreuzigte, unter des‐
sen kunstreich gestaltetem Bilde die Drei ‒
die sich unwillkürlich während solcher Rede
erhoben hatten ‒ nun standen, segnend
seine durchbohrten Hände über sie breite,
und als ob Mann und Weib, die man steinern
im Schmerz versunken unter dem Kreuze
gewahrte, aus den Worten des Begeisterten
Trost schöpfen wollten...
.Viel länger als beabsichtigt war, hatte man
hier verweilt, und die drei Freunde schritten
nun im Gefühl einer heiligen Erregung, die
von dem Sprechenden ausgegangen war und
sich den beiden anderen mitgeteilt hatte,
durch den blühenden, von den Mönchen
sorglichst gepflegten Garten dem nahen Klo‐
ster zu.
.Vor dem überreich skulpierten Barock‐
portal machten sie Halt.
.Dem schweren, schmiedeeisernen Klingel‐
zug gehorchte eine tiefgestimmte Glocke,
die man im Innern der Klosterräume ertönen
hörte, und alsbald öffnete sich eine kleine
Pforte in dem mächtigen geschnitzten Tor‐
gebilde, das von dem steinernen Portal um‐
schlossen war.
.Ein dicker Franziskanerfrater begrüßte
lächelnd die Ankommenden und schloß hin‐
ter ihnen sogleich wieder den Einlaß, der,
als ein Tor im Tore, die architektonische
Gliederung des Ganzen auch im geöffneten
Zustande keineswegs beeinträchtigt hatte.
.Die Freunde fanden sich in einer hohen,
leidlich lichten Halle, während der Bruder
Pförtner ihnen voranschritt und sie dann
über einige Stufen, die er in sorglicher Vor‐
sicht zu beachten empfahl, in einen kleinen
gewölbten Raum geleitete, den Tische, Bänke
und Stühle einigermaßen füllten und der
an seinen weißgetünchten Wänden keinen
anderen Schmuck aufwies, als ein großes,
hölzernes Kruzifix.
.Hier bat er, dem offenbar die leibliche
Stärkung der Besucher des Klosters oblag,
die drei Männer, zu verweilen, um alsbald
mit einer mächtigen Schüssel dampfender
„Minestrone”, jener köstlichen italienischen
Gemüsesuppe, wiederzukehren, die er vor
ihnen niedersetzte.
.Aus einem Wandschrank holte er Teller,
Löffel und Gläser, verschwand wieder und
kam zurück mit einer bastumflochtenen lang‐
halsigen Flasche, mit einem zinnernen Tel‐
ler, auf dem eine Stange weißen Brotes lag,
und mit einem Schüsselchen, das gefüllt war
mit geriebenem Käse, den man nach landes‐
üblicher Weise auf die Suppe streut.
.So wußte er die Gäste nun versorgt,
wünschte Appetit und überließ sie ihrem
Mahle.
.Die Minestrone mundete vorzüglich, Brot
und Wein waren eine willkommene Beigabe,
und da man doch, vordem man hier eintrat,
allmählich recht hungrig geworden war, so
durfte wohl der Bruder Küchenmeister spä‐
ter an der geleerten Schüssel ersehen, daß
das Gebotene allen Beifall gefunden haben
mußte.
.Eben hatte man befriedigt den letzten
Bissen genossen, als auch der bedienende
Bruder wieder erschien und mit einem Blick
auf das leere Geschirr scherzend bedeutete,
nun sei man wohl wieder fähig, einige An‐
strengung zu ertragen, und darum wolle er
gerne den alten Kreuzgang und das Innere
der Klosterkirche zeigen.
.Einer Bezahlung des Mahles wehrte er lä‐
chelnd ab und meinte, das könne man nach
Schluß seiner Führung mit einer beliebigen
frommen Gabe für das Kloster begleichen.
*
.Es ist etwas sehr Schönes um diese Gast‐
freundlichkeit der Mönche und man darf
nur bedauern, daß es auch allzuoft Kloster‐
gäste gibt, die sich sehr gerne
geben lassen
ohne von dem Ihren etwas
entgegen zu
geben, und so denn schließlich noch die Klö‐
ster, in denen bislang derartige vertrauende
Gastfreiheit bestand, eines Tages zwingen
werden, den guten alten Brauch aufzuheben.
*
.Als man das kleine Gaststübchen verließ,
meinte der „Abate”, wie der Physiker wohl
auch scherzweise oft von seinen Freunden
bezeichnet wurde, in froher Behaglichkeit:
„Das nenne ich praktisches Christentum!
.Da wird nicht erst gefragt, ob man Heide,
Jude oder Christ, und nach welcher
Art man
es zu sein beliebt, ob man
Geld im Beutel
hat oder nicht, und man vertraut wildfrem‐
den Menschen, daß sie Vernunft genug ha‐
ben, Gabe mit Gegengabe zu vergelten!
.Es ist doch jämmerlich, daß die 'From‐
men' draußen in der Welt allesamt immer
zu sündigen fürchten, wenn sie einem, der
nicht auf
ihr Glaubensbekenntnis einge‐
schworen ist, auch nur einen freundlichen
Blick schenken! ‒
.Hier ist so ein Stück kirchliche, und zwar
uralte Praxis, das vielleicht doch Nach‐
ahmung verdiente! ‒”
*
.Aber es war jetzt nicht Zeit dazu, sich
weiterhin über den wünschbaren Zustand zu
verbreiten, der durch ein duldsames Ver‐
halten der Menschen untereinander auf Er‐
den entstehen könnte, so sehr auch jeder der
beiden anderen dem Sprechenden Recht ge‐
ben mochte; ist es doch ohne Zweifel wahr,
daß die Menschen sich sehr wohl zu ver‐
tragen wissen, solange es ihnen nicht ein‐
fällt, schamloserweise ihre innersten Über‐
zeugungen zur Handelsware zu erniedrigen,
wo dann ein jeder
seinen Einkauf zum
höchsten gewertet sehen will, und alsbald
grimmig, fuchtig und boshaft wird, wenn
ein anderer meint, er habe den
besseren
Griff getan und sein Gespinste müsse alle an‐
deren überdauern. ‒ ‒
*
.Die drei Männer, und voran der Kloster‐
bruder, waren nach wenigen Schritten vor
einer tiefausgeweiteten Nische angelangt, all‐
wo das Pfingstwunder in gleich kunstloser
Darstellung wie die Marterbilder, die man
vordem gesehen hatte, in buntbemalter Holz‐
schnitzarbeit dargestellt war.
.Inmitten der zwölf Jünger des Gesalbten
thronte nun nicht mehr der
Verkünder der
„frohen Botschaft”, sondern seine
Mutter.
.Das Weib war an Stelle des Mannes ge‐
treten!
.„Das
Ewig-
Weibliche zieht uns hin‐
an”, bemerkte, wie nebenbei, in tiefem
Ernste der Jüngste.
.Der führende Frater hielt die Darstellung
für ein großes Kunstwerk, zumal sie doch zu
dem Namen des Klosters in so naher Be‐
ziehung stand, denn die feurigen Flammen‐
zungen da, über jedem Haupte, bedeuteten
doch den Paraklet, den „
heiligen
Geist”. ‒
.Befriedigt über das sichtliche Wohlgefal‐
len, das die Besucher nach seiner Meinung
an dem für ihn so sehr „natürlich” gestalte‐
ten Gebilde fanden, führte er sie ins Refek‐
torium, den Speisesaal der Mönche.
.Eine feierliche Vornehmheit erfüllte die‐
sen Raum.
.An den Wänden sah man nicht üble, bib‐
lische Fresken aus später Zeit italischer
Kunst, und ringsum vor dem tiefbraunen
Holzgetäfel standen lange linnenbedeckte
Tafeln, auf denen man bereits ‒ für die
Abendmahlzeit der Mönche bestimmt ‒ vor
jedem der primitiven Schemel eine kleine
Schüssel und ein Brot gewahrte.
.An der Stirnseite des durch drei schmale,
kleine Rundbogenfenster mäßig erleuchte‐
ten Raumes sah man sodann unter einer fast
lebensgroßen Darstellung des Gekreuzigten,
die den „Mann der Schmerzen”, auf Holz
gemalt, an den schwarzen gekreuzten Balken
zeigte ‒ über seinem Haupte drei silberne
Kronen, eine zu fünf, eine zu vier und die
höchste drei Zacken tragend ‒ den Tisch
des Superiors, hinter dem statt des Schemels
ein hoher Thronsessel sich erhob.
.Gegenüber aber, dort wo die drei Fenster
die Wand der anderen Schmalseite durch‐
brachen, war in der Ecke eine kleine Kanzel
mit Lesepult aufgerichtet, und der Bruder
erklärte den Dreien ‒ was sie alle bereits
wußten ‒ daß dort zur Zeit des Mahles der
Vorleser seines Amtes walte, damit auch bei
so nötiger leiblicher Stärkung der heilige
Geist nicht fehle.
.Den ganzen Saal erfüllte ein starker, doch
nicht gerade unangenehmer Geruch nach ge‐
kochten Hülsenfrüchten, der den Mauern,
den Schemeln und selbst der kleinen Kanzel
zu entströmen schien, und der in gar wun‐
derlichem Kontrast stand zu dem Weih‐
rauchduft, dem man in den hohen, langen
Gängen, die den Speiseraum erreichen lie‐
ßen, bisher begegnet war.
.Wie es immer geht, wenn man Räume be‐
tritt, die zu der Zeit ihres Betretens nicht
ihrer Bestimmung dienen, so geschah es auch
hier: man war froh, den Saal wieder ver‐
lassen zu können und ließ sich gerne immer
fühlbarer werdender frischer Gartenluft ent‐
gegenführen.
.Nach einigen labyrinthischen Winkel‐
wegen war man so in dem berühmten Kreuz‐
gang des Klosters angelangt, den frühe Fröm‐
migkeit mit hoher Kunst gestaltet hatte.
.Ein großes Viereck war hier über und
über bedeckt mit Rosen, und selbst um die
dünnen steinernen Säulchen auf den Balu‐
straden, die den breiten Gang von der Gar‐
tenerde schieden, rankten sich dornige Ro‐
senzweige bis unter das Gewölbe.
.Hier war wahrlich ein wonniges Paradies,
und die frommen Patres waren wohl zu be‐
neiden, wenn sie alltäglich die Gnade ge‐
nießen durften, allhier ihr Brevier zu beten.
.Wie mußte sich in diesem kühlen Wandel‐
gang um einen Rosenhain so süß zur „
Rosa
mystika” das Herz erheben lassen!
.Wie nahe fühlte man sich hier den Seli‐
gen, die vor dem Thron des Lammes ihr
„
Laudamus te” erklingen lassen für und
für.
.Aber schließlich geziemt es Weltleuten
nicht, allzulange die Wonnen der Gottselig‐
keit frommer Mönche ahnend nachzuempfin‐
den, und so mußte man denn auch diesen,
stiller Versenkung und heiligem Gespräch
vorbehaltenen Ort wieder verlassen, um
durch den allzeit gütig lächelnden Führer
sich in die Klosterkirche geleiten zu lassen.
.Hier war nun am meisten bemerkenswert,
daß diese Kirche gleichsam auf einer frü‐
heren Kirche stand, und in der früheren,
die nun die Krypta ‒ das Kellergewölbe
der neueren war ‒ stand heute noch der alte
heidnische Opferaltar ‒ nun von al‐
lem Bösen gereinigt und durch den Bischof
geweiht ‒ auf dem in vorchristlicher Zeit
die alten Heidenpriester hier einem Gotte
Opfer brachten, den sie den „Beleber”
nannten, und den man im Lichte der Offen‐
barung freilich längst als bösen „Teufel” er‐
kannt und aus seinem ehemaligen Tempel
vertrieben hatte.
.„Santo Spirito” hieß ja jetzt diese
Kirche und nach ihr das Kloster, wo einst in
früher Vorzeit ein Sanktuarium stand, zu
dem man nur von ferne aufzublicken wagte
in der ganzen Gegend, da schon der Fels, auf
dem es errichtet war, als heilig galt und nur
durch Götterwort aus diesem Hügelland em‐
porgehoben schien. ‒ ‒
.„Veni creator spiritus” ‒ 'Komm
Schöpfer Geist!' ‒ zitierte der Jüngste der
Drei.
.„Wie lange willst du uns noch warten
lassen?! ”
.Und der Klosterbruder nickte lächelnd,
‒ hatte er doch ihm so bekannte Worte ver‐
nommen, die den, der sie gesprochen hatte,
ihm als wahrhaft frommen Sohn der heiligen
Kirche erscheinen lassen mußten...
.Auch unter den Weltleuten gab es ja nach
Gottes Ratschluß mitunter fromme Seelen,
und wenn es ihnen auch wahrlich schwer
war, das Heil zu erlangen, so zeugte doch
solche Wohlvertrautheit mit heiligen Wor‐
ten schon davon, daß dieser da nicht ganz
verloren war. ‒
.Er führte die drei Männer über eine steile
in den Fels gehauene Treppe wieder empor
zur Oberkirche, einem einst in der ersten
Zeit der Christenheit begonnenen, wohl auch
vollendeten und dann in Kriegsläuften wie‐
der zerstörten Bau, der in den Stilarten aller
Jahrhunderte stets neu erstanden war, und
schließlich in jenem reichen Barock erhalten
blieb, das man auf italischen Gefilden so oft‐
mals trifft, als den Stil der ausgelassensten
Heiligkeit.
.Hier sollte man nun zwar gar manche Al‐
targemälde bestaunen; doch waren diese Be‐
sucher offenbar der Kunst nicht kundig, denn
sie fanden nur weniges, das ihre Bewunde‐
rung erweckte.
.Der Franziskanerbruder war fast traurig!
.Nur eine büßende Magdalena, die gerade‐
zu sündhaft natürlich als Weibsperson in Er‐
scheinung trat, und deren Bildnis ‒ es sollte
von einem Schüler des großen Tizian sein ‒
man schon lange gern den Altertumshänd‐
lern von Firenze abgelassen hätte, wenn sie
nur willig gewesen wären, den Preis zu zah‐
len, den der Superior dafür haben wollte,
ließen sie gar nicht aus den Augen ‒ auch
der Junge nicht, der doch vorhin so heilige
Worte wußte ‒ so daß es den Frater schier
verdroß und er einige Augenblicke nicht
mehr so freundlich lächeln konnte, wie er es
sonst solchen vornehmen Besuchern des Klo‐
sters gegenüber gewohnt war.
.Es war halt doch ein Kreuz mit diesen
Weltmenschen und der Teufel hatte sie wohl
so halbwegs immer am Kragen!
.Wohl dem, der hier seine Zuflucht gefun‐
den hatte, wie er, nicht mehr beirrt von den
Gelüsten der Welt und ihrer Hoffart ent‐
ronnen!
.Unwillkürlich mußte sich der arme Frater
bekreuzigen...
.Dann aber wurde er wieder munter, wie
es seines Amtes war und ja auch himmlische
Verdienste brachte, betete im stillen für diese
Fremden, die vielleicht, und trotzdem sie die
melodische Sprache seines Landes sprachen,
dennoch „Ketzer” sein konnten, ein Stoß‐
gebet, räusperte sich und zeigte nun mit nicht
endenwollenden Erklärungen die Gräber der
hochadeligen Gönner der Kirche in einer
reichgeschmückten Seitenkapelle, und war
maßlos enttäuscht, als auch diese Sehenswür‐
digkeit keinen rechten Anklang fand.
.Während er die Fremden durch die langen
Korridore dem Ausgang zu geleitete, dachte
er darüber nach, vor wieviel Gefahren ihn
doch der Herr behütet habe. ‒ ‒
.Nicht Gefahren des Leibes, denn die
hatte er niemals sonderlich geachtet, auch
damals nicht, als er dem Bruder seiner Ro‐
setta den Dolchstoß versetzte, an dessen Fol‐
gen er schließlich verstorben war. ‒ ‒
.Warum hatte er ihnen auch auflauern
müssen?!
.Glücklicherweise hatte ihn die Rosetta ja,
wie er dann hörte, mit einem anderen be‐
trogen, so daß der Verdacht damals auf je‐
nen fiel ‒ was eigentlich eine gerechte
„Strafe” war ‒ und in der Dunkelheit hatte
der erzürnte Angreifer, der die Ehre der
Schwester rächen kam, nicht zu erkennen
vermocht, wen er selbst da erdolchen
wollte...
.Jetzt war Rosetta lange Jahre schon ein
braves Eheweib, hatte ein halbes Dutzend
Kinder und schlug gar keusch die Augen
nieder, wenn sie an besonderen Festtagen
herauf ins Kloster kam, und etwa ihm, dem
Frater Isidoro, begegnen mochte. ‒ ‒
.Ja, ‒ es war schwer, in der Welt zu le‐
ben und dennoch selig zu werden! ‒ Sehr
schwer!
.Ewigen Dank der heiligen Jungfrau dafür,
daß sie ihm damals, als er nach dem Begräb‐
nis von Rosettas Bruder so inbrünstig gebetet
hatte, in den Sinn zu geben für gut fand, daß
er als büßender Bruder hier oben im Kloster
doch noch Verzeihung für seine Sünde fin‐
den könne! ‒ Auch der vermeintliche
Täter war ja, aus Mangel an Beweisen, frei‐
gesprochen worden. ‒ ‒
.In solche Gedanken versunken war er mit
seinen Fremden wieder an die gleiche Pforte
gelangt, die es gestattete, ohne das mächtige
Tor zu öffnen, einzelne Besucher des Klo‐
sters ein- und auszulassen.
.Hier erinnerte er sich wieder seiner
Pflicht, gab sein liebenswürdigstes Lächeln,
nahm im Namen Gottes dankend die unbe‐
sehenen Spenden der Gäste in Empfang, und
schloß die Pforte hinter ihnen in einem Ge‐
fühl, das dem nicht unähnlich war, das Sankt
Petrus haben müßte, wenn er ein paar Teufel
durch die himmlischen Thronsäle geleitet
hätte, um sie nun endlich wieder los zu
sein...
.Das Amt als Bruder Pförtner war wahrlich
nicht leicht!
.So immerfort mit den profanen Weltleu‐
ten zu tun zu haben, während man sich
doch längst dem Himmel angelobt hatte,
‒ das war halt doch eine harte Pönitenz!
‒ ‒
.Gott sei Dank! ‒ Heute waren wenigstens
keine Gäste mehr zu erwarten!
*
.Die drei Männer aber umschritten nun,
während noch gelegentliche Bemerkungen
über das Gesehene fielen, die ausgedehnten
Klostergebäude, um endlich auf die äußere
Terrasse zu gelangen, von deren herrlicher
Aussicht sie so viel gehört hatten.
.Wirklich bot sich jetzt dem Auge ein
Rundblick dar, der seinesgleichen ‒ auch in
italischen Landen ‒ suchte.
.Von steilster Felsenhöhe herab übersah
man weitgedehntes Hügelland, Dörfer, Wei‐
ler, einzelne Gehöfte, die in dunkles, graues
Grün gebettet waren, wie helle Stickerei in
dunklen Samt.
.Zuweilen zeigte das dunkle Grün auch
helle silbergraue Flächen: Olivenhaine, die
sich an die Hügellehne schmiegten.
.Aus den Dörfern ragte jeweils der hohe
Campanile, und weißen Spinnenbeinen
gleich griffen die Wege, Straßen und Pfade,
die allesamt von der Ebene her hinauf zu ir‐
gendeiner Piazzetta führen mochten, gebogen
oder eckig geknickt, in das dunkle Land.
.Nach der anderen Seite zu ebnete sich das
Gelände und lag wie eine Landkarte gebrei‐
tet vor dem Blick.
.Fern sah man inmitten der Äcker, Wiesen
und Gärten etwas rötlich Gelbes, das man
flüchtigen Auges für einen Steinbruch hätte
halten mögen, wenn nicht geregelt gewin‐
kelte Formen Gestaltung durch Menschen‐
hand verraten hätten.
.Das rötliche Gelb, gemattet durch einen
Schleier opalfarbenen Duftes, den der Rauch
der Küchen verstärkte, breitete sich hier die
Stadt mit ihren bei näherem Zusehen bald
erkennbaren Palazzi und schlanken Türmen,
in ihrem Umkreis akzentuiert durch die
dunklen Massen der Parke, aus denen helle
Flecken: die Villen der äußeren Stadtteile,
leuchtend blinkten, oft überragt von schwar‐
zen Zypressenspitzen oder breitausladenden
Pinienkronen.
.Hohen Horizontes aber umschloß dieses
ganze Bild das weithin sichtbare Meer, grau‐
grünlich gebreitet, von der türkisfarbenen
Himmelsweite wie von einer unendlich fer‐
nen, leuchtenden Wand umschlossen, auf der
blaßviolette Streifenwolken einen dünnen
Saum zu ziehen suchten.
.In der Höhe der Himmelswand vertiefte
sich das blasse Blau, ließ immer deutlicher
erkennen, daß diese Wand nur ein dünner
Schleier war vor der unendlichen Welten‐
nacht, die der Erdensonne Licht dem Auge
zu verbergen weiß, und hoch oben über dem
Scheitel schien dieser Schleier zuletzt so we‐
senlos, daß man das schwarze Dunkel des
Weltenraumes durch ihn hindurch zu er‐
kennen glaubte.
.Kein Laut erreichte das Ohr.
.Das Auge allein empfing Kunde, so daß
man sich leicht der Täuschung ergeben
konnte, als stünde man hier vor einem gran‐
diosen Bilde, und nicht als winziger Be‐
wußtseinsträger inmitten eines kaum nen‐
nenswerten Umkreises der Oberfläche eines
der kleinsten Planeten, der unaufhörlich be‐
wegt, seine Bahn um das lebenspendende
ferne Muttergestirn in rasender Eile durch‐
mißt. ‒ ‒
.Die drei Männer fanden sich bewogen,
sehr lange schweigend hier zu verweilen, und
ohne ein Wort der Verabredung, schien man
übereingekommen, die ursprüngliche Ab‐
sicht, hier das Gespräch des gestrigen Tages
fortzusetzen, doch lieber aufzugeben, zumal
die Stunde nun zur Heimkehr rief, wollte
man noch vor der Dunkelheit die Stadt er‐
reichen.
.Alsbald machte man sich denn auch auf
den Weg und erstaunte fast, wie schnell man
wieder unten den Rastplatz fand, an dem
man des Morgens gelagert hatte.
.Auf dem weiteren Wege sprach man wohl
dann und wann ein kurzes Wort, allein es
schien, als ob keiner der Drei sich veranlaßt
fände, ein weiterzeugendes Gespräch zu
wünschen.
.Fast hätte man meinen können, daß sich
erst, jener dünnen Quelle an dem morgend‐
lichen Rastplatze gleich, die Gedanken wie
das Wasser im Becher sammeln wollten, be‐
vor sie sich darbieten mochten um genossen
zu werden. ‒
.Im Schweigen verdoppelte man unwill‐
kürlich die Schnelligkeit des Schrittes und
so kam es, daß man weit eher in die Stadt
zurückgekehrt war, als man es vorher hätte
vermuten können.
.Trotz der reichlichen Wegstrecken dieses
Tages fühlten sich aber die Wanderer heute
noch viel zu frisch, als daß der Wunsch in
ihnen hätte aufkommen mögen, sich für den
Rest des Tages oder vielmehr für dieses Ta‐
ges Abend allein gelassen zu sehen.
.So verabredete man denn, heute den
Abendimbiß gemeinsam einzunehmen, und
es wurde dafür eine Trattoria bestimmt, die
berühmt war für Küche und Keller, außer
diesen Vorzügen aber noch, obwohl inmitten
der Stadt gelegen, eine Pergola besaß, die an
einen weiten Garten grenzte, so daß man
hier im Freien eine der köstlichen Nächte
des Südens zu genießen hoffen durfte.
.Dort ‒ so meinte man ‒ würde sich viel‐
leicht auch Gelegenheit finden, das am Nach‐
mittag versäumte Gespräch allenfalls in der
Abendkühle geruhsam nachzuholen.
TRATTORIA del duomo” nannte sich die
kleine Gaststätte, in der sich die Freunde
nun wieder fanden.
.Man durchschritt zuerst einen schmalen,
langgestreckten Speiseraum mit weißge‐
tünchten Wänden, an denen einige billige,
patriotische Öldruckbilder wie groteske
Kleckse wirkten.
.Nur wenige Gäste saßen in dem für die
kleinen Ausmaße des nüchternen Raumes
viel zu grellen Licht an den weißgedeckten
Tischen bei ihrer Abendmahlzeit.
.Als man durch eine rückwärtige Türe dann
ins Freie trat, war man trotz der paar im
Laubwerk der Pergola primitiv aufgehäng‐
ten Glühlampen derart geblendet, daß man
um den spärlichen Lichtkreis, der so da und
dort zu sehen war, nur tiefe ägyptische Fin‐
sternis gewahrte.
.Es brauchte aber nur Minuten und das
Auge hatte sich von der barbarischen Blen‐
dung erholt, erkannte deutlich die Umrisse
des Laubwerks im Garten, hinter denen sich
das Dach der Hauptkirche und daneben der
Campanile erhob, flankiert von tiefschwarzen
Zypressengruppen, die wohl noch im Garten
wurzeln mochten.
.Winkelreiche Häusersimse schlossen nach
der anderen Seite das Bild, das wie in einem
Rahmen stand: gebildet aus den mattbeleuch‐
teten Rebenblättern der Laube. Aus tiefstem
Hintergrund strahlte ein schon vom auf‐
gehenden, aber hier noch nicht sichtbaren
Monde durchflimmerter, heller Nachthim‐
mel, aus dem der Sterne gedrängte Menge
ihr glitzerndes Licht herab zu einem der
winzigsten ihrer Brüder ‒ dem kleinen
Erdplaneten ‒ sandte.
.Nach den im Laufe des Tages empfunde‐
nen, bereits recht fühlbaren, hohen Wärme‐
graden, war man dankbar für die mäßige
Abendkühle, die das Sitzen im Freien als
wahres Labsal genießen ließ.
.Die drei Männer hatten dem höflichen Ca‐
meriere, der ihnen vom Eingang an auf dem
Fuße gefolgt war, schnell ihre Wünsche
offenbart, und nach kürzester Zeit fand man
sich denn auch schon beim appetitlichsten
Imbiß und spendete dem vorzüglichen Ba‐
rolo alles Lob, einem Piemonteser roten
Wein, der weder herb noch süß, voll charak‐
teristischer Eigenart des Geschmacks, nicht
ganz ungeeignet schien, die Zungen zu
lösen.
.Als ein butterzarter Stracchino ‒ jener
milde köstliche Käse der Lombardei, der auf‐
gestrichen auf das lichte Weizenbrot des Lan‐
des eine Delikatesse hohen Ranges zu bilden
vermag ‒ das Mahl beschlossen hatte, fand
es denn auch der älteste der Drei, gewohnt
mit einiger Zähigkeit an dem was er sich vor‐
genommen hatte, festzuhalten, für geraten,
nun das schon am Tage durch den Lauf der
Ereignisse verzögerte Gespräch hervorzu‐
locken, denn es war doch da manches zu er‐
warten, was ihn nicht ruhen gelassen hätte,
wäre man auch an diesem Abend wieder der
Rede über diese Dinge ausgewichen.
.Und er begann:
.„Dünkt es Ihnen nicht, junger Freund,
daß hier wohl der rechte Ort und vielleicht
auch eine gute Stunde wäre, über alles das
von Ihnen zu hören, was Sie uns für heute
zwar versprochen hatten, aber noch vorent‐
halten haben?
.Ich dächte, eine stimmungsvollere Um‐
gebung ließe sich nicht leicht finden, und
über uns die ewigen Sterne fordern geradezu
heraus, hier über tiefe Themen zu sprechen
und uns das Geheimnisvolle, das Ihnen be‐
gegnet sein mag, soweit Sie es für gut finden
wollen, zu enthüllen! ‒”
.Der „Abate”, der ja am Abend zuvor bei
der Wanderung am Meeresstrande erste An‐
regung zu solcher Frage gegeben hatte,
stimmte freudig zu, und der Jüngste der Drei,
den die Bitte anging, zeigte sich nun gerne
bereit, ihr zu willfahren, wenn er auch zu
bedenken gab, daß man schwerlich so lange
hier verweilen könne, um alledem was er
mitzuteilen habe, zuzuhören.
*
.So fing er denn damit an, in kurzen Wor‐
ten erst seines Elternhauses zu erwähnen, in
dem eine tiefe christliche Frömmigkeit nach
reformierter Lehre gleichsam erblich war,
und gedachte besonders seiner Mutter, die es
verstanden hatte, in der Seele ihres Kindes
die Sehnsucht nach göttlichen Dingen so zu
wecken, daß später die erlangte Studienreife
keine Wahl mehr zuließ, hinsichtlich des
künftigen Berufes: denn nur als Seelsorger
inmitten einer gläubigen Gemeinde, glaubte
damals der Sohn das Glück seines Lebens fin‐
den zu können. ‒
.Er gedachte weiter dann der ersten froh‐
beglückten Zeit des nach absolvierten Stu‐
dien erlangten Amtes an der Kirche seines
Bekenntnisses, in einer kleinen, aber geistig
ungemein regen Stadt, und all der Freuden,
die ihm damals die Seelsorge, soweit sie ihm
übertragen war, zu geben hatte.
.Dann aber waren fast plötzlich die ersten
schweren Zweifel aufgetaucht, ob denn wirk‐
lich diese von unzähligen Überarbeitern fast
bis zur Unkenntlichkeit redigierten alten Be‐
richte, die man das Evangelium nannte,
noch als „Wort Gottes” gelten könnten, und
im Verlaufe so mancher Monate, die den
jungen Prediger meist ganze Nächte hin‐
durch beim Studium bibelkritischer Werke
fanden, hatten sich solche Zweifel allmäh‐
lich bis zu völliger Gewißheit verdichtet,
daß er durch seinen Beruf fortan gezwungen
sei, Menschenmeinung und Satzung mit un‐
verdienter göttlicher Autorität zu umklei‐
den, ‒ ja er sah ein, daß auch jene Männer,
die einst das Wort des Evangeliums zur allei‐
nigen Grundlage des Glaubens machten, viel‐
fachem Irrtum erlegen waren, da auch
sie die alten Berichte nur in der Formung
kannten, die ihnen bereits in den Anfangs‐
zeiten des Christentums gegeben worden
waren, um allerlei Lehrmeinung dadurch zu
stützen.
.So manches liebgewordene Herrenwort
hatte neuere Textprüfung mit aller Sicher‐
heit als späteres Einschiebsel erkennen ge‐
lehrt, und die Fülle der Wunder war unter
der spürenden Sonde des Forschers zu from‐
mer Sage geworden.
.Eine nagende Seelenqual hatte das Herz
des jungen Geistlichen erfüllt, als er endlich
sah, daß er nicht mehr imstande sei, den
Glauben seiner Väter mit Überzeugung zu
verkünden.
.In solcher seelischer Not hatte er sich sei‐
nem geistlichen Vorgesetzten offenbart, der
zwar mit liebevollem Verständnis alles ver‐
suchte, um ihn trotzdem beim Amte zu hal‐
ten, aber mit seinen Gründen in keiner Weise
die Gewissensbedenken zu beschwichtigen
vermochte, die in dem jungen Prediger längst
den Entschluß gezeitigt hatten, seinem einst
mit so großer Freudigkeit erstrebten Berufe
zu entsagen.
.Unfaßbar schwer wurde es, diesen Ent‐
schluß den betagten Eltern mitzuteilen, aber
wider Erwarten fand sich hier alles Verste‐
hen, so daß es ihm mit Hilfe des Vaters mög‐
lich wurde, auf seiner Begabung zur Mathe‐
matik ein neues Studium aufzubauen, das
ihn nach seiner Beendung nun kürzlich mit‐
ten in das Getriebe eines großen technischen
Unternehmens versetzte, allwo er in Zukunft
sein Betätigungsfeld finden sollte.
.Bevor er den nun errungenen Beruf an‐
trat, hatte ihm sein Vater ‒ die Mutter war
ihm sogleich nach dem Beginn des neuen
Studiums durch den Tod entrissen worden ‒
einen lange gehegten Lieblingswunsch er‐
füllt: hatte ihm die Mittel zu einer Reise in
den Orient bereitgestellt, so daß er noch ein
halbes Jahr hindurch die Wunder südlicherer
Breiten beglückten Auges schauen durfte,
zumal der neue Wirkungskreis auch nicht
eher offen stand.
.Jetzt aber hatte er seine erste Ferien‐
zeit, die ziemlich reichlich bemessen war,
zu verleben, und was war natürlicher, als daß
er der Sehnsucht nach dem Süden folgte, die
ihn mit den beiden älteren, gelehrten Freun‐
den, denen er an dem neuen Orte seines Wir‐
kens sich genähert hatte, nach Italien brachte.
.Einiges, was er so erzählte, war den Zu‐
hörenden bereits bekannt, anderes wieder
neu, aber er glaubte den kurzen Abriß seines
Lebens nicht entbehren zu können, damit
man das Folgende einzureihen wisse.
.Nach einigen Zwischenfragen der älteren
Freunde fuhr er dann fort:
.„Ich habe mit Absicht in dieser Skizzie‐
rung meines Lebenslaufes
dessen bisher
noch nicht erwähnt, was Sie doch vor allem
von mir hören wollen, denn nun erst kann
ich Ihnen im Zusammenhange schildern, wie
das in mein Leben trat und sich weiter aus‐
wirkte, dem ich heute alle Sicherheit der
Seele danke, nachdem es mich einst zuerst
erreichte in einem Zustand wahrer seelischer
Verwüstung, der mir nichts übrig gelassen
hatte, als den Glauben an eine 'Wirklich‐
keit', die man messen, wägen, errechnen
und schließlich mit den Händen betasten
kann.
.So hören Sie nun!
*
.Es war in jener großen Stadt, in der ich,
seelisch zerrüttet, ja an aller geistigen Er‐
kenntnismöglichkeit verzweifelnd, nun aufs
neue zu studieren begann und alle Energie
aufzubieten hatte, um bei solcher Seelenver‐
fassung den Anforderungen meines Studiums
zu genügen und mich von den so weitaus
jüngeren Kommilitonen nicht beschämen zu
lassen.
.Ich hatte in ziemlicher Nähe des Polytech‐
nikums ein Zimmer gefunden, und da ich es
vorerst fast nicht ertrug unter Menschen zu
sein, so suchte ich stets auf dem schnellsten
Wege aus den Vorlesungen in den Bereich
meiner vier Wände zu gelangen, und die be‐
rühmten Sehenswürdigkeiten der Stadt wa‐
ren für mich so gut wie nicht vorhanden.
.Längere Zeit schon hatte ich mich dieser
selbstgewählten Gefangenschaft ergeben und
mich dabei leidlich wohl befunden, als mich
doch an einem warmen, schönen Sommer‐
abend die Lust befing, eine nicht allzuweit
gelegene, große Parkanlage aufzusuchen, wo
ich von diesem ersten Durchbrechen meiner
Abgeschiedenheit an, dann auch fast jeden
Abend zu finden war und bald alle die ver‐
schlungenen Wege kannte, die schließlich,
an Wasserläufen entlang, an kleinen Seen
vorbei, über Brücken und Stege allmählich
aus der gepflegten Parklandschaft hinaus ins
Freie führten, in eine rechte Wald- und Wie‐
senwildnis, wo man sicher war, keinem le‐
benden Wesen zu begegnen, außer zuweilen
einem flüchtenden Reh, das den Weg kreuzte,
oder einem aus dem Buschwerk aufge‐
scheuchten Fasan, der mit seinem surrenden
Auffliegen den einsamen Spaziergänger oft
unvermutet aus der Ruhe schreckte.
.Eines Abends aber bemerkte ich, daß ich
diesmal nicht allein diese Einsamkeit auf‐
gesucht hatte.
.Eine hohe dunkle Gestalt ‒ soweit man
gerade noch erkennen konnte, ein weißbär‐
tiger Alter ‒ schien, wie ich mich auch wen‐
den mochte, meinen Schritten in mäßiger
Entfernung zu folgen, und wenn ich auch
gewiß frei war von jeglicher Furcht vor ihm,
so war mir dieses Nachspüren doch durchaus
unerwünscht.
.Kurz entschlossen kehrte ich daher plötz‐
lich um, wandte mich meinem stillen Ver‐
folger entgegen, erreichte ihn, und wurde zu
meinem maßlosen Erstaunen unter Nennung
meines Namens begrüßt.
.Nicht wenig verwirrt, erwiderte ich den
Gruß und gab zugleich meiner Verwunde‐
rung Ausdruck, denn der vor mir Stehende
war mir völlig unbekannt und ich erinnerte
mich nicht, diesem gütigen, schönen Greisen‐
antlitz von tief gebräunter Hautfarbe und die‐
sen durchdringenden dunklen Augen, die in
der Dämmerung fast zu leuchten schienen,
jemals irgendwo begegnet zu sein.
.Irgend etwas ließ es mich geradezu beschä‐
mend empfinden, daß mir vordem die stete
Verfolgung durch den Alten so unsympa‐
thisch gewesen war und ich mit recht wenig
liebevollen Gedanken ihn zu allen Teufeln
gewünscht hatte.
.Meiner verwunderten Frage aber folgte
die Antwort:
.'Ich glaube Ihnen gerne, daß Sie mich
noch niemals gesehen haben, aber wie sich
Ihnen jetzt zeigt, sind Sie mir trotzdem nicht
unbekannt, und wenn Sie noch mehr Beweise
wollen, sollen sie Ihnen werden!'
*
.Der Alte wurde mir unheimlich...
.Alsbald aber nahm er wieder seine Rede
auf und sagte:
.'Wie ich sah, wollten Sie doch eben nach
der Stadt zurückkehren, und wenn Sie es er‐
lauben, möchte ich Sie begleiten?
.Ich habe Ihnen einiges zu sagen und bitte
um Vergebung, wenn ich Sie durch mein be‐
harrliches Nachschreiten auf Ihren Wegen
beunruhigt haben sollte!'
*
.Der Ton dieser Stimme, wie die ganze Art
in der die Entschuldigung vorgebracht
wurde, waren derart entwaffnend, daß mir
die Regung zu einem brüsken Abbrechen des
Gespräches, die einen Augenblick lang in
mir sich aufbäumen wollte, alsbald verging
und ich ‒ ganz als ob es das Natürlichste
von der Welt wäre ‒ dem Vorschlag zu‐
stimmte.
.Aber was konnte dieser seltsame alte Mann
mir nur zu sagen haben??
.Allerlei Vermutungen schwirrten mir
durch den Kopf, so, als ob er am Ende ein
Bekannter meines Vaters sein könne, oder
ein mir nur unbekannter Zuhörer meiner
früheren, vielbesuchten Predigten, denn in
der Stadt, in der ich hier war, kannte ich
außer meinen Studienkollegen und Profes‐
soren doch kaum einen Menschen und wußte
auch nichts von etwaigen Beziehungen mei‐
ner Familie, die hierher hätten führen kön‐
nen.
.Da fiel mir schließlich auf, daß zwar ich
mit meinem Namen angeredet worden war,
daß der Fremde es aber unterlassen hatte
sich vorzustellen, und so bat ich denn um
seinen Namen.
.Merkwürdig berührt aber war ich durch
die Antwort, die ich nun erhalten sollte!
.Der Fremde sprach:
.'Wenn Sie einen Namen brauchen, so nen‐
nen Sie mich wie Sie wollen, aber verzeihen
Sie vorerst, wenn ich Ihnen meinen Namen
nicht eher nenne, als bis Sie von mir gehört
haben, wer ‒ ich bin! ‒ '
*
.Ich wäre versucht gewesen, einen sonder‐
baren Spleen, eine Schrulle des Alters zu ver‐
muten, wenn diese Worte nicht mit einem so
eigenartig bedeutungsvollen Ausdruck mich
erreicht hätten, daß ich eher eine Art
Ehr‐
furcht empfinden mußte, obwohl ich mir
durchaus nicht klar werden konnte,
was
diese Empfindung eigentlich in mir begrün‐
den mochte.
.So schritt ich denn eine Weile stumm ne‐
ben meinem mysteriösen Begleiter dahin,
bis er selbst wieder zu reden begann und sich
also vernehmen ließ:
.'Sie waren bereits Seelsorger einer Ge‐
meinde frommen Glaubens, bevor Sie hier‐
her kamen, um aufs neue zu studieren, aber
Sie haben gut getan, Ihren damals schon er‐
reichten Beruf aufzugeben, denn ich werde
Ihnen beweisen können, daß Sie trotz aller
gut bestandenen theologischen Examina doch
herzlich wenig von dem wußten, über das Sie
andere belehren sollten, und daß Ihnen die
Wunder der Seele noch ein Buch mit sieben
Siegeln sind bis auf den heutigen Tag!'
*
.Er kennt mich also doch nur dem
Äuße‐
ren nach von der Predigerzeit her, dachte
ich mir, und war eigentlich recht wenig er‐
baut über diesen Vorstoß in medias res, zu
dem ich ihm kaum die Berechtigung gegeben
zu haben glaubte.
.Aber ehe ich noch ein Wort erwidern
konnte, fuhr er fort:
.'Unterlassen Sie lieber alle Kombinatio‐
nen, die Sie sich vielleicht zurechtlegen mö‐
gen, wenn Sie meine Vertrautheit mit Ihrem
Lebensschicksal gewahren!
.Sie werden sonst heute abend noch sich
überzeugen müssen, daß alle Ihre Vermutun‐
gen
irrig waren und daß es wirklich noch
Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, von
denen sich die Schulweisheit nichts träumen
läßt ‒ ‒ wenigstens die eurer westlichen
Lehrer nicht!! ‒ '
*
.Jetzt erst fiel mir der fremdländische Ak‐
zent in der Sprache des Fremden auf, und in
Verbindung mit diesem betonten Gegensatz
zu 'westlichem' Wissen, warf ich unwillkür‐
lich einen Seitenblick auf seine dunkle Haut‐
farbe.
.Er schien diesen Blick, den nur ein vages,
blitzartiges Empfinden verursacht hatte, so‐
fort bemerkt zu haben und sagte:
.'Sie dürfen mich tatsächlich nicht unter
den Menschen Ihres Landes unterbringen
wollen!
.Ich bin hier völlig fremd, und nur hierher‐
gekommen, weil ich einen
Auftrag auszu‐
führen habe, der ‒
Sie betrifft. ‒ ‒
.Ich komme vom Aufgang der Sonne her
und muß so schnell wie nur möglich wieder
zurückkehren.
.Es ist nur
Pflicht, die mich zu der mir
sonst wenig erfreulichen Reise nach Europa
bewog. ‒ '
*
.Jetzt wuchs mein Erstaunen ins Grenzen‐
lose und es hätte nicht der vorhergehenden
Mahnung bedurft, mir jede weitere Möglich‐
keit zu Vermutungen abzuschneiden.
.Was sollte denn nur um des Himmels Wil‐
len ein Orientale mir für einen 'Auftrag'
auszurichten haben?!
.Das war ja schon beinahe heller Wahn‐
sinn!
.Aber auch hier blieb mir keine Zeit zu wei‐
terem Nachdenken, denn der geheimnisvolle
Begleiter nahm wieder das Wort und
sprach:
.'Es sind Dinge, die ich Ihnen zu sagen
habe, von denen Sie noch nichts wissen kön‐
nen.
.Mäßigen Sie Ihr Erstaunen und hören Sie
mir ruhig zu!'
.Und dann erklärte er mir: er sei ein Glied
einer geistigen Gemeinschaft, die mitten in
Asien gleichsam ihren Hauptsitz habe, aber
ihre unsichtbaren Fäden über die ganze Erde
zu spinnen wisse und jeden Menschen er‐
reichen könne, der aus der tiefsten Inbrunst
seines Herzens heraus nach Gott suche. ‒
.Man wisse dort längst von mir auf geisti‐
gem Wege, und ich sei durch eine Art von
naturgegebener psychophysischer Begabung
dazu bestimmt, in eine ganz besonders nahe
Verbindung zu seiner Gemeinschaft zu tre‐
ten.
.Dann erzählte er mir geradezu meine
eigene Lebensgeschichte und ließ mich er‐
kennen, daß er beinahe mehr von mir wissen
mußte, als ich selbst, obwohl er in äußer‐
lichen Details dabei offenbar unsicher war,
aber um so sicherer seelische Momente ent‐
hüllte, die mir noch kaum selbst zu Bewußt‐
sein gekommen waren.
.Mich überlief es eiskalt und ich wäre am
liebsten entflohen, um nur zuerst wieder Herr
meiner eigenen Gedanken zu werden...
.Ich hörte da von Dingen, die mir so fremd
waren, daß ich sie kaum noch fassen konnte,
und zu gleicher Zeit wurde mir mein Inneres,
das ich vor aller Welt verborgen glaubte, in
solcher unbegreiflicher Klarheit gezeigt, wie
ich es selbst noch nicht gesehen hatte.
.Dabei ward mir das alles in einer so güti‐
gen und völlig ruhigen Weise gesagt, als sei
es die Unterweisung eines jahrelang bekann‐
ten Lehrers, und als handle es sich um die
allerselbstverständlichsten Angelegenheiten.
.Kaum wußte ich mehr ob ich träume oder
wache...
*
.Aber dem Alten entging nichts von mei‐
ner seelischen Erregung, und wie zur Beruhi‐
gung sagte er mir:
.'Halten Sie mich bitte nicht für allwissend,
wenn ich Ihnen da so manches aus Ihrem In‐
nenleben heraushole und aufzuhellen suche!
.Wenn ich auch vielleicht einiges weiß, was
nicht allen Menschen offenbar ist, so bleibt
mein Erkennen dessenungeachtet doch sehr
begrenzt.
.Sobald aber einer der Unseren einen der‐
artigen Auftrag empfängt, wie er mir Ihnen
gegenüber wurde, löst man ihm auch vorüber‐
gehend gewisse Fesseln der Wahrnehmungs‐
fähigkeit, und so ist es mir nun im Augen‐
blick möglich, mehr von Ihnen zu wissen
als mir normalerweise zu wissen gegeben
wäre. ‒ ‒
.Es ist das alles nichts Wunderbares!
.Was Ihnen dabei so seltsam erscheint, ist
ebenso natürlich begründet wie die Gesetze
der Mechanik, die Sie in Ihrem gegenwärti‐
gen Studium zu erforschen suchen!
.Wollen Sie bitte in mir nur einen Men‐
schen sehen, der Sie über Geistiges ebenso
zu belehren sucht, wie die Lehrer Ihrer Hoch‐
schule Sie in bezug auf rein irdische Ge‐
setzmäßigkeiten aufklären!
.In diesem, wie in unserem Falle gibt ein
Mensch nur das Wissen weiter, das er selbst
erworben hat, damit es einer erwerbe, der
danach verlangt...'
*
.Wie glättendes Öl auf sturmbewegte Wo‐
gen legten sich bei diesen Worten deutlich
wahrnehmbare sanfte Strahlen auf die erreg‐
ten Empfindungen meines Innern.
.Ich fand mich überraschenderweise als‐
bald zurecht in dem mir so neuen Vorstel‐
lungskreis, ‒ fragte, und fragte wieder, und
erhielt auf jede Frage eine Antwort, die mich
immer mehr in ihm befestigte. ‒ ‒
.Eine glühende, fast überirdisch zu nen‐
nende Verehrung und Liebe strömte aus mei‐
nem Innersten auf für diesen geheimnisvol‐
len alten Mann, so daß ich mich kaum noch
zurückhalten konnte, diesen Gefühlen den
deutlichsten Ausdruck zu geben... Am
liebsten hätte ich ihm beide Hände geküßt
vor Dankbarkeit, denn ich fühlte bereits,
daß er mir die völlige Erlösung aus der
Hölle meiner inneren Zerrissenheit brin‐
gen würde, ‒ daß er
allein sie bringen
konnte. ‒ ‒
*
.So waren wir allmählich der Stadt und
dem Ausgang des Parkes nahegekommen.
.Ich hatte nur den einen, sehnsüchtigen
Wunsch, daß der alte Mann bei mir bleiben
möchte.
.Aber als wir in die Helligkeit der ersten
Straßen eingetreten waren, hielt er plötzlich
an und meinte:
.'Für heute ist es genug!
.Erwägen Sie, was Sie heute hörten in Ihrem
Herzen und kommen Sie morgen zu jenem
kleinen Tempel am Eingang des Parkes, wenn
Sie danach verlangen sollten, mehr von mir
zu hören!
.Ich erwarte Sie zu der Stunde, in
der Sie gewöhnlich sich hier zu ergehen
pflegen!'
.Damit verabschiedete er sich und lenkte
seine Schritte nach einer Seitenstraße.
.Es kostete mich alle Überwindung, ihm
nicht heimlich zu folgen, aber irgend etwas
Unerklärliches hielt mich davon zurück.
*
.Ich weiß nicht, wie ich an diesem Abend
meine Wohnung erreichte. ‒
.Jedenfalls waren meine Augen wie erblin‐
det gegenüber allem, was mir auf dem Wege
dahin begegnen mochte.
.Zu Hause angelangt, schloß ich die Türe
und fiel der Länge nach auf meinen Ruhe‐
divan nieder, unfähig, auch nur die Lampe
anzuzünden.
.Hier war es mir nun, nachdem ich eine
zeitlang mit offenen Augen in das Dunkel
starrte und alles an meinem Geiste vorüber‐
ziehen ließ, was mir heute begegnet war, als
stünde plötzlich meine damals kürzlich ver‐
storbene Mutter neben mir und führte an
ihrer Hand den geheimnisvollen Alten zu
mir heran.
.Als Beide dicht an meinem Lager standen,
bat sie ihn, daß er mich segnen möge.
.Er hob die Hände über mein Haupt, und
während die Erscheinung einen Augenblick
so deutlich wurde, daß ich alles greifen zu
können glaubte, war sie im nächsten Moment
völlig verschwunden, so daß ich aufsprang
und mich umsah, wo die beiden Gestalten
hingekommen seien.
.Aber es war nichts mehr wahrzunehmen,
und so tastete ich denn nach der Lampe auf
meinem Schreibtisch, um sie anzuzünden.
.Das weiche, warme Licht schimmerte
längst durch die Milchglasglocke und erhellte
das kleine Zimmer, als ich immer noch ver‐
suchte, die Erscheinung durch eigene Wil‐
lensanstrengung aufs neue hervorzurufen, ‒
allein, es wollte nicht gelingen...
.Endlich gab ich die Versuche auf, und da
ich mich durch alles Erlebte über und über
ermüdet fühlte, beschloß ich früher als sonst
zu Bett zu gehen, löschte das Licht und ver‐
fiel in einen tiefen, völlig traumlosen Schlaf.
*
.Des anderen Tages schon sehr zeitig er‐
wacht, mußte ich mir erst langsam klar‐
machen, daß das Erlebnis des vorangegange‐
nen Abends wirklich kein Traum gewesen war.
.Ich fand mich immer mehr dann in einer
geradezu feierlichen Stimmung, und wenn
ich an diesem Tage mich mit besonderem
Eifer meinen Studien hingab, so geschah es
wahrhaftig nur, damit die Stunden schneller
verrinnen sollten, denn ich konnte kaum den
Abend erwarten, an dem ich den Alten hof‐
fentlich wiedersehen durfte. ‒
.Als ich ihn dann an dem bezeichneten
Treffpunkte endlich fand, wußte ich mich
vor Freude kaum soweit zu fassen, daß ich
ihm zum wenigsten in schicklicher Form vor
den dort häufigen Spaziergängern entgegen‐
treten konnte.
.Kaum waren wir nach einigen Schritten in
einen der weniger begangenen Seitenwege
eingebogen, als ich auch schon mein merk‐
würdiges und für mich damals so geheimnis‐
volles Erleben, das sich nach der Rückkehr
in meinen vier Wänden zugetragen hatte, mit
Erregung erzählte.
.Er hörte sehr ruhig zu, schien durchaus
nicht sonderlich beeindruckt und meinte nur:
.'Sie haben da im Bilde einen gewissen
geistigen Zusammenhang erkannt, denn die
Voraussetzungen, die es ermöglichen, daß
Sie mein Schüler werden können, haben Sie
tatsächlich Ihrer Mutter zu danken, in de‐
ren Ahnenreihe allmählich die physischen
Körperzellen jene Umwandlung erfahren
haben, durch die Sie aufnahmefähig zu wer‐
den vermögen für das praktische Erken‐
nen, dem ich Sie zuführen soll.
.Hüten Sie sich aber im allgemeinen vor
solchen Bildern, die ohne Ihren Willen und
Ihr Zutun sich aus Kräften gestalten, die
Ihnen innewohnen, und die Sie erst völlig
beherrschen lernen müssen, bevor Sie
sicher sein können, vor gröblichen Täuschun‐
gen bewahrt zu bleiben!
.Seien Sie vorerst froh, daß Sie dieses, aus
Ihnen selbst herausgetretene Bild wenigstens
diesmal nicht betrogen hat! ‒'
.Diese Erklärung wirkte natürlich auf mich
wie ein kalter Wasserstrahl. ‒ ‒
.Gerade weil mir vorher noch niemals der‐
artige Erscheinungen geworden waren, hatte
ich mich doch sehr versucht gefühlt, der
Sache eine große Bedeutung beizulegen; ja,
ich konnte mich von dem Gedanken nicht
losmachen, daß mein neuer Bekannter die
Vision verursacht haben müsse, indem er
bereits so auf mich eingewirkt habe, daß ich
fähig geworden sei, einen ersten, kurzen
Blick in eine der geistigen Regionen zu tun,
von denen er mir gesprochen hatte.
.Es gab nicht lange Zeit, mich meiner Ent‐
täuschung hinzugeben, denn mein Begleiter
fuhr fort:
.'Wenn ich Sie solchen Phantasmagorien
ausgeliefert sehen wollte, hätte ich mir die
weite Reise hierher zu Ihnen ersparen kön‐
nen und es wäre nicht nötig gewesen, daß
ich Sie im physischen Körper aufsuchte.
.„Seher” dieser Art gibt es gerade genug,
und nicht wenige unter ihnen glauben gar,
sie stünden mit uns Leuchtenden des Ur‐
lichts in Verbindung.
.Sie müssen aber wissen, daß es für uns ‒
trotzdem wir es auch anders ermöglichen
können, wo es nur vorzubereiten gilt ‒
bindendes Gesetz ist, denen, die unsere aus‐
drücklichen Schüler werden sollen, dann
auch in unserer physisch wahrnehmbaren
Gestalt zu nahen, die nicht anders beschaf‐
fen ist, als die anderer Menschen, während
wir denen, die nicht für diesen Weg be‐
stimmt sind, ‒ niemals irgendein sicht‐
bares Zeichen senden, sondern sie nur
durch geistige Ströme leiten, sofern
sie sich selbst für solche Leitung bereit
machen! ‒
.Sie werden mich zwar, nachdem ich längst
zurückgekehrt bin in meine irdische Heimat,
auch in einer Gestalt sehen, die nicht wie
dieser Leib hier und diese Kleidung, aus
irdischer Materie gewoben ist; ‒ allein
nicht eher werden Sie mich so erblicken, als
bis Sie jene Kräfte, die Visionen gleich dieser
am gestrigen Abend liefern, restlos be‐
zwungen haben. ‒
.Wäre es nötig gewesen, und hätten wir
Sie dazu fähig befunden, solches in Ruhe
hinzunehmen, so wäre ich Ihnen vielleicht
heute kein Fremder mehr, und Sie würden
mich in meiner Geistgestalt schon von
Kindheit an kennen; aber auch dann
hätte ich jetzt im äußeren Erdenleibe
zu Ihnen kommen müssen, nachdem Sie aus‐
ersehen sind, in reguläres geistiges
Schülerverhältnis zu mir zu treten.
.Da Sie aber nicht von Jugend auf an reale
geistige Gestaltung gewohnt sind, muß ich
Sie jetzt vor sich selber schützen, denn
Sie müssen nun erst lernen, wahrhaft Gei‐
stiges von Trugbildern zu unterscheiden.
.Wenn Sie also später vielleicht von „Er‐
scheinungen” da und dort hören sollten, die
plötzlich in das Leben eines Erwachsenen
treten und ihn betören wollen, daran zu
glauben, die erschienene Gestalt sei ein
„Guru”, der ihn als „Schüler” unterweisen
wolle, während der also Betrogene noch nicht
in die ersten Mysterien des Gebrauchs seiner
geistigen Kräfte eingeweiht wurde, so war‐
nen Sie, falls noch zu warnen ist, aber lassen
Sie sich nicht täuschen, auch wenn Ihnen von
den hochtönendsten Reden eines solchen
vermeintlich in geistiger Gestalt erblickten
scheinbaren „Guru” berichtet wird, oder gar
von eingetroffenen Prophezeiungen, die er
gegeben haben soll, und dergleichen
mehr! ‒
.Sie ahnen heute noch nicht, wie die Welt
erfüllt ist von dem dramatisierten Mum‐
menschanz der plastischen Phantasie
des Menschen und von einer zweiten, an‐
deren Art scheinbar „überirdischer” Er‐
scheinungen, die aus den umnachtetsten
Regionen der physisch gegebenen Erschei‐
nungswelt stammen, obwohl sie dem so Be‐
troffenen sich stets als „geistige” Wesen‐
heiten von zumindest auf menschlicher
Geistesstufe stehender Höhe auszuweisen su‐
chen! ‒
.Wenn einer mit seinem Hunde spielt und
ihn zu Kunststücken abrichtet, so hat er im‐
mer noch Besseres getan, als wenn er den
salbungsvollsten Offenbarungen solcher ver‐
meintlicher „Geister” lauscht, oder sich ihre
oft staunenerregenden Eingriffe in das ge‐
setzmäßig normale physikalische Geschehen
vordemonstrieren läßt, die frevelhaft und
verworfen zu nennen wären, hätten ihre Ver‐
ursacher auch nur das leiseste Verantwor‐
tungsbewußtsein bei solcher Manifestation!
.Nicht von außen her und als Erweiterung
des Wahrnehmungsbereiches Ihrer physi‐
schen Sinne, werden sich Ihnen die geisti‐
gen Welten erschließen!
.In Ihrem allerinnersten Innern sollen
Sie durch geistige Kraftübertragung
gewandelt werden, bis Sie ‒ falls es Ihr
physischer Organismus erlaubt ‒ bei
wachen irdischen Sinnen fähig sind,
sich, wie einer der Weisesten Ihres Glaubens
sagt: zu dem siebenten der Himmel zu er‐
heben!!
.Ob Sie soweit gelangen werden wie jener,
kann auch ich nicht wissen; aber wie immer
auch Ihre ererbte Physis der geforderten Um‐
wandlung gegenüber sich verhalten mag, so
werden Ihnen doch Einblicke werden in eine
Welt des Geistes, von der Sie auch in Ihren
kühnsten Träumen und in der tiefsten reli‐
giösen Versenkung noch nichts ahnten! ‒'
*
.Während dieser Worte war es mir, als
wolle sich in meinem Innern eine geheime
Kammer öffnen, in der ich einen unerhörten
Schatz finden solle, ‒ aber da war auch zu‐
gleich etwas, das sich mit gewaltigem Wider‐
stand vor die Pforte stemmte und um keinen
Preis auch nur einen Spalt breit die Öffnung
zugeben wollte. ‒ ‒
.Vielleicht wäre dieser Widerstand gerin‐
ger gewesen, wenn ihm nicht auch noch alle
erdenklichen
theologischen Einwände
sehr den Rücken gestärkt hätten? ‒
.Ich war eben doch noch durchaus nicht
frei von früheren Vorstellungen und konnte
mich noch nicht lösen von der Methode, die
man mich einst gelehrt hatte, um meine da‐
malige Glaubensmeinung den Angriffen Un‐
gläubiger gegenüber verteidigen zu kön‐
nen...
.So suchte ich denn nach Art der Schach‐
spieler den vernichtenden Gegenzug, um den
Sprechenden vielleicht 'matt' zu setzen; aber
trotzdem ich mein Gehirn nicht wenig durch‐
wühlte, wollte mir kein aussichtsreicher Zug
einfallen.
.Endlich klammerte ich mich an die mir
etwas erstaunlich erschienene Erwähnung
des Mannes, den ich als eine Grundsäule des
Christentums zu betrachten gewohnt war
und dessen apostolische Briefe mir einst so
manchen Text zu meinen Predigten geliefert
hatten.
.Das vorher Gehörte hatte für meine Ohren
recht wenig 'christlich' geklungen und so gab
ich meinem Erstaunen Worte, daß hier auf
einmal ein Mitbegründer des Christentums
quasi als 'Schüler' der geheimnisvollen Ge‐
meinschaft angeführt wurde, der mein Be‐
gleiter zuzugehören behauptete.
.Es erschien mir geradezu wie eine verbre‐
cherische Anmaßung, auch nur eine Sekunde
lang den Gedanken ernsthaft zu erwägen,
dieser größte der Apostel des Christentums
könne seine Erleuchtung einer Einwirkung
zu danken haben, der ähnlich, der ich mich
hier nun überlassen sollte, und wäre so
gleichsam als mein früherer Mitschüler zu
betrachten. ‒
.Ich hielt mit meinen Empfindungen kei‐
neswegs zurück und redete mich in einen
solchen Eifer hinein, als wäre ich noch in
kirchlichem Amte und es gälte hier, einen
Widersacher meines ‒ ach, längst so brüchig
und morsch gewordenen früheren Glaubens
aus dem Felde zu schlagen.
*
.Mein Begleiter aber hörte mir ruhig zu
und schwieg auch noch längere Zeit nach‐
dem ich geendet hatte, so daß ich schon mei‐
nes Sieges nun gewiß zu sein glaubte.
.Dann aber begann er:
.'Ferne sei es von mir, die so glühende Ver‐
ehrung für diesen Weisen Ihres Glaubens aus
Ihrem Herzen zu reißen!
.Dagegen danke ich Ihnen, daß Sie mir nun
meine Aufgabe so sehr erleichtert haben,
denn hier gaben Sie mir selbst ein Ende des
Fadens in die Hand, dessen wunderliche Ver‐
schlingungen erst völlig entwirrt sein müs‐
sen, bevor ich Ihnen eine Kraft der Einsicht
übertragen darf, zu der Sie gelangen können,
wenn Sie erkannt haben werden, daß nur
menschlicher Übereifer die Schlingen
knüpfte, in denen Sie sich soeben erst wieder
verfangen haben! ‒ ‒
.Eigentlich weiß ich nicht, ob ich mehr
Ihre Vertrautheit mit den Schriften des von
Ihnen Verehrten bewundern muß, oder ob
ich erstaunen soll, daß Sie trotz dieser Ver‐
trautheit nicht zu sehen vermögen, was diese
Schriften, bei aller Ornamentierung durch
spätere Zutat, noch mit leidlicher Klarheit
enthüllen?!
.Weshalb wollen Sie nur mit allem Auf‐
gebot Ihrer Dialektik diesen großen, wenn
auch in manchen Befangenheiten seiner
Glaubensmeinung, seiner Zeit und seines
Volkes noch gebundenen Mann so gar weit
von der gleichen Erde entfernen, die ihm
nicht minder einst seine Färbung gab, wie
sie Ihnen heute die Ihre gibt?! ‒
.Lesen Sie doch nur wachen Geistes und
ohne Voreingenommenheit, was er in seinen
Sendbriefen schreibt, soweit es noch unter
den späteren, immerhin kenntlichen Über‐
arbeitungen zutage tritt, und Sie werden
deutlich sehen, daß es ihm sehr ähnlich er‐
ging, wie Ihnen selbst! ‒ ‒
.Sein „Damaskus” werden Sie allerdings in
einem etwas einfacheren Sinne deuten
müssen, als dies den späteren Bearbeitern, die
da ein dramatisches Ereignis einfügen zu
müssen glaubten, gut schien! ‒
.Sie wissen doch bereits, daß in allen Le‐
genden großer Menschen die „Stimmen vom
Himmel” und andere geräuschvolle Eingriffe
aus den Wolken her, zur notwendig erachte‐
ten Szenerie gehörten, und so werden Sie
vielleicht auch bei einiger Überlegung hier
die gleiche Technik erkennen?! ‒
.Schalten Sie aber einmal all diese künst‐
lichen Beleuchtungseffekte aus, dann bleibt
ein Mann, der mit Feuereifer für seine Glau‐
bensmeinung tätig war, bis er eines Tages
von einem ‒ wie es heißt: ‒ „gerechten”
Manne in der Stadt Damaskus hörte, den er
aufzusuchen sich auf den Weg machte, weil
er endlich doch durch Zweifel hart bedrängt,
wie blind geworden war und keinen Ausweg
mehr fand. ‒
.Bei jenem Manne aber verweilte er lange
‒ und bei ihm fand er, ‒ was auch ich
Ihnen zu bringen beauftragt bin...
.Als er es erhalten hatte, kam er zu denen,
die sich mit nur äußerem Rechte die
Schüler eines der Unseren nannten, und
nun wird sein Leben wahrlich nicht leicht,
denn was er „geistlich gerichtet” er‐
kannte, wollten jene, gebunden in allzu‐
irdische Enge, auf ihre Weise verstandes‐
mäßig deuten.
.Während er sehr deutlich unterschied
zwischen „Gott”, den er an den echten Stel‐
len seiner Briefe als „Gott, unseren Hei‐
land” bezeichnet, ‒ dem Gesalbten Got‐
tes: Jesus, den er „nicht mehr dem
Fleische nach” erkannt wissen will, und
drittens: dem „Vater” des hohen Meisters
Jehoschuah, von dem er sehr wohl wußte,
daß er gewiß nicht schlichthin mit „Gott”
gleichzusetzen war, haben Spätere seine
Worte verfälscht, als sie nicht mehr recht
passen wollten in das Lehrgebäude, das man
mit Hilfe von allerlei alten Tempeltrüm‐
mern, auf dem Fundament der Lehre des
Nazareners, nach eigener Kunstregel auf‐
gerichtet hatte. ‒ ‒ ‒
.Er selbst schon warnte vor diesen Spä‐
teren: ‒ „denn es wird eine Zeit kom‐
men, da sie die gesunde Lehre nicht
ertragen, sondern nach ihren eigenen
Wünschen sich Lehrer über Lehrer
heranziehen werden, ihre Ohren zu
kitzeln: und von der Wahrheit wer‐
den sie das Gehör abwenden, um
sich zu erfundenen Fabeln zu keh‐
ren.”
.Aber ich bin nicht hierher zu Ihnen ge‐
kommen, um Ihnen jetzt die Widersprüche
Ihrer durch unzählige klügelnde Abschrei‐
ber schon gleich nach dem Entstehen so arg
entstellten heiligen Schriften aufzuzeigen,
aus denen heute jeder herauslesen kann, was
er herauszulesen gerade für gut finden mag...
.Ich möchte nur Ihre Augen öffnen für die
Spur der Wahrheit, die trotz allem noch
in diesen Schriften auffindbar bleibt, oft
sehr gegen den Willen dieser frühen Ver‐
fälscher, deren jeder wohl glauben mochte,
er habe seine Arbeit so gründlich besorgt,
daß seine Korrekturen nichts mehr von der
ihm unverständlichen, aber nun einmal
durch die Namen der Autoren geheiligten
Urschrift übrig gelassen hätten. ‒ ‒
.Befreien Sie sich von der Auslegungsart,
die man Sie lehrte und lesen Sie
unbefan‐
gen was heute vorliegt, immer im Auge be‐
haltend, daß hier so manche geschäftige Fin‐
ger tätig waren, die Fäden zu verwirren, und
ich bin sicher, daß es Ihnen gelingen wird,
die
ursprüngliche Lesart soweit wieder
herzustellen, daß jeder Widerspruch schwin‐
det, auch wenn die Zeugnisse zeitlicher
Blickbeengung auch der
wirklichen Au‐
toren bestehen bleiben! ‒'
*
.So gab nun ein Wort das andere und es
wurden mir am selben Abend noch Auf‐
schlüsse zuteil, die ich, ‒ durch eine rein
historische Textkritik völlig in Rationalis‐
mus versunken, ‒ längst nicht mehr ge‐
sucht, geschweige erwartet hätte. ‒ ‒
.Wahrhaftig: man
hatte 'die Schlüssel
des Himmelreichs', aber man wußte die
Pforte nicht mehr zu
öffnen, und
wehrte
‒ um dies nicht gestehen zu müssen ‒ allen,
die
selbst die Schlüssel an der Pforte ver‐
suchen wollten! ‒ ‒
.In tiefster innerer Erschütterung schied
ich an jenem Abend von dem neuen Lehrer,
und wohl die halbe Nacht noch saß ich zu
Hause vor Bibeltexten, um in der Art, die er
mir angeraten hatte, tatsächlich immer tie‐
fer in den
ursprünglichen Geist dieser
Schriften einzudringen.
*
.So reihten sich nun Abend für Abend die
Belehrungen aneinander, die ich an der Seite
des seltsamen Alten durch ihn empfing.
.Er selbst wohnte, wie ich erfahren hatte,
unter einem nichtssagenden europäischen
Familiennamen, in einem der ersten Hotels
der Stadt; aber während er mich niemals
zu sich eingeladen hatte, fand ich ihn sicht‐
lich sehr bereit, zu mir in mein Zimmer zu
kommen, und hier vollzog sich dann die
Vollendung dessen, zu dem die Belehrungen
unserer Spazierwege in freier Natur den
Grund gelegt hatten. ‒
.Ich ward in aller Form sein 'Chela' und er
fand mich geeignet, in mir Fähigkeiten zu
wecken, die sonst, auch in solchem vertrau‐
ten Verhältnis des Schülers zu seinem geisti‐
gen Lehrer, gewöhnlich dem Chela vorent‐
halten werden müssen, da nur äußerst sel‐
ten die psychophysischen Vorbedingungen
dazu bei einem Menschen der westlichen
Welt zu finden sind...
.Dank dieser in mir erweckten Fähigkeiten
genieße ich das hohe Glück, auch heute noch,
jederzeit in bewußte geistige Verbin‐
dung mit meinem Guru treten zu können,
obwohl er im Innern Asiens lebt, tausende
von Meilen von mir getrennt, ‒ ein Glück,
das sonst nur den Seltenen wird, die selbst
zur Vereinigung mit dem Kreise dieser
Leuchtenden geboren sind, zu denen aber
ich keineswegs gehöre und nie gehören kann,
da man in seiner Geistnatur, Jahrtausende
vor der Geburt als Mensch der Erde,
sich aus freien Stücken dieser geistigen Ge‐
meinschaft unlöslich dargeboten haben muß,
um dann hier auf Erden ihrem Kreise zu‐
gefügt zu werden. ‒ ‒
.Das ist so in Kürze das Wesentlichste, was
ich Ihnen auf die Frage sagen kann: wie ich
wohl selbst mit den Dingen bekannt ge‐
worden sei, mit denen Sie mich vertraut
finden.
.Ich glaube aber, es wird Zeit sein, unsere
Unterredung für heute zu beenden! Man
hört schon keinen Laut mehr aus dem In‐
nern des Hauses, und der Südländer pflegt
die Nachtstunden dem Schlafe zu widmen.”
*
.Der Mond war längst schon hinter der
Kirchensilhouette aufgestiegen, blieb dann
auf seiner Bahn für kurze Zeit hinter dem
Glockenturm verhüllt und stand nun, bereits
erheblich kleiner, in eisigkaltem, weißem
Licht, hoch über der Zypressengruppe, deren
schwarzes Dunkel seine Strahlen durch einen
zarten bläulichen Schimmer hellten, der den
ganzen Garten wie ein leichter Nebel deckte.
.Die zahllosen Sterne hatten fast allen
Glanz in der Helle des Mondlichts verloren,
aber es schien, als seien sie dadurch nur noch
ferner und geheimnisreicher geworden.
.Nachdem der Sprechende geendet hatte,
wurde man erst so recht der tiefen Stille
gewahr, die das Bewußtsein weckte für die
späte Stunde, in der man hier immer noch
beisammen saß, während das abendlich laute
Leben der südlichen Stadt längst wie be‐
graben lag.
.So fanden sich denn die Freunde auch als‐
bald beim Aufbruch, und als der Came‐
riere, der sie hinausgeleitet hatte, hinter
ihnen das Licht verlöschte, schien es auch
ihm an der Zeit, daß die Fremden doch end‐
lich sich zum Gehen entschlossen hatten.
.Als wollten sie Geheimnis hüten, füllten
die Schatten der hohen Häuserwände die
dunklen Gassen, bis dann und wann ein
schmaler Lichtstreif des Mondscheins, über‐
hell und scharf, die Finsternis durchschnitt.
.Die Schritte der drei Heimkehrenden
hallten allzulaut und weckten Echo.
.Man sprach aber fast kein Wort mehr,
denn man fühlte, daß erfaßt sein wollte, was
man an diesem Abend aufgenommen hatte,
und daß erst eine andere Stunde, nach durch‐
schlafener Nacht, die Lust zum Reden wie‐
derbringen könne. ‒ ‒
SEIT jenem Abend im Garten der Trat‐
toria hatten die Freunde gar oft Gelegen‐
heit gefunden sich auszusprechen, und im‐
mer vertrauter sahen die beiden älteren sich
in der Geisteswelt ihres jüngeren Gefährten.
.Der Weg der Reise, den man sich ohne
Zwang erwählen konnte, führte sie stets mehr
nach Süden, und so manches Schöne war
ihnen seither begegnet.
.Aber endlich sehnten sie sich doch aus
dem Lärm der Städte und ihrer Überfülle
der Werke hoher Kunst, so daß man nun
übereingekommen war, auf einem Felsen‐
eiland, das gleichsam wie ein Wächter vor
dem weiten Golfe einer der lärmendsten
Städte des Südens aus dem Meere wächst,
für einige Tage noch der
Ruhe zu leben.
*
.Ein wunderlicher Zufall wollte, daß man
das kleine Schiff der Reisenden mit Böller‐
schüssen zu empfangen schien.
.Man feierte das Fest des Heiligen der In‐
sel, und wenn auch erst am Tag darauf die
eigentliche Feier war, so kannte doch die
Festesfreude keine Grenzen, und die ganze
Nacht vor seinem hohen Tage konnte man
sich leicht in einer stark vom Feind bedroh‐
ten Festung wähnen: also donnerten in
einemfort die Freudenschüsse.
.Es war nicht viel an Schlaf zu denken in
dieser Nacht und die drei Fremden arg‐
wöhnten schon, auch hier die Ruhe nicht zu
finden, die sie suchten.
.Als aber des anderen Tages die große Se‐
gensprozession des Heiligen, die seinen Ver‐
ehrern erneut willkommenen Anlaß bot,
ihrer Frömmigkeit so lärmenden Ausdruck
zu geben, unter den alten Gesängen, im Re‐
gen der Rosenblätter, die man dem silber‐
nen Bildnis zuwarf, endlich vorübergezogen
war, fand es sich doch, daß die Freunde stau‐
nend, und eher als erwartet, die köstlichste
Stille genießen konnten.
*
.Jenseits der kleinen Stadt, die der Insel
Höhensattel krönt, schritten sie nun in blen‐
dendem Lichte dahin zwischen Ölbäumen
und Zitronengärten, Weingeländen und blu‐
menreichen Hängen, den Duft des Südens
atmend und berauscht von all der Farbe, die
sich ihrem Auge bot.
.Der Ölbaum stand allenthalben in voller
Blüte, während die Zitrone in strotzender
Reife eine Größe erreichte, wie sie die Rei‐
senden bisher noch nicht gesehen hatten.
.Es war kaum zu fassen, woher der Boden
die Kraft zu nehmen wußte, die Rosenfülle
und die schwere Bürde der Glyzinien her‐
vorzubringen, die hier über alle Mauern
rankte!
.So kam man allmählich dem jäheren Ab‐
hang nahe, der in bunter, blütenüberschütte‐
ter Wildnis, zwischen schroffen Felsenklip‐
pen sich zum Meere senkte, das in leuchtend‐
stem Kobaltblau sich allmählich der glän‐
zenden Ferne einte, während zunächst den
Ufern hell smaragdgrüne, kleine Golfe an
die Felsenwände schlossen.
.Wo aber der Meeressand eine seichtere
Stelle schuf, dort hoben sich Wunderseen
empor, gleich rundgerandeten Flächen flüs‐
siger Türkise.
.In solcher Zauberwelt hatte man schmale
Fußpfade betreten, die über lockeres Geröll
hinab zum Strande führten, aber noch auf
halber Höhe war das nahe Ruheziel erreicht:
‒ jene alte Mithrasgrotte, in der einst
vor Jahrtausenden der Sonne göttliche Ehre
wurde; in der zur Zeit der Frühlingssonnen‐
wende geheiligte Mysterien die Mysten
weihten, die in sieben Graden, und von
Läuterung zu Läuterung stets schwererem
Gebot gehorchend, hier sich ihrem Gotte
einten, als dessen Abbild ihnen der lichte
Lebensspender: das die Erde bestrahlende
Gestirn des Tages galt.
.Auf „hohem Berge” wohnte nach ihrer
Lehre zugleich auch auf dieser Erde das
Licht, das da in geheimnisvoller Felsengrotte
sich den Herzen offenbarte und jeden zu er‐
reichen wußte, der den Mut besaß, die Prü‐
fung zu bestehen, und der in seiner Seele die
Symbole fühlend in sich selbst zu deuten fä‐
hig war, die weise Priester seinen Augen
zeigten. ‒ ‒ ‒
*
.Die drei Freunde traten ein in dieses kühle
Heiligtum, und da jeder der Drei wohl wußte,
wie ungleich gottesnäher das einst hier ge‐
übte „Heidentum” sich fand, als mancher
spätere, dem einen, wahren Gotte selbst‐
gefällig nur
allein als „angenehm” ge‐
glaubte Kult, so ließen sie willig ihre Seelen
von dem Geheimnis ergreifen, das hier den
Felsenwänden zu entströmen schien, die
längst nur noch in schwachen Spuren zeig‐
ten, daß ehemals die Kunst der Wissenden
sie reich umkleidet hatte. ‒
*
.Man mochte sich geraume Zeit bereits hier
so mancher Empfindung hingegeben haben,
bevor der älteste der Freunde die Stille brach
und meinte:
.„Es ist doch sonderbar, daß diese Men‐
schen, denen Gott im
Lichte sich bezeugte,
Grotten
im Gestein der Erde wählten,
die
Mysterien zu feiern, aus denen ihnen
Lichterkenntnis werden sollte, und daß sie
nicht statt dessen draußen in des Sonnen‐
lichtes Fülle ihre Liturgien übten! ‒”
.Doch während man unwillkürlich ‒ als
dürfe hier an der Stätte, die einst nur hei‐
ligste Erkenntnisworte und geheime Hym‐
nen hörte, kein profanes Wort gesprochen
werden ‒ zum Ausgang kehrte, um unter
schattigem Gesträuch sich Ruhesitze auszu‐
wählen, nahm der Jüngste der Drei das Wort
und sprach:
.„
Die
Erde ist es, der wir dem Leibe nach
entstammen, und in den Schoß der Erde
müssen wir uns ‒ sei es nur im Fühlen, oder
so wie diese Mysten es auch äußerlich zu tun
für richtig hielten ‒ vorerst bergen, bevor
wir '
neu geboren' werden können...
.Nicht umsonst wurden die Mysterien der
Alten, je heiliger sie ihnen schienen, fast
stets in
Krypten und
Felsengrotten be‐
gangen, und selbst die
Weihetempel, de‐
ren Säulenwald den Heutigen unverständlich
scheint, wurden noch symbolisch als In‐
nenräume der Erde empfunden. ‒ ‒ ‒
.Im Innern der Erde wird jedes Gebäude
verankert, und je höher es sich erheben soll,
desto tiefer müssen seine Fundamente rei‐
chen! ‒
.So müssen auch wir: soll der Tempel, der
wir selber sind, mit seiner Kuppel in das
Reich des reinen Geistes ragen, den Grund‐
stein im Innern der Erde legen, damit
er dort verankert ruht, während wir Bau‐
stein auf Baustein fügen, nach einem Plan,
der in uns selbst sich offenbart.
.Wollen wir anders handeln und auf der
Erde Oberfläche uns zu erbauen erküh‐
nen, so gleichen wir nur zu sehr jenen Frev‐
lern der Sage vom 'Tempel zu Babylon',
der in sich selbst zerfiel, da die bauenden
Kräfte sich nicht mehr zu verstehen wuß‐
ten...
.Zwar mag man glauben, auch auf dem
Oberflächengrund der äußeren Er‐
kenntnis, den uns irdisches Wähnen und
Meinen gibt, einen Tempelturm errichten
zu können, der in den Himmel ragt, aber
wer da in solcher törichter Weise baut, dem
halten
die wahren Meister der geisti‐
gen Baukunst sich
fern, und er ist nur
auf
Erdenkräfte niederer Art ver‐
wiesen, die ihm zwar für lange Zeit als schein‐
bar tüchtige Bauleute dienen; aber ist die
höchste Höhe dann erreicht die ihre Kraft
noch beherrschen kann, dann wird '
ihre
Sprache verwirrt', so daß sie
zerstören
müssen, was sie vordem schufen......
*
.In einer
Hirtenhöhle ward nach alter
Sage
der geboren, den sie 'Erlöser' nen‐
nen! ‒ ‒
.Aus einem
Felsengrabe ward ihm nach
gleicher Kunde seine Auferstehung! ‒ ‒ ‒
.Lassen Sie ruhig hier einmal alles 'Histo‐
rische' beiseite und betrachten Sie nur den
tiefen
Symbolgehalt, der solchen Worten
innewohnt und ‒ richtig verstanden ‒ aus
der Sage
ein Gefäß der erhabensten
Wahrheit macht! ‒ ‒
.Wer nicht, wie der hohe Meister, von dem
hier die Rede ist,
in tiefster Erde ankert,
der wird gewiß nicht wie er '
in den Him‐
mel aufgenommen'! ‒ ‒ ‒
*
.Unser eigener Leib ist letzten Endes
für den Geist die
Höhle der Erlösung;
ist die '
Erde', in deren innerste Tiefen wir
erst hinabsteigen müssen, um in ihnen den
Grund zu legen, der unseren geistigen Tem‐
pelbau tragen kann. ‒
.Die meisten aber möchten ihren geistigen
Tempel erbauen, indem sie ‒ noch törichter
als jene sagenhaften Erbauer des Turmes zu
Babylon ‒ zuerst die
Kuppel zu wölben
versuchen, und sind dann gar sehr betroffen,
wenn ihr Werk alsbald in sich selbst zusam‐
menstürzen muß. ‒
.Sie fangen im
Kopfe an und wölben
kühne Gedankenbogen, bevor sie im
Inner‐
sten des Leibes,
mit allen Fasern füh‐
lend, fest zu verankern wußten, was die
Kuppel
stützen und
tragen könnte! ‒
*
.Das
Herz ist der Mittelpunkt des körper‐
lichen Lebens, und wenn es zu schlagen auf‐
hört, hat dieses Körpers Leben sein Ende
gefunden.
.Aber es ist durchaus nicht nur
poeti‐
sches Bild, wenn dem Herzen auch in be‐
zug auf
seelisches Fühlen und Erleben, bei
allen Völkern und zu allen Zeiten die bedeut‐
samste Wertung wird! ‒ ‒
.Gewiß kann kein Anatom im Herzen des
Körpers jemals die
Seele finden; aber
alle
unsere körperlichen Organe entspre‐
chen korrelativen seelisch-
geistigen
Organen, und wenn nun in geistiger Bedeu‐
tung vom 'Herzen' gesprochen wird, so ist
nur vom Herzen des
geistigen Organismus
die Rede, dessen Regungen jedoch zum Her‐
zen des Körpers ‒ während des Erdenda‐
seins ‒ in steter Wechselbeziehung sind: so
daß gleichsam das Herz des Erdenleibes den
Resonanzboden bildet, durch dessen ver‐
stärkende Wirkung uns Menschen alles see‐
lisch-geistige Erleben mit größtmöglichster
Klarheit zu Bewußtsein kommt. ‒ ‒
.Auch das Tier hat ja die gleichen Kör‐
perorgane, aber es fehlt ihm der gei‐
stige Organismus, der ihnen entspräche,
und was man so gemeinhin die 'Seele' des
Tieres nennen kann, ist nichts anderes als
der Gesamtkomplex seiner feineren
fluidischen Körperkräfte, die man ja,
in Unkenntnis befangen, meist auch beim
Menschen schon der 'Seele' zuzurechnen
dürfen glaubt...
.Der dem Tiere gleiche Leib ward einst des
aus seinem geistigen Urzustande 'gefallenen'
Geistesmenschen selbstgesuchte Zu‐
flucht, und dieser gleiche Tieresleib, in dem
er sich nun findet, sobald 'seine Zeit' gekom‐
men ist, wird ihm auch zur 'Höhle der Er‐
lösung', denn der Geist verlor auch in sei‐
nem 'Falle' keineswegs die Schöpferkraft,
so daß er sich selbst den Formen des
Tierleibes gleichzubilden wußte, so
allein erst auf Erden erlösbar werdend, da
er nur so
dem Bewußtsein des Men‐
schentieres erfaßbar wird. ‒ ‒ ‒
*
Wer dieses unsagbar tiefe Mysterium in sei‐
ner unermeßlichen Tragweite fühlend er‐
kannte, dem wird hinfort sein Erdenleib ge‐
wiß nicht mehr als Hinderung und lästiger
Ballast erscheinen bei seinem Streben nach
Bewußtwerdung im reinen Geiste...
.'Was ihr auf Erden bindet, soll auch im
Himmel' ‒ im Reiche des reinen Geistes ‒
'gebunden sein, und was ihr auf Erden löset,
soll auch im Himmel gelöset sein.' ‒
.Es gibt keine wahrhafte Erlösung
für den Erdenmenschen,
es sei denn:
im Leibe und leiblich empfindbar
durch den,
seinem Leibe gleichge‐
formten,
lebendig substantiellen
Geist!! ‒ ‒ ‒
.Erst wenn er
in seinem ganzen Selbst‐
empfinden durch den Erdenleib, sei‐
nes gleichgeformten geistigen Lebens inne
wird, ist er 'in den Geist gelangt', und
dann erst darf er ohne Furcht vor Täu‐
schung seinem Denken zugestehen, die hohe
Kuppel zu wölben, die den Tempel des Gei‐
stes weithin sichtbar bekrönen soll. ‒
.Vorher ist alles, was er bauen mag, nur
bestenfalls eine interessante Fassade, die
der erste Sturmwind stürzt; und wenn er
diesen Erdenleib der Erde wiedergeben
muß, wird er nicht wissen, wohin er sich ber‐
gen könnte, denn was er baute, war nur für
Erdenaugen wahrnehmbar und entschwin‐
det mit dem Erdenkörper seinem mensch‐
lichen Bewußtsein, das, seiner Geistigkeit
noch nicht geeint, fortan nur Scheinge‐
bilde um sich gewahrt. ‒ ‒ ‒
.So durfte denn der hohe Meister wahrlich
sagen:
.'Wirket solange es Tag ist, denn es
kommt die Nacht, da niemand wirken
kann.' ‒ ‒ ‒
.Diese 'Nacht' aber ist nichts anderes als
die mangelnde Fähigkeit, ohne des Körpers
Resonanz die Stimme des eigenen ewigen
Geistes, so wie es hier auf Erden möglich
wäre, zu vernehmen, denn jener 'Tempel',
den es zu bauen gilt, gleicht, mit anderem
Bildwort bezeichnet, einer
Symphonie, die
nicht nur den
Komponisten und sein
Or‐
chester braucht, sondern auch den
Hörer,
der sie aufzunehmen fähig ist! ‒”
*
.Hier hielt der Redende inne, und die drei
Männer blickten nun längere Zeit im Schwei‐
gen versunken hinaus auf das weite Meer,
das ein bewimpelter Segler kreuzte, der wohl
vom nahen Gestade des Landes her noch
Gäste bringen mochte, zu abendlicher Festes‐
freude.
.Wie schützende Wachttürme ragten mas‐
sige Felsgebilde aus dem Meere nahe dem
Ufer auf, die jetzt in gelblich-rötliches Licht
getaucht, erkennen ließen, daß der Sonnen‐
ball, der während des Aufenthaltes der drei
Freunde hier, bereits hinter einer schroffen,
hohen Wand im Westen den Blicken ent‐
schwunden war, auf seiner abwärts geneigten
Bahn nun bald der bisher beschienenen Seite
der Erde sich entziehen wollte.
.Noch aber mochte keiner an die Rückkehr
denken, und der „Abate”, nun zur Gegen‐
rede angeregt, begann und sprach:
.„Was Sie uns sagten, ist uns nach allem,
was wir vordem von Ihnen hören durften,
gewiß verständlich und ich muß gestehen,
daß diese Ihnen anvertraute hohe Lehre, die
Sie uns hier nun offenbarten, mich erschüt‐
tert hat!
.Die Inselbewohner haben mit ihren end‐
losen Freudenschüssen nur den Tag ihres
Heiligen auf ihre Weise feiern wollen; allein
mir ist fast, als hätten sie unbewußt den Tag
begrüßt, der uns hier vereint an dieser Stätte
alter Mysterien, das tiefe Geisteswirken ent‐
hüllen wollte, in dem des Menschen Daseins‐
rätsel sich so wunderbarer Lösung zugeführt
erweist...
.Nur eine Frage bleibt mir noch, wenn ich
auch wohl weiß, daß sie am Ende töricht sein
mag; aber so sehr auch mein 'Herz' bei allem
was Sie sagten, sich beglückt und erhoben
fühlte, so läßt es doch dieser Frage gegen‐
über sich noch nicht zur Freude bewegen.
.Vielleicht ist zu vieles in mir doch noch
erdgebunden, so daß ich die Konsequenzen
nicht gern ziehen möchte, auch wenn ich
sie ziehen kann. ‒”
.„Irre ich nicht” ‒ unterbrach ihn der Äl‐
tere ‒ „so finden wir uns ganz in gleicher
Lage? ‒
.Auch ich finde keinen Ausweg, wenn ich
mir sagen soll, daß nur im irdischen
Leibe die Erlösung dem Geiste wird, wäh‐
rend so viele Liebesbanden mich an Geschie‐
dene knüpfen, die ich kaum zu denen rech‐
nen darf, die hier auf Erden schon die Er‐
lösung fanden. ‒ ‒”
.„Das eben ist es” ‒ fiel der „Abate” ihm
in die Rede. „Hier stehe ich wohl vor der
Forderung eines klaren Schlusses, doch es
bleibt etwas in mir, das ich gewiß nicht als
'schlecht' empfinden kann, und das mir
doch verbietet, zu dieser Folgerung zu
kommen!
.Entsetzlich bleibt mir der Gedanke, daß
alle, die ich hier auf Erden kannte und die
auf
anderen Wegen ihre Seligkeit erreich‐
bar glaubten, nur Opfer der Vernichtung
seien! ‒ ‒”
*
.Aber der Jüngste der Freunde lächelte und
sprach:
.„Verzeihen Sie mir, aber hier haben Sie zu
vorschnell sich zu einer Auffassung gedrängt
gefühlt, die keineswegs gefordert ist!
.Es lag mir sehr ferne, eine Lehre zu ver‐
künden, nach der alle verloren seien, die
nicht hier im Leibe der Erde sich ihrem gei‐
stigen, ewigen Bewußtsein zu einen ver‐
mochten.
.Ich sage nur, daß man hier auf Erden auch
den
Leib der Erde nützen muß, um dieses
Ziel zu erreichen, daß man es
ohne die Re‐
sonanz, die der Erdenkörper gibt, überhaupt
nicht erreichen kann, solange man auf
der Erde lebt, und ferner: daß sich der
ewige Geistmensch in uns dem Erdenkör‐
per so anzugleichen wußte, daß durch
dieses geistgeschaffene Verhältnis eine Mög‐
lichkeit der Erlösung entstand, die wir nur
ausnützen können, solange wir noch in
diesem Erdenkörper leben, dem sich un‐
ser Ewiges durch den 'Fall' in das Bewußt‐
sein des Tierkörpers verband. ‒ ‒
.Daraus folgert aber durchaus nicht die ab‐
surde Annahme, daß sich nach der Loslösung
vom Erdenleibe überhaupt keine Möglich‐
keit der Erlösung fände!
.Aber während wir ‒ noch an den Leib
der Erde gebunden ‒ aktiv in dieses Er‐
lösungswerk einzugreifen vermögen und die‐
ses Leibes Kräfte uns dabei eine sehr wirk‐
same Hilfe bieten, wenn wir sie zu gebrau‐
chen wissen, ‒ sind wir nach der Loslösung
zu völlig passiver Haltung gezwungen, und
was im Leibe der Erde in wenigen Jahr‐
zehnten erreichbar ist, kann alsdann ‒
nach irdischen Zeitbegriffen gesprochen
‒
Jahrtausende, ja
Äonen dauern!
‒ ‒ ‒”
*
.„Das hört sich freilich anders an”, meinte
der Physiker, „und ich kann mir sogar nach
mancherlei irdischen, mir bekannten Ana‐
logien, eine solche kräfteverstärkende Funk‐
tion des Erdenkörpers sehr wohl erklärbar
machen.
.Zugleich wird es mir dadurch sehr faß‐
lich, daß Menschen, denen solche Zusam‐
menhänge bewußt geworden waren, keine
höhere Aufgabe kannten, als ihren Mitmen‐
schen die Wege zu weisen, auf denen sie
hier
auf Erden schon das Ziel der Gottver‐
einigung finden können. ‒
.Was mir früher so oft als bizarre gnosti‐
sche Spielerei erschien, zeigt sich nun in
einem Lichte, das dem üblichen diskursiven
Denken
völlig unzugänglich bleiben
muß, und ich sehe mit einer gewissen Be‐
schämung für mich und andere ein, wie
leichtfertig man ‒ durch keinerlei wirk‐
liche geistige Einsicht beirrt ‒ im Dünkel
angelernter Phrasen befangen, sich zu einem
Urteil berufen fühlt, zu dem alle eigene Fä‐
higkeit der Beurteilung fehlt...
.Wie unsagbar töricht erscheinen mir nach
solcher Erkenntnis doch diese Neunmalklu‐
gen, die in ihrer grotesken Überheblichkeit
ewiges Mysterium abgetan zu haben wähnen,
wenn sie nur die Lehren der wirklich Wissen‐
den nach eigener enger Schulregel zu zer‐
pflücken wußten, um die erhaltenen Fetzen
in ihre armseligen Begriffsschatullen einord‐
nen zu können!
.Mir drängt sich da unwillkürlich das Bild
eines Affenkäfigs auf, in den ein Spaßvogel
einen Spiegel warf, mit dem die possierlichen
Tiere schließlich nichts anderes anzufangen
wußten, als ihn wütend zu zerkauen, nach‐
dem sie vergeblich versuchten, auf der Rück‐
seite sein Geheimnis zu entdecken und sich
immer wieder zähnefletschend darüber ent‐
rüstet hatten, daß ihnen nichts anderes dar‐
aus entgegenblickte als ihre eigene Gri‐
masse. ‒ ‒
.Man muß eben schon selbst einen, wenn
auch nur schwachen Abglanz ewigen gei‐
stigen Lichtes in sich zu empfinden
fähig sein, will man begreifen, daß die
hohen Lehren der geistig Erwachten
nicht in die Schablone blickbeengter Groß‐
mannssucht zu pressen sind! ‒
.Es ist wirklich ergötzlich, zu sehen, wie da
so mancher Karrenschieber auf dem Gebiete
spekulativer Verstandeserkenntnis allen Ern‐
stes zu glauben scheint, die durch Selbst‐
verwandlung geistig Wissenden, von
denen wir durch Sie nun Kunde haben, hät‐
ten keine Ahnung von den verschiedenen
Täuschungsmöglichkeiten, die den
Menschen bei seinem Suchen nach Erkennt‐
nis in die Irre locken können, während das
spärliche Erkennen seelischer Zusammen‐
hänge, auf das eine scheinbetörte Experimen‐
tierweisheit heute so stolz ist, wie ich immer
mehr sehe, jenen im Geiste Leuchtenden
schon vor Jahrtausenden nur als Bin‐
senweisheit galt, über die sich ihr geisti‐
ges Erkennen um Siriusfernen erhoben
hatte...
.Diese drolligen Leutchen leben in einer
Kulissenwelt, die sie sich selbst erbauten,
und ihre Eitelkeit läßt sie alles nur im ben‐
galischen Lichte ihrer Trugschlüsse
sehen, so daß sie die Sonne beseitigt zu ha‐
ben wähnen, weil ihre entwöhnten Augen
vom Lichte der Sonne nur Blendung er‐
fahren. ‒ ‒ ‒
.Lange genug ließ auch ich mich von sol‐
chen blinden Blindenleitern führen und war
ihrer 'Weisheit' froh, obwohl sie mir letzten
Endes nur allzu deutlich ihre Enge zeigte,
aber ich glaubte damals noch, wie so viele
andere in meiner Lage, daß eben restloses
geistiges Erkennen dem Menschen nicht zu‐
teil werden könne...
.Sie, lieber junger Freund, haben mich auf
diesem Reisewege eines Besseren belehrt!
.Ich danke Ihnen!
.Aber ich darf Ihnen auch sagen, daß mich
nichts mehr zurückhalten wird, den nun
kaum betretenen Weg zum
Lichte der
Ewigkeit auch
zu Ende zu gehen, bis ich
‒ wenn meine Erdentage es mir noch ge‐
währen ‒ hier, während meines Daseins auf
diesem Planeten, das hohe Ziel erreiche, das
ich, wie ich nun fühle, hier erreichen kann!
.Am allerwenigsten aber werden mich in
Zukunft die hohlen Redensarten derer be‐
irren, die ihrer Scheinweisheit froh, nur in
leeren Worten zu kramen verstehen und
solche Torheit für den Weg zur Erkenntnis
halten! ‒”
*
.Der Jüngste der Drei hatte sich erhoben
und blickte sinnend über das abendliche
Meer, so als ob er die letzten Worte kaum
recht beachtet hätte, und man sah es ihm an,
daß er zum mindesten den
Dank des Freun‐
des
überhören wollte.
.Der Weißbärtige aber ließ sich nun also
vernehmen:
.„Es sind gewichtige Dinge, die uns heute
hier beschäftigt haben und unsere Ruhezeit
auf dieser herrlichen Insel steht sichtlich
unter guten Sternen!
.Was nun mich betrifft, so habe ich den
letzten Äußerungen, die da soeben gehört
wurden, kaum etwas hinzuzufügen, es sei
denn, daß ich wohl noch weit triftigeren
Grund zu haben glaube, mir zu wünschen,
daß ich nicht eher diese Erde verlassen
müsse, als bis auch mir das Ziel sich zu eigen
gab, das erst in so vorgerückten Jahren nun
vor mir steht.
.Aber ich kann nicht glauben, daß die Fü‐
gung es mir nun als erreichbar zeigt, wenn
es mir nicht beschieden wäre, ihm noch ent‐
gegenzuwachsen. ‒
.Hätte ich früher von dem allem auf solche
Weise gehört, wie das während dieser Reise‐
tage nun geschah, ‒ wer weiß, ob ich reif
gewesen wäre, dem Anruf zu folgen!?
*
.Ich muß gestehen, daß ich in jüngeren
Jahren mich sehr wohl befand, bei einer
Weltanschauung die ich selbst mir zurecht‐
geklügelt hatte, und deren Hintergrund im‐
mer noch die große Abschlußlinie kirch‐
licher Eschatologie: die in früher Jugend so
gläubig aufgenommene Lehre von den 'letz‐
ten Dingen' bildete, wie sie mir als eifrigen
Bekenner meines anerzogenen Glaubens in
den Exerzitien des heiligen Ignatius von Lo‐
yola, die ich unter der Leitung seiner geist‐
lichen Söhne fast jedes Jahr absolvierte, in
wahrlich eindrucksstarker Weise entgegen‐
getreten war.
.Weit entfernt davon, heute solche Erzie‐
hung zu bedauern, kann ich vielleicht erst
jetzt ganz ermessen, welchen Segen sie, trotz
ihrer irrtümlichen Prämissen, in mein Leben
brachte, lernte ich doch dabei eine Metho‐
dik des Denkens und eine Zügelung des
Fühlens kennen, die zu einer Willensbil‐
dung führten, wie ich sie wahrhaftig so man‐
chem wünschen möchte, der nur die Schat‐
tenseiten des Wirkens jener Glaubenseife‐
rer der römischen Kirche kennt. ‒
.Wenn ich dann auch später vieles anders
sehen lernte, als es mir damals gezeigt wor‐
den war, so blieb mir doch die straffe Gei‐
stesdisziplin erhalten, die es mir eben so
unmöglich machte, mich religiösen Schwär‐
mereien hinzugeben, wie sie mich die Trug‐
schlüsse leerer Spekulation, auch wenn sie
noch so verführerisch sich als 'unwiderleg‐
bar' anpreisen mochten, stets gar bald durch‐
schauen ließ.
.Aber im Grunde meiner Seele war eigent‐
lich Resignation...
.Ich stand vor einem großen Ignorabi‐
mus: beschied mich dabei, daß wir über gar
vieles niemals etwas wissen könnten, und
fand es nur geraten, nach des Dichters Aus‐
spruch: 'das Unerforschliche ruhig zu
verehren'...
.Froh, auf solche Art ein gewisses inneres
Gleichgewicht wahren zu können, wäre ich
sicher kein aufmerksamer Zuhörer gewesen,
hätte man mir zu jener Zeit von ähnlichen
Dingen gesprochen, wie die sind, denen wir
jetzt schon so manche Stunde zu weihen uns
bestrebten. ‒
.Erst in den allerletzten Jahren, als mir
mehr und mehr der Gedanke an ein Ab‐
schiednehmen von der Erde nahetrat, wurde
es anders mit mir und ich fand mich gar oft
gedrängt, eine Pforte gewaltsam entriegeln
zu wollen, hinter der das Geheimnis der letz‐
ten Dinge mir verborgen schien. ‒ ‒
.Da sich eigene Erfahrung mir nicht bie‐
ten wollte, versuchte ich schließlich, mir auf
Grund der Erfahrung anderer ein Urteil zu
bilden, und so kam es, daß ich mich schon
seit geraumer Zeit mit jenen Studien beschäf‐
tigte, deren Erwähnung vor Ihnen die Ur‐
sache all der Eröffnungen wurde, die uns
durch Sie, junger Freund, seither geworden
sind.
.Auch hier bedauere ich es keineswegs, so
viel kostbare Zeit an das Durcharbeiten der
Berichte gegeben zu haben, deren wissen‐
schaftlich einwandfreie Verfasser mir immer‐
hin Gewähr dafür boten, daß sie sich nicht
durch irgendein Gaukelspiel hatten täuschen
lassen.
.Aber ich sehe längst nun, daß ich trotz‐
dem auf falscher Fährte war, und daß die
Rätsel unserer bleibenden Geistigkeit
nie
und nimmer durch Experimente mit Som‐
nambulen und 'Medien' lösbar werden.
*
.Auch ich habe den Anfang des rechten
Weges nun gefunden!
.Ob ich ihn hier noch auf Erden bis zum
Ziele durchschreiten darf, mag höheren
Mächten zu wissen vorbehalten bleiben! ‒
.Einstweilen danke ich der geheimnisvol‐
len Führung, die uns auf dieser Reise Ge‐
legenheit werden ließ ‒ wenn auch noch
wie aus weiter Ferne ‒ die ersten Strahlen
ewigen Lichtes in uns wahrzunehmen.
.Ich fühle, daß der, dem es hier oblag den
Schleier der uns so viel verborgen hielt ein
wenig zur Seite zu ziehen, es ablehnt, unse‐
ren Dank entgegenzunehmen, aber das kann
mich nicht hindern, ihm dennoch im Herzen
zu danken, und wenn er selbst sich nur 'Schü‐
ler' nennt, so möge er uns der Obhut derer
empfehlen, die er selbst als
Meister ver‐
ehrt! ‒ ‒ ‒”
*
.Und der Jüngere antwortete und sprach:
.„Hier habe nur
ich zu danken, daß ich
Werkzeug werden durfte in der Hand einer
hohen Führung, die Sie mir nahebrachte und
Gelegenheit schuf, von dem wenigen zu ge‐
ben, das ich selber geben
kann!
.Doch bedarf es nun
meiner nicht mehr,
wenn Sie willens sind, sich auch weiter, und
nun beiläufig Ihres Tuns bewußt, der glei‐
chen hohen Führung anzuvertrauen, von der
Sie wissen, daß auch ich ihr mein Erkennen
danke.
.'
Bittet,
und ihr werdet empfangen!
.Suchet,
und ihr werdet finden!
.Klopfet an,
und es wird euch aufge‐
.tan!'
.Der einst so zu seinen Zeitgenossen zu
sprechen wußte, ist auch
heute noch
der
Erde nicht fern, und die wenigen, von
denen ich Ihnen als von den '
Leuchtenden
des Urlichtes' sprach, kennen ihn als ihren
Bruder in seiner Geistgestalt, in der er stetig
bei den Menschen der Erde ‒
im geistigen
Lebenskreis der Erde ‒ bleibt, bis auch
der letzte der Geistesmenschen, die sich hier
dem Menschentiere übergeben müssen als
Folge ihres 'Falles' aus hohem Leuchten, den
Erdenleib wieder verlassen hat...
.Wer ihn zu '
rufen' weiß
durch Tat und
Leben, dem ist er
nah, wie so mancher an‐
dere seiner Brüder, die in
gleicher Weise
bei der Erde bleiben, obwohl sie längst den
Erdenleib verlassen haben!
*
.Es ist nicht nötig, daß man
von dem Da‐
sein dieser geistigen hohen Helfer wisse, um
ihre Hilfe zu erhalten, und es ist nicht nötig,
daß man
in Worten sich zu dem bekennt,
den sie den '
großen Liebenden' nennen
und in dem ein großer Teil der Menschheit
seinen Erretter sieht. ‒
.Gar viele erhielten solche hohe Hilfe, die
weder den Namen dieses Erhabenen
kannten,
noch von seinen geistigen
Brüdern wußten, denn was hier
allein
gefordert wird, ist ein 'Glaube', der sich
durch die Tat bezeugt und
an kein Be‐
kenntnis religiöser Meinung aus‐
schließlich gebunden ist!
*
.Gewiß wird solches gewisses Wissen von
allen denen 'verdammt', die den Wahn er‐
halten möchten, als sei nur durch die Bin‐
dung an die von
ihnen ersonnenen Glau‐
bensformeln das Heil zu erlangen, aber der
ewige
Geist, dem jene zu dienen glauben, ist
ihrer 'Verdammung' noch weiter entrückt,
als ihrem 'Segen', den sie in seinem Na‐
men allein zu spenden sich berechtigt wäh‐
nen! ‒
.Es
hindert aber auch solche Bindung
nicht, daß dennoch auch die Gebundenen
die gleiche hohe Hilfe erfahren können,
und es bleibt wahrlich
ohne jede Bedeu‐
tung,
wen sie als ihren Helfer verehren zu
müssen glauben! ‒
.Das gläubige Volk dieser Insel hier betet
heute zu seinem Heiligen; aber wer auch
immer der so Gemeinte auf Erden gewesen
sein mag ‒ ob sein Leben und Tun Ver‐
ehrung verdiente oder nicht ‒ so wird doch
die durch
Tat und
Leben wirksam gewor‐
dene Bitte die
wahren geistigen hohen Hel‐
fer erreichen, ‒ nicht anders, als wenn der
Scheich der Wüste zu Allah sein Herz erhebt,
oder der fromme Hindu zu irgendeiner Gott‐
heit seines uns Abendländern so grotesk er‐
scheinenden Pantheons. ‒ ‒
.Ja, selbst der Wilde in seinem Fetischtem‐
pel kann die gleiche Hilfe erhalten, wenn er
nur durch all sein Tun die Vorbedingungen
erfüllt, soweit sie bei
seiner Erkenntnis‐
fähigkeit ihm zu erfüllen möglich wer‐
den. ‒ ‒ ‒
*
.Dies ist im
eigentlichsten Sinne die
'
frohe Botschaft', die einst der
Meister
von Nazareth der Menschheit brachte;
aber noch heute wird man gar selten einem
Menschen begegnen, der sie verstand! ‒
.Auf der einen Seite wurde alles
Geistige,
davon diese Botschaft Kunde brachte, immer
mehr
von der Erde losgelöst und zu we‐
senlosem
Nichts über Wolkenhöhen ver‐
flüchtigt, während man auf der anderen den
Geist so sehr der
Materie zu amalgamieren
suchte, daß man es schließlich gar nicht
mehr merkte, wenn man
nur noch Mate‐
rie in Händen hielt. ‒ ‒ ‒
.Wer aber den
Geist in sich
finden will,
der bleibe sich bewußt, daß er ihn nur der
Materie
gleichgeformt zu finden vermag,
aber weder in Materie
versunken, noch
über allem Materiellen, in erträumter we‐
senloser Vorstellung!
*
.So auch kann der Geist, solange er noch
nicht dem
eigenen Bewußtsein des Men‐
schen sich einte, niemals des Menschen Be‐
wußtsein anders erreichen, als indem er die
Möglichkeit schafft, daß das ihm noch nicht
geeinte Bewußtsein empfindend teilzuneh‐
men vermöge am inneren Lichtesleben eines
Menschenbewußtseins, das bereits dem
Geiste vereinigt ist! ‒ ‒ ‒
.Diese dem Geiste restlos Vereinigten
auf unserer Erde, sind aber jene wenigen
Männer zu jeder Zeit, von denen ich sprach,
als von des Urlichtes Leuchtenden!
.Nicht dadurch, daß man einen, oder sie
alle kennenlernt, kommt man ihnen nahe,
denn dieses Nahekommen hängt weder
ihrerseits noch unsererseits von freier
Willkür, von persönlichen Wünschen ab,
‒ sondern nur die eigene, durch Tat
und Leben bewirkte innere Einstel‐
lung entscheidet, ob man an ihrem geist‐
geeinten Bewußtseinsleben teilzunehmen
vermag, oder nicht! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Wer aber fähig wurde ‒ wenn auch nur
in leisester Erahnung ‒ daran teilzuneh‐
men, den könnte auch kein Gott daran ver‐
hindern; und je mehr er sich in solcher
Fähigkeit zu
befestigen vermag, desto
mehr wird ihm
Kraft aus jener geistigen
Sphäre kommen, in der das dem Gottesgeiste
geeinte
Bewußtsein dieser Meister des Er‐
kennens ruht; je mehr wird ihm
Hilfe zuteil
aus jenen Strömen geistiger Allgewalt, in
denen ihr Wille ewig wirkend nach dem Ge‐
setz des Geistes waltet! ‒ ‒ ‒
*
.Wer dies einmal erkannte, ist schon weit
vorangekommen auf seinem Wege, der ihn
zur Einheit im Geiste in sich selber
führen soll!
.Er wird eben so weit davon entfernt sein,
diese 'Leuchtenden' für irre Sektierer und
tolle Schwärmerseelen zu halten, wie er sich
wahrlich hüten wird, in ihnen entmenschte
Halbgottwesen oder eitle Zauberer zu ver‐
muten! ‒ ‒
.Ich habe nun Sie, liebe Freunde, unter das
'Kraftfeld' dieser hohen Hilfe gestellt...
.Mehr vermag ich nicht, aber mehr ver‐
möchte auch einer derer nicht, von denen
ich hier sprach, und denen ich all mein Er‐
kennen danke!
.Von
Ihnen allein hängt es nun ab,
welche Kräfte Sie aus diesem geistigen 'Kraft‐
feld' gleichsam
einzusaugen wissen! ‒
‒ ‒
.Dann danken Sie '
Gott', der
in Ihnen
selbst, wie in einem Tabernakel einge‐
schlossen ruht, für die
Gnade, die Ihnen
werden mag; aber nicht mir, der ich nur
Anstoß werden durfte, Ihren Willen zu
wecken! ‒”
*
.Die Klippen, die nahe der Küste aus dem
Meere ragten, lagen lange schon in opal‐
farbenem Duft und nur der letzte Wider‐
schein des Tages ließ noch Licht und Schat‐
ten auf ihnen erkennen.
.Über den Häuptern der drei Freunde fun‐
kelten bereits die ersten Sterne, als man nun
endlich sich entschloß, die geheiligte Stätte
zu verlassen, um wieder den Pfad zurück‐
zuverfolgen, der nach der kleinen Stadt auf
dem Rücken der Insel führte.
.Es war bereits völlig dunkel geworden, be‐
vor die Wanderer das Haus der Fremden er‐
reichten, das ihnen jetzt für die nächsten
Tage Heimstätte war.
.Hier nahm man nun seine Abendmahlzeit
ein, aber da man nachher noch nicht recht
zum Schlafe sich bewogen fühlte, doch auch
nicht von neuem die tiefen Dinge berühren
wollte, die heute bei der Mithrasgrotte zur
Sprache gekommen waren, so begab man sich
zu der kleinen Piazzetta, allwo das Inselvolk
und seine Gäste wie in einem Festsaal pro‐
menierte und sich der heiteren Weisen freute,
die eine muntere Kapelle zum besten gab.
NACHDEM die Festesfreude der fröh‐
lichen Inselbewohner wieder alltäg‐
lichem Werke gewichen war, fanden sich die
drei Freunde in einer stillen Gottesruhe, die
ihnen alles gab, was sie hier für ihre durch
stetes Schauen ermüdeten Nerven zu suchen
gekommen waren.
.In jeder Morgenfrühe erblickten sie wie‐
der das weithin glänzende Meer, das kaum
die Strahlenfülle mehr zu fassen schien, die
aus dem leuchtenden, unermeßlichen Raume
über ihm herabgeflutet kam ohne Unterlaß.
.Was Wunder, wenn in den Herzen zuletzt
der Wunsch sich regte, auf diese Lichtsee
einmal noch hinauszufahren, um in Sonnen‐
helle durchstrahlt, das Eiland zu umkreisen,
bevor man von ihm dauernd Abschied nahm.
*
.An einem frühen Morgen war man auf
langen Schlangenwegen hinabgewandert zum
Strande, wo schon die Schiffer warteten mit
einer geräumigen Barke, die man des Tages
zuvor für diese Fahrt gemietet hatte.
.Was man für des Lebens Notdurft brauchte
an diesem Tage ‒ sowohl für die Freunde
selbst als auch für ihre Ruderer bemessen ‒
war allbereits schon vorher durch einen Bo‐
ten herabbefördert worden und ruhte wohl‐
verwahrt und vor der Sonne späterer Glut
geschützt im Kielraum des schweren Ruder‐
bootes.
.Ein mächtiger Segler kreuzte vor dem klei‐
nen Inselhafen, als man nun hinausfuhr auf
das offene Meer, und seine gelben Segel bläh‐
ten sich im frischen Morgenwinde.
.Gigantisch türmten sich die hohen, röt‐
lichen Felsenschroffen, die droben, in
lichtes Grün gebettet, weiße Villen trugen,
die kaum Halt zu finden schienen und von
hier aus wie die Spielzeughäuser der Kinder
wirkten.
.In weitem Bogen hatte man erst die Fel‐
senwände umfahren, um so den gewaltigen
Anblick aus einiger Ferne genießen zu
können.
.Dann aber hielten sich die Ruderer der
Insel näher, so daß aufs deutlichste die Bil‐
dung des Gesteins mit den Augen zu grei‐
fen war.
.Zuerst durchfuhr man nun die wenig
breite Meeresstraße, die das Festland von
der Insel schied.
.Drüben am Festland zog sich in edelstem
Rhythmus eine Kette mäßig hoher Berge in
die Ferne, über die vereinzelt höhere Gipfel
ragten.
.Die ganze Festlandsküste war noch in
einen Schleier zarter Dünste gehüllt, der sie
in mannigfachen pastellweichen Tönen, von
lichter Rosenfarbe bis zu sanftem hellen
Blau, herüberschimmern ließ.
.Hier, wo man nun selbst im Boote saß,
zeigte sich zum nicht geringen Erstaunen
das leuchtend grünblaue Meer von solcher
Klarheit in der Durchsicht, daß man den
Grund mit seinen Steinen und mancherlei
Tanggewächsen derart scharf erkennen
konnte, als blicke man in völlig leere Tiefe,
und fast empfand man es leise unbehaglich,
daß die Barke gleichsam wie in leerem
Nichts über solchem Abgrund schwebte.
.In weitester Ferne lagerten über dem
Meere ein paar dünne blaßviolette Wolken‐
streifen als die letzten Zeugen der ent‐
schwundenen Nacht, fast aufgesogen im ro‐
sigen Morgenlicht, das sich darüber bereits
in goldene Helle wandelte, um allmählich in
größerer Höhe lichtestem Gelbgrün und
schließlich dem leuchtendsten Türkisblau
sich zu einen.
.Man muß solche Morgenfrühe auf süd‐
lichem Meere selbst erleben, um ihre Schön‐
heit zu erfassen! ‒ ‒
*
.Die Barke der drei Freunde hielt sich nun
immerfort dicht an der Inselküste.
.Hochragende Felsbastionen wechselten da
mit schroffen Schluchten und zuweilen wei‐
teten sich steile Mulden, in denen lichte Öl‐
haine und Zitronengärten, Orangengehege
und Myrtensträucher nahezu das Meer er‐
reichten.
.Die hohen Klippen nahe dem Ufer, die
man sonst nur von der Insel aus bewundert
hatte, bildeten jetzt ein mächtiges Tor, und
die Schiffer ließen es sich nicht nehmen,
das Boot durch dieses Felsengewölbe zu
steuern.
.Nun erblickte man auch deutlich die Stelle
der Mithrasgrotte, bei der man zuvor, an
jenem Abend so folgenreiche Mitteilung er‐
fahren hatte.
.Mit Sicherheit erkannte man zugleich den
steilen Pfad, auf dem einst in alter Zeit die
Mysten, vom Meere kommend, das Heilig‐
tum erklommen haben mochten.
.Noch wenige Ruderschläge, und man ge‐
wahrte, hoch oben über weitem, fruchtbaren
Tal, auf der Sattelhöhe die helle Stadt ‒
nun von der anderen Seite zu sehen, während
man sie noch am Morgen über dem kleinen
Hafen sich erheben sah.
.Nachdem sie von der Hafensiedelung aus
allmählich emporzuwachsen schien, lag sie
hier wie eine Zinnenkrone auf der Höhe der
Einbuchtung, zur Linken von dem höchsten
Bergrücken der Insel beschützt, zur Rechten
nur von mäßigen Anhöhen überragt.
*
.Die drei Freunde hatten bisher nur all
dem Schönen, das ihre Augen sehen durften,
sich willig hingegeben, und die Schiffer ‒
nicht wenig stolz auf ihre herrliche Heimat
‒ wurden nicht müde, Erklärungen zu
äußern, oder auf besondere Schönheiten
hinzuweisen.
.Längst tropfte den Beiden der Schweiß
von der Stirne und man merkte es ihnen an,
daß sie nicht ungern ein wenig ausgerastet
hätten, bevor der größere Umkreis der Insel
noch umfahren werden sollte.
.Unweit der Stelle, an der man sich jetzt
befand, gab es eine kleine Anlegestelle für
die Fischerboote.
.Einige pittoreske, niedere Häuser um‐
säumten die kleine Bucht, und am Strande
sah man ausgespannte Netze in der Sonne
trocknen.
.Dorthin ließen die Reisenden die Barke
nun lenken, und als sie ans Land gestiegen
waren, freuten sie sich schließlich selbst
daran, für einige Zeit dem reglosen Sitzen
im Boot entronnen zu sein und auf fester
Erde die Glieder gebrauchen zu können.
.Man freute sich auch der Jugend, die hier
ihren Badeplatz fand und allerlei Taucher‐
künste zeigte, sah ein wenig den Fischern
zu, die ihr Gerät schon für den Fang der
nächsten Nacht in Ordnung brachten, und
erquickte sich schließlich, zusammen mit
dem Brüderpaar der Ruderer, an einigen
saftigen Früchten aus dem Vorrat, den man
im Boote mitgenommen hatte.
.Bald aber war man wieder ausgefahren,
sah nur von Ferne noch die kleinen Fischer‐
häuser, und die mählich höher gehenden
Wogen trugen die Barke gleitend wieder ge‐
waltiger Felswand entlang, die nur zuzeiten
durch enge Spalten und farbenschimmernde
Grotten unterbrochen wurde, den westlichen
Abstürzen zu.
.Francesco, der jüngere der beiden Ru‐
derer, wußte auf dieser Seite der Insel, die
jetzt im Schatten der hohen Felsen und des
darüber ragenden Berges lag, einen Ruhe‐
platz, der auch seinem älteren Bruder gewiß
nicht unbekannt war, den er aber in den
höchsten Tönen rühmte, als sei er seine Ent‐
deckung.
.Dort wollte man Mittagsrast halten und
lange verweilen, um erst, wenn die Sonne
den Berg überstiegen hätte und nahe dem
Meere wäre, den letzten Teil der Fahrt als
Heimweg anzutreten.
*
.Die Ruderer aber mußten sich gar gewal‐
tig mühen, um den Wogen zu begegnen, und
es war nötig, weit ab in freies Meer zu steu‐
ern, auf daß man nicht allzunahe bei den
niederen Riffen blieb, die hier wie ein spitzer
Zaun die hohen Felsenmauern umgaben.
.Endlich aber glaubten die beiden Brüder
die Zeit gekommen, um den Kurs der
Barke wieder nach der Insel zu richten,
und nun hielten sie den Kiel scharf auf
einen hellen Fleck, den man am fernen Ufer
gewahrte.
.Näher gekommen, entdeckte man eine
seichte Bucht, an der keine Brandung auf‐
kommen konnte, und über mächtiger, weiß‐
gewaschener Steinhalde gab es eine idyllische
Rasenterrasse mit Myrtengesträuch, tief‐
dunklem Lorbeer, Eukalyptus- und Ölbäu‐
men bestanden: ‒ so recht ein Ort, der zum
Verweilen lockte.
.Bald war die Barke nun auch von einer
geschickt benützten Woge ans Land gewor‐
fen worden, und nachdem sich Reisende wie
Ruderer der Mühe unterzogen hatten, sie
aus dem Bereiche des Meeres herauf auf die
Halde zu ziehen, durfte man ihrer nun sicher
sein und konnte über das Steingeröll empor
zum eigentlichen Rastplatz steigen.
.Die beiden Schiffer brachten noch die
Körbe mit Speise und Trank, ließen sich ge‐
ben, was man für sie mitgenommen hatte,
und kehrten zurück zu ihrem Boote, um
dort zu essen und zu ruhen, so daß sich die
Reisenden kaum zu erklären vermochten,
weshalb dieselben Menschen, die sie hierher
geleitet hatten, als an einen Ort, dem beson‐
dere Schönheit innewohne, doch dieses Ortes
Schönheit nicht genießen mochten.
.Aber hier zeigte sich nichts anderes, als
jener wundervolle
Takt, der auch den ein‐
fachsten Sohn des Südens dem ihn verstehen‐
den Fremden liebenswert macht.
*
.Gewiß findet sich in den großen Städten
auch das übelste Pack, aber wo noch der
Rasse Adel rein sich wahren konnte, dort
trägt auch der Ärmste seine Armut in Lum‐
pen noch als Fürst, und die Hoheit seiner
inneren Würde wird besonders bewunderns‐
wert, weil er in jeder Lage fühlt,
was seiner
Stellung ziemt, und bei aller Freiheit
der Gebärde niemals aus der Rolle fällt, die
ihm sein Schicksal einmal zuerkannte im
Getriebe dieses Erdenlebens...
.So wußten auch die beiden Brüder gar
wohl, daß jetzt die Reisenden doch am lieb‐
sten
unter sich zu sein wünschen mußten,
und so gerne sie auch selbst auf dem gleichen
Rasen sich ausgestreckt hätten, wie sie es oft‐
mals wohl schon getan, wenn sie mit Weib
und Kind an einem Festtag hier verweilten,
so wäre es heute ihnen doch wie ein Sakrileg
erschienen, wie ein Vergehen, das stets an
ihnen haften bleiben würde. ‒
*
.Das Mahl hatte trefflich gemundet und
wenn auch hier auf dieser Insel kein kla‐
rer Quell zu finden war, so hatte doch die
Erde köstliche Frucht gegeben, die nach des
Mahles Würze auch den Durst noch stillen
konnte. Daneben gab es noch den Saft der
Rebe dieser Inselhänge der allerdings von
so feuriger Artung ist, daß er das Wasser
nicht gut ersetzen kann. ‒
.Nachdem man dann längere Zeit sich der
Ruhe überlassen hatte, nahm der Jüngste
der Drei das Wort und sprach:
.„An einer sehr ähnlichen Stelle wie dieser
hier an der wir lagern, ward mir einst un‐
vergeßliche, hohe Belehrung.
.Es war auf der Reise in den Orient, die
mir mein Vater gewährte, bevor ich meinen
neuen Wirkungskreis betrat.
.So wie hier, befand ich mich auf einer
Insel, so wie hier, im Angesicht des Mee‐
res, und so wie hier, lagerte man zwischen
Myrtengebüsch und Lorbeer, wenn auch das
Gras weit dürftiger war und nicht die Fülle
der Blumen zeigte, die hier uns umgeben.
.Damals sollte ich meinen Guru unver‐
hofft wiedersehen und es waren recht selt‐
same Umstände, unter denen er mir aufs
neue begegnet war.
.Doch das alles läßt sich auch an einem
Winterabend, wenn der Sturm heult und den
Schnee an die Fenster peitscht, beim Kamin‐
feuer zu Hause erzählen, nachdem wir jetzt
in so nahem, verstehendem Verhältnis uns
fanden. ‒
.Was mir aber soeben in Erinnerung kam,
betrifft vielmehr die Lehre, die mir in jenen
Tagen wurde, und die vielleicht doch noch
erörtert werden dürfte, um das zu vollenden,
was unser Zusammensein bisher so ersprieß‐
lich werden ließ.”
.„Ich weiß nicht, was Sie uns heute brin‐
gen wollen”, fiel der Älteste ins Wort, „aber
ich glaube, wir beiden Senioren dieses Krei‐
ses sind uns einig darüber, daß wir durch
Sie nur gewinnen können, und was Sie uns
auch noch zu sagen haben, wird aufnahme‐
bereite Hörer finden!”
.„Das will ich meinen”, ergänzte der in
sichtlichem Wohlbehagen strahlende „Aba‐
te” und fuhr dann fort: „Es ist ja schier un‐
begreiflich, was Sie aus uns beiden, alten
Köpfen schon zu machen wußten in dieser
kurzen Zeit, seitdem Sie endlich Ihr Visier
geöffnet haben! ‒ ‒
.Fast könnte ich es Ihnen verargen, daß
Sie vorher so oft mit uns zusammen waren
und stets vor uns 'Profanen' Ihr Geheimnis
wahrten!
.Wir müssen wirklich in Ihren Augen gar
arge 'Skeptiker' gewesen sein, aber Sie wis‐
sen doch, daß Skepsis und Mystik in recht
nahem verwandtschaftlichem Verhält‐
nis stehen! ‒
.Wer nicht sein Teil Skepsis in sich trägt,
wird ja gar kein Bedürfnis haben, etwa
wissen zu wollen, was hinter dem Vorhang
vorgeht, an dessen Bildwirkerei er zu glau‐
ben angehalten wird...
.Aber, wie Sie gesehen haben, sind wir
'Skeptiker' doch nicht so unverbesserlich,
wie Sie vielleicht geglaubt haben mochten!
.All unsere Skepsis ist ja nichts anderes ge‐
wesen, als verkappte Sehnsucht, glauben
zu können; nur wird einem das Glauben
können heutzutage höllisch schwer ge‐
macht!
.Freilich, wenn man dann, wie bei Ihnen,
plötzlich sieht, daß hinter all diesen Glau‐
benspostulaten jeweils eigentlich eine unum‐
stößliche, wenn auch noch so ungeschickt
formulierte Wahrheit steckt, dann merkt
man schon auf, und weist die Konklusionen
des rationalistischen Denkens in ihre gehöri‐
gen Schranken! ‒ ‒
.Aber, wem wird denn heutzutage solche
Belehrung zuteil?! ‒
.Die Mehrheit lebt doch geradeso dahin,
wie es eben die äußeren Umstände zulassen
mögen, kümmert sich nicht um Tod und
Teufel, und läßt schließlich auf sich be‐
ruhen, was sie nicht enträtseln kann.
.Wenn man so richtig aufzunehmen wußte,
was Sie uns in dieser Reisezeit zu geben
hatten, dann greift man sich ja an den Kopf
und faßt es nicht, daß die Menschheit in sol‐
cher Tarantelsucht sich um ihre eigene Achse
dreht und dabei niemals ahnt, daß sie sich
selbst gebannt hält auf dem gleichen Fleck!
.Warum wissen unsere Kinder nicht schon
von dem allem! ‒ ‒ ‒
.Muß denn wirklich jede neue Generation
das 'Einmaleins' für sich von neuem zu
entdecken suchen??
.Doch ich merke, daß ich da selbst jetzt
ins Reden komme, und bitte um Vergebung,
denn ich erwarte ja weiter nichts, als daß
unser jüngerer Freund, dem soviel
Erfah‐
rung wurde, uns auch fernerhin belehrt! ‒”
*
.Die Sonne war mittlerweile hinter dem
Bergesrücken erschienen, war mehr und
mehr hervorgerückt, hatte die andere Seite
der Insel umwandert, ihren Höhepunkt über‐
schritten, und sehnte sich sichtlich nun hin‐
ab ins Meer, obwohl sie noch hoch genug
stand, um nicht allsobald befürchten zu las‐
sen, daß sie das Meer verschlingen könne.
.Dennoch fingen ihre Strahlen schon an,
ins Gelb des frühen Abends sich zu wandeln,
und mählich mischten sich auch rosenrote
Töne ihrem Lichte, so daß die ferne Weite
immer mehr in lichtem Farbenschmelz er‐
glühte und auch die Nähe warmer Farbe
Sättigung erfuhr.
.Das Auge trank solche Schönheit in vol‐
len Zügen und man wunderte sich nur, wie
man den grauen Alltag nördlicherer Breiten
sonst auszuhalten fähig war...
.Es mußten doch wahrlich nur einst die
Tapfersten gewesen sein, die sich erkühn‐
ten, solche unwirtliche Gegenden sich aus‐
zusuchen, ‒ wenn es nicht vielleicht die
Ärmsten waren, die lieber noch der Unbill
sonnenarmer Sommer sich ergeben wollten,
als weiter Hörige zu sein der Reichen, die
des Südens Üppigkeit nur eigener Genuß‐
sucht dargeboten wähnten. ‒ ‒
*
.So mochten mancherlei Gedanken in den
Gehirnen der drei Freunde sich kreuzen, als
nach einer kleinen Pause doch der Jüngste
der Drei das Wort nahm und also seine Rede
formte:
.„Seht, liebe Freunde, ich komme mir oft
recht unerfreulich vor, wenn ich nur stets
als
Lehrender, Ihnen, den so viel älteren
entgegentrete. Sie nennen mich selbst Ihren
jungen Freund und daraus glaube ich
doch entnehmen zu müssen, daß Sie die
Jahre, die von Ihnen mich trennen, gleich‐
sam als
Entschuldigung gelten lassen,
für vieles, was Ihnen an mir absonderlich
erscheint, obwohl Sie jetzt wissen, daß
diese vermeintliche 'Absonderlichkeit' ihre
Gründe hat! ‒ ‒”
.Doch, wie aus einem Munde ließen die
Älteren sich vernehmen und bekundeten
entschieden, daß sie es nur als Ehre betrach‐
ten wollten, wenn der Jüngere sich zu ihnen
rechnen möge, und daß sie ihn stets nur des‐
halb als soviel jünger empfinden müßten,
weil sie sich selbst fast für
zu alt, der‐
gleichen Umstellung des Denkens gegen‐
über, gehalten hätten. ‒ ‒
*
.Darauf nahm wieder der Jüngste das Wort
und seine Stimme war von tiefster Ergriffen‐
heit bewegt:
.„O Freunde, wie sehr bedingt sind doch
die Begriffe 'Jugend' und 'Alter', und wie
wenig haben sie im
Geistigen zu be‐
deuten!
.Dort gilt als 'Alter' nur
jene Zeit, die der
geistige Mensch der Ewigkeit bereits durch‐
laufen hat seit jenem Tage, der ihm den Im‐
puls zur Rückkehr in seine Urheimat
gab.
.An Erdenjahren erheblich jünger als
Sie Beide, dürfte ich doch hier im Geiste
der 'Ältere' sein, denn sonst wäre mir nicht
geworden, was mir ward. ‒ ‒
.Nun ist es mir Pflicht, Sie zu belehren,
auch wenn ich mir wahrlich nicht etwa
als 'Lehrer' verdienstvoll erscheine! ‒
‒ ‒
.Auch lehre ich Sie ja gewiß nichts, das
etwa mir mehr als seine Formung danken
würde, und gebe Ihnen nur weiter, was ich
einst selbst empfing.
.So möchte ich Ihnen denn heute von eini‐
gem reden, das ich an ähnlicher Stätte einst
erhalten habe, und wenn Sie gesonnen sind,
mir zuzuhören, so werden Sie manches er‐
fahren, was ich seither noch nicht in meine
Rede zu fügen wußte.
.Die Dinge, denen wir auf dieser Reise
Worte schaffen, lassen sich ja aus gar mannig‐
fachen
Perspektiven betrachten, und so
ergibt sich aus jedem neuen Standpunkt
stets ein neues Bild! ‒ ‒
.Was ich aber heute Ihnen sagen möchte,
knüpft dennoch an
Früheres an und soll
Ihnen nur noch besser erläutern, was ich
schon
vorher Ihnen sagen durfte. ‒ ‒
.Ich will den Meister
selber sprechen las‐
sen, so wie er zu mir einst sprach, als ich auf
südlicher Insel ihm erneut begegnet war und
er sich meiner Seele offenbaren wollte...
.Aus meinem Tagebuche nehme ich die fol‐
genden Worte:
*
.'Ferne sind uns hier der westlichen Welt
verderbliche und schrankenlose Gelüste!
.Ferne bleibt uns, was Deiner Ahnen Enkel
als die Wohlfahrt ihres Lebens ersehnen
mögen! ‒
.Auf diesem Eiland, das uns trägt, atmen
jetzt nur
wir zwei allein, denn nur wir
beide atmen
bewußt! ‒
.Wir
allein suchen uns Rechenschaft zu
geben, von dem, was etwa ein höheres Sein
in uns zu sehen vermöchte...
.Und so frage ich dich denn, ‒ Du,
den meine Seele liebt, ‒ wie vermagst
Du Dich selbst zu empfinden, ohne zu er‐
schrecken ‒ vor Deiner Seele unermeßlicher
Weite!? ‒ ‒ ‒
.Doch, Du antwortest mir:
.„„Die vor mir waren, ach, sie waren ge‐
wiß nicht anders als ich, und sie wußten bes‐
ser als mancher, der uns heute begegnet, des
Lebens Herren zu werden!
.Was soll es mir, mich nun über alle Frühe‐
ren zu erheben, und mich in einer Hoheit zu
empfinden, die mir gewiß nichts nütze ist,
wenn ich heute diese Erde für immer ver‐
lassen muß?!””
.Aber ich habe Dir anderes zu sagen und
Du wirst mich also sprechen hören:
.Gar töricht erweisest Du Dich, mein
Freund, wenn Du in solcher Denkart Dich
gefangen geben willst!
.So sprechen nur enge Herzen und erd‐
gebundene Seelen, doch
Dich sah ich
wei‐
ter blicken bereits, und es waren
entlege‐
nere Fernen, die ich Dich mit Adlerblick
erfassen lehrte!
*
.Wohl bist Du ein verweslich
Tier, ein
Leichnam, der nur Dünger dieser Erde sein
kann, wenn Du dieser Erde unerbittliches
Gesetz zum
Herrscher über Deine Seele
werden lässest!
.Aber ich will Dich
anderes lehren, und
geloben sollst Du mir, Dich niemals von der
Erde niederen Kräften gängeln zu lassen, ob‐
wohl Du diese Erde auch
niemals verach‐
ten sollst, da nur in dieser Erde Leib
Dir die
Erlösung werden kann, solange
Du noch dieser Erde Dasein tragen mußt!
‒ ‒ ‒
.Ich will Dich lehren, der
Erde Kleid zu
Cherubsflügeln zu wandeln; ‒ ich will
Dich lehren: aus der
Erde Kraft Dich zu den
Sternen zu erheben! ‒
.Wir wollen selbander schreiten und Du
wirst bald erkennen, daß ich Dir Wege zeige,
die Du gewiß
vor meiner Weisung noch
nicht kanntest, aber ich will Dir auch zeigen,
wie man solche Wege betritt, und wie man
sie bis zum höchsten Ziele zu durchschreiten
vermag! ‒ ‒ ‒
.Weshalb wären wir uns nahegekommen,
wenn ich solchen Liebesdienst Dir nicht zu
erweisen vermöchte?! ‒ ‒ ‒
*
.Die Dich einstens lehrten, sie sprachen zu
Dir:
.„„Gar weise ist des Menschen klarleuch‐
tender
Verstand, der
alles zu hellen weiß
was des Menschen Bewußtsein in Finsternis
bannen möchte!””
.Aber längst weißt Du, daß Dein
Ver‐
stand Dich zum Sklaven tausendfachen
Irrtums machte, und
weise beginnst Du
zu werden, indem Du Dir sagst:
daß nie
Dein Verstand die Rätsel lösen wird,
die Dich in dieser Erdennacht umge‐
ben! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Hast Du endlich dieses Erste erkannt,
dann kann ich Dir weiter helfen, und so Du
mir nur
vertrauen magst, wirst Du gewiß‐
lich keine Enttäuschung erleben! ‒
.Siehe, alles, was Dir Dein Verstandeswis‐
sen gibt, ist nur in dem
kleinsten Teil Dei‐
nes Körpers ‒ in Deinem
Gehirn veran‐
kert, allein das Wissen, das Dir
ewig Nah‐
rung bieten soll, muß
Deines ganzen Kör‐
pers eigen werden!
.Darauf wollen wir weiterbauen!
.Daraus soll Dir die Gewißheit werden,
daß Dein
Körper Dir
vonnöten ist,
willst du zu völliger
Erkenntnis kommen!
‒ ‒
.Nicht von heute auf morgen ist solche Er‐
kenntnis zu erlangen, aber wer sie aus tief‐
stem Herzensgrunde
sucht, dem wird sie
sicherlich werden! ‒
*
.Wie jede tiefere Erregung Deiner
Seele
alsbald Deines ganzen
Körpers Atome
mit‐
schwingen läßt, so muß auch Dein Körper
willig sich bewegen lernen, wenn
Geisti‐
ges Dein Bewußtsein berührt.
.Was Dir auch nahekommen mag, von gei‐
stigen Dingen: Du wirst es erst
wahrhaft
erfassen und
dann nur restlos Dir zu eigen
werden sehen, wenn
jede Faser Deines
Erdenleibes greifend danach verlangt, um
so, wie zwei Hände einander finden, sich als‐
dann
ergreifen zu lassen!
.Nur in
solcher „„Ergriffenheit””, auch
Deines ganzen
Körpers, wird sich Dir eini‐
gen können, was vom
Geiste her zu Dir
kommt; und anders wird
wahrhaft Gei‐
stiges niemals erlangt, als durch vollkom‐
mene
Vereinigung! ‒ ‒ ‒
*
.Über Geistiges
nachzudenken, mag
Dich wohl in gewisser Weise
fördern, allein
zum
Ziele führt es
nicht!
.Wohl kannst Du Dir manches Wissen die‐
ser Erde auf solche Weise erwerben, aber so‐
bald Du einmal dieser Erde Leib verlassen
mußt, wird solches Wissen Dir verloren und
zu nichts mehr nütze sein!
.Geistiges Wissen ist wahrlich
anderer
Art!
.Es kann Dir nur werden, wenn Du mit dem
Gegenstande dieses Wissens Dich zu
ver‐
einigen vermagst! ‒ ‒ ‒
.Wä
hrend
vergängliches Wissen stets
nur ein
Be-
greifen, ein
Er-
fassen, ein
Ent-
decken, ein
Er-
finden, ein
Er‐
schließen ist, handelt es sich beim
geisti‐
gen, ewig
bleibenden Wissen um ein
Inne‐
werden! ‒ ‒
.Du kannst im Geistigen nichts erlangen,
es sei denn, Du selber läßt Dich in Deinem
innersten Innern durch das Geistige
wan‐
deln und
wirst, was Du erkennen
willst! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
*
.Das erscheint Dir heute noch unsagbar
schwer, da Dein Denken noch nicht gelernt
hat, Deinem Willen zu
gehorchen.
.Nicht eher aber kannst Du Geistiges ver‐
nehmen in Dir selbst, als bis Du Deinem
Denken Schweigen zu gebieten vermagst
und seinem vorlauten Wichtigtun wehren
lerntest!
.Später, wenn Du dereinst im Innewerden
zur Erkenntnis in Vereinigung gekom‐
men bist, wirst Du Dein Denken reichlich
entschädigen können für die Zurückhaltung,
die Du ihm vorher auferlegen mußtest!
.Dann wirst Du ihm eine neue Unterlage
für sein Wirken geben können, auf der es
sodann in gleicher Sicherheit bauen mag,
wie dort wo die Sinnenwelt ihm Funda‐
mente bietet. ‒ ‒
.Die Kraft des Denkenkönnens ist eine
wundersame Gabe, allein sie kann Dir dort
nur Segen bringen, wo Du ihr selbst die
sichere Unterlage gibst. ‒ ‒
.Du darfst nicht durch Dein Denken erst
diese Unterlage schaffen oder finden zu
können wähnen, wenn Du nicht einem Wahn
erliegen willst, der in den Gehirnen schon
seit den frühesten Zeiten der Erden‐
menschheit bis auf
unsere Tage, tausend‐
fachen Irrtums Ursache ward! ‒ ‒ ‒
.Man scheitert stets aufs neue daran, daß
man
erdenken möchte, was allein im Inne‐
werden zu
erleben ist und
dann erst Ma‐
terial des Denkens
werden kann.
.Man glaubt in seinem
Denken Geistiges
zu erkennen und weiß nicht, daß Geistiges
nie in Gedanken faßbar wird, bevor man
es
erlebte, da es nur im
Erleben wahrhaft
empfunden werden kann; in einem Erleben,
das
nichts mit gedanklichem Erkennen ge‐
meinsam hat. ‒ ‒
*
.Jenseits allen Denkens, die Gedanken an
sicherem Halfter zügelnd, als
Beherrscher
Deines Denkens, sollst Du das
Erschau‐
bare in Dir selbst
erschauen lernen durch
Versenkung in Deine innerste Tiefe: ‒
als‐
dann erst darfst Du Deinen Gedanken Frei‐
heit geben, und
dann erst werden Deines
Denkens Schlüsse
Geistiges aus Geisti‐
gem zu erschließen vermögen! ‒ ‒'
.So endete damals des Meisters Rede!
.Ich aber glaube, es war nicht ganz über‐
flüssig, sie Ihnen mitzuteilen?!”
*
.„Gewiß nicht”, erwiderte der Physiker,
„und wie alles andere, so leuchtet es mir auch
wahrhaftig ein, daß unser
Denken stets nur
bedingt ist durch die
Prämissen, von
denen es jeweils seinen Ausgang nimmt!
.Wenn ich recht verstehe, so zweifelte ja
auch Ihr Guru keineswegs an der Richtigkeit
logischer Schlüsse; nur gab er Ihnen die Er‐
wägung nahe, daß unser Denken sozusagen
indifferent ist, gegenüber der
Grund‐
lage auf der es arbeitet, so daß auch die lo‐
gisch unanfechtbarsten Schlüsse dennoch
letzten Endes
falsch sein können, sobald sie
auf
Voraussetzungen fußen, die selber
von Anfang an
nicht gehörig gesichert
sind.
.Ich verstehe auch sehr gut, daß wir für
unser Denken, soweit es
geistige Dinge be‐
trifft, nicht minder einer
Erfahrungs‐
grundlage bedürfen, wie wir ja solche auch
für unser
physischen Dingen zugewand‐
tes Denken tatsächlich besitzen, und daß es
falsch ist, wenn man glaubt, man könne
einen Ersatz für solche Erfahrung jemals
im
Denken selber gewinnen. ‒ ‒
.Das alles begegnet in mir gewiß keinem
Zweifel mehr, allein ich frage mich, wie ich
nun
selbst zu solcher Geisteserfahrung, die
vor allem Denken über Geistiges liegen soll,
gelangen könnte, und
hier breiten sich denn
vor mir nur sehr unsichere Gefilde, so daß
ich zögere, mich ihnen zu vertrauen. ‒”
.Und der Jüngere antwortete und sprach:
.„Soweit Ihnen noch nicht aus alledem was
ich Ihnen sagen durfte, näherer Aufschluß
wurde, will ich auch in diesem Punkte
den
Meister selbst zu Ihnen reden lassen, denn
auch ich hatte einst die gleiche Frage zu stel‐
len und mein Tagebuch verzeichnet getreu‐
lich des Meisters Antwort, die ich in jenen
Tagen erhielt.
*
.Also sprach dereinst zu mir der Meister:
.'Gewohnt von Jugend auf, nur in Deinem
Denken letzte Entscheidung zu suchen, hast
Du die Kraft in Dir verkümmern lassen,
durch die Dir Gewißheit im
Innewerden
kommen soll!
.Aber alle Gewißheit, die Dir Dein Denken
jemals geben kann, ist nur wie ein Schatten‐
bild jenes
gewissen Wissens, das Dir im
Innersten wird, sobald Du es vermagst, Dich
über Dein Denken zu
erheben und selber
einzugehen in jenes Reich, davon Dein
Denken Dir
niemals Kunde bringen
kann.
.Du selbst mußt Deinem Denken von je‐
nem Reiche Kunde bringen, wenn es auch
hier sich bewähren soll! ‒ ‒
.Willst Du aber hinfinden zu der engen
Pforte, die zum wachen Erleben führt, dann
wirst Du alle breiten Straßen, die irdisches
Denken bahnte, bewußt verlassen müssen!
.Auch der
Veden Weisheit ist in vielen
Stücken nur törichtes Ersinnen, wenn es
gelten soll, jene wahrlich enge Pforte zu
finden!
.Es bewegt sich auf breiten Wegen die
Upa‐
nischad, und der
Avesta geht die gleichen
breiten Straßen betörten Denkens, wenn
auch in
alledem zuweilen die
Spuren sol‐
cher zu finden sind, die jenen schmalen Pfad
gefunden hatten, der zu der Pforte des Le‐
bens führt. ‒ ‒
.Auch was jener Sidharta lehrte, den sie
den
Buddha nannten, wird Dich
nicht
zum Ziele führen, mag es auch manche weis‐
heitsvolle Erkenntnis in sich bergen, die
wahrlich nicht des
Denkens Frucht zu nen‐
nen ist!
*
.Gar manche
versuchten, unerkannt, den
schmalen Pfad zu zeigen, aber nur
Einer
ist der Menschheit weithin bekannt gewor‐
den, der es nicht nur
versuchte, sondern
durch
Tat und
Leben ihn zu zeigen
wußte...
.Euch Christen ward er nachmals zum
„Gott” und Ihr nennt Euch nach ihm, aber
vergeblich suche ich solche unter Euch, die
seiner Wegspur folgen. ‒ ‒ ‒
.Törichte Narren glaubten zu manchen
Zeiten seine Weggefährten zu sein, sobald sie
nur suchten, ihn, nach seines Lebens vielver‐
wirrter Kunde, nachzuäffen und selbst in
heutigen Tagen noch lassen sich wahnbetörte
Schwärmerseelen finden, die sich im Äuße‐
ren mühen, seinem Bilde zu gleichen, und
bar jeder Scham, seine hohen Worte ihrem
selbstgefälligen Treiben dienstbar zu machen
trachten.
.Die hirnverbranntesten Gesellen haben
seinen Namen schon entweiht; aber auch un‐
ter denen, die ihm ehrlich folgen wollten,
gab es nicht wenige, die ihn unbewußt
lästerten, wo sie seinem Worte zu entspre‐
chen glaubten. ‒ ‒
.Wahrhaft ein Wunder bleibt es, daß er
trotz aller Greuel, die da in seinem Namen
schon die Menschheit schändeten, noch im‐
mer verehrungwürdig durch die Geschichte
dieses Erdenmenschen schreitet! ‒ ‒
‒ ‒
*
.Der äußerst Seltenen einer, die sich selbst
als das bekennen
müssen, was sie sind, hat
man sein Bekenntnis wahnerfüllt
miß‐
deutet und aus ihm den „Gott” gemacht;
aus seinen Worten aber eine Lehre, die
sich mit alter Götterlehre mengte, ohne die
tiefverankerte, geheime Weisheit mitzu‐
übernehmen, die in solcher Götterlehren
Kunde sich dem Wissenden zu offenbaren
wußte. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Von
frühester Zeit an hat man so ge‐
fehlt!
.Er aber ‒ der
Unseren einer ‒ und
dennoch uns allen, die wir seine Brüder im
Reiche des Geistes sind, so sehr an
Liebes‐
kraft überlegen, war wahrlich der
Einzige
aus uns, der
aller Menschheit einst den
schmalen Pfad zu zeigen wußte, der zu der
engen Pforte des wachen, ewigen Lebens
führt...
.Von
ihm dieses Weges Weisung sich er‐
teilen zu lassen, kann auch dem Weisesten
nichts von seiner Würde nehmen! ‒ ‒ ‒
.Aber
er wußte einst auch zu sagen, daß er
zu senden wisse, wer seiner Sendung Siegel
führe und daß
ihn aufnehme, wer
den auf‐
zunehmen wisse, den er senden wolle, aus
dem
Hause seines „
Vaters”, von dem er
sagte: daß es
Vieler Wohnung in sich
schließe.......
*
.Er
zeigte den Weg ‒ den schmalen
Pfad ‒ der zu der Pforte des Lebens führt,
und er lehrte diese Pforte
öffnen!
.Wer aber
nach ihm kommt, kann sein
Siegel nur erweisen, wenn er den
gleichen
Weg zu zeigen weiß!
.Es gibt hier letzten Endes nur den
einen Weg, und wohl Euch, wenn Ihr ihn
betretet! ‒ ‒
.Seht doch, wie der Zimmermann ihn
zeigte, der da wie wir, ein
Meister des
wahren Lebens war!
.Sein
Leben war auch seine
Lehre! Ver‐
geblich würdet Ihr Euch mühen, wolltet Ihr
unter dem Schutt der späteren Verfälschung
seiner alten Lebensberichte eine
Gedan‐
kenweisheit zu erspähen suchen, der
er sein Erkennen etwa hätte verdanken
können!
.Nicht aus
Ägypten und nicht aus
Indien
kam ihm seine Weisheit, und
zu jeder Zeit
kann wahrlich
gleiche Weisheit finden, wer
ihrer
würdig ist!
.Seines „
Vaters” Kraft und Weisheit war
es, die sich nach seinem eigenen Wort in
ihm offenbarte, aber dieses „Vaters” Weis‐
heit ist kein Werk des
Denkens, sondern des
wachen
Seins! ‒ ‒
*
.Auch ich, o Teurer, kann Dich nicht zu wa‐
chem Erkennen in
Innewerdung führen,
es sei denn, ich führe Dich den
gleichen
Pfad, den der hohe Meister von Nazareth be‐
schreiten lehrte, nachdem er selbst einst sich
zum „Wege” gewandelt wußte und gar wohl
sagen durfte, daß er „der Weg, die Wahr‐
heit und das Leben” sei. ‒ ‒ ‒
.So will ich denn heute diesen Weg Dir
zeigen und Dir lichte Lehre geben, wie Du
am ehesten den Höhenpfad verfolgen
kannst, der Dich zur Pforte des wachen
Selbsterlebens im Geiste führt.
.Öffne Dein Herz und höre mir zu!
.Du sollst hier tiefstes Mysterium in
Dir selbst zu erfahren fähig werden!
.Letztes Geheimnis soll sich Dir ent‐
schleiern!
.Zu Deinen höchsten Gipfeln will ich Dich
leiten und an meiner Hand sollst Du
gefahrlos alle Abgründe unter Dir sehen
lernen!
.Wenn Du mir folgen willst, wirst Du wahr‐
haftig zu Deiner höchsten Höhe finden, zu
jener höchsten Höhe, die Dir im Firnenlichte
des Geistes Deine ewige Abkunft zeigt,
hoch über den dunstigen Gefilden, in denen
sich Deiner Erdentage irre Bahn be‐
wegt! ‒ ‒ ‒
.So höre denn und folge mir, wenn Du
be‐
rufen bist mir zu folgen, und also mir zu
folgen
vermagst! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
*
.Urzeitigen Falles Versklavter, warst Du in
düsterste Nacht versunken, aus der nur gött‐
liche Kraft Dich zu befreien wußte.
.Selbsteigenen Willens Gebundener an die
Macht der Herren dieses äußeren physischen
Kosmos, ein Höriger des „
Fürsten dieser
Welt”, wurdest Du Deiner
Gedanken
Beute, ‒ Du, der vordem
Herr allen Den‐
kens war! ‒
.Aus solcher Hörigkeit gilt es Dich
zu lösen! ‒ ‒
.Wäre
jener nicht über diese Erde ge‐
schritten, von dem ich vordem sprach: jener,
den wir den
Größten der Liebenden nen‐
nen, so würde nur
wenigen erreichbar das
Ziel, von dem ich Dir künde...
.Er aber vermochte es, die „Aura” dieser
Erde so zu wandeln, daß
alle, die da „
guten
Willens” sind, einzugehen ins Licht, auch
die
Kraft empfangen, die ihres Willens
Sehnsucht
Erfüllung werden läßt. ‒ ‒
.So können heute gar viele ihre „
Erlö‐
sung” finden, die
ohne seine Liebestat auf
Golgatha nur Opfer der Vernichtung hätten
werden müssen, ‒ zum mindesten jedoch
äonenlanger Qualen Beute, bevor Befreiung
und Errettung ihnen hätte werden kön‐
nen. ‒ ‒ ‒
.Du hast es durch ihn nun
leicht, Dich
selbst zu lösen, so Du Dich
er-
lösen
willst! ‒
*
.Laß fahren alle erdachte Weisheit und
scheine sie Dir auch „Götterwort”, um zu
jener Weisheit aus
Tat und
Leben hinzu‐
finden, die auch der Weisesten dieser Erde
hohe Lehren nicht ergründen, da sie in Tie‐
fen ankert,
die kein Denken je ermessen
kann! ‒ ‒ ‒
.Die
Einfalt des Kindes suche in Dir
zu erreichen, durch die Du vermagst, aus
Deiner
vielfältig gewundenen Enge Dich
zu lösen, in der Dich
gebunden hält, was
nicht Du selber bist! ‒ ‒
.Es ist wahrlich leichter, daß ein Kamel
‒ und sei es auch nur ein Seil aus dessen Haa‐
ren ‒ eingehe durch ein Nadelöhr, als ein
nach
irdisch gerichteter Geistigkeit „Rei‐
cher” in das Himmelreich!!
*
.Das heißt: daß alle
Verstandesweisheit
nur zur
Torheit wird, wo es gilt, den
Geist
des Lebens in sich selbst zu finden! ‒
.Hier gibt es kein „Training”, keine Schü‐
lerübung, die zum Erfolge führt, und nichts
kann sichere Gewähr verheißen, als nur die
Tat und waches, tatbereites
Leben! ‒
.In wacher
Tat nur kann der Strebende
hier vorwärts kommen, und so nur erschließt
sich ihm ein
Geheimnis, das er
vergeb‐
lich zu ergründen sucht, solange er noch in
Gedanken darum buhlt! ‒ ‒ ‒
.Hat er erkannt, um was es sich handelt,
dann wird er lächelnd seiner Torheit ge‐
denken, die vordem ihm erreichbar scheinen
ließ in menschlichem
Erdenken, was nun
erfaßbar nur sich zeigt durch die hohe
Gnade. ‒ ‒
.So faßten es die Alten, und anders wird
man auch in diesen Tagen nicht zu fassen
wissen, was stets
Mysterium bleibt, auch
wenn es Tausende dereinst zu erringen wis‐
sen.....
*
.Nicht dadurch, daß man seltsame
Kräfte
erstrebt, kommt man diesem
Mysterium
nahe; aber wer es erreichte, dem werden
ohne alles Zutun wahrlich
wundersame
Kräfte zu eigen, ‒
einem jeden andere,
‒ so wie sie ihm dienen können zu seiner
Vollendung. ‒ ‒ ‒
.Hier ist jede Willkür ausgeschlossen, und
so nur, wie der
Geist seine Gaben selber
geben
kann nach ewig innewohnendem Ge‐
setz, sind sie für den Menschen zu erlangen.
.Wem aber des Geistes
Gaben wichtiger
sind als das
Glück der Vereinung, das
solcher Gaben
Vorbedingnis ist, der wird
gewißlich weder das eine,
noch das andere
erreichen und nur
äonenlanger Täu‐
schung verfallen. ‒ ‒
.Das Glück der
Vereinung aber ist das
Endziel, und die
Gaben des Geistes, die
Dir dann werden können, sind der
Errei‐
chung dieses Endzieles gegebene Folge.
*
.Der
Anfang Deines Weges ist
hier auf
Erden,
inmitten des Alltags zu finden;
alle
Wegstationen liegen dann noch in
irdischem Bereich; ‒ erst wenn Du sie
alle nacheinander zu erreichen wußtest,
wirst Du Dich in Wahrheit von der Erde
lösen können und das
Reich des Gei‐
stes betreten, wo das
Endziel Deiner war‐
tet. ‒ ‒
.Ach, daß so viele zwar den glühendsten
Wunsch in sich tragen, das
Endziel zu er‐
reichen, aber sich nicht zur Einsicht erheben
können, daß dieses Endziel sich nur errei‐
chen läßt, wenn man den Anfang des Weges
mitten im Alltag sucht, und dann von hier
aus stets die nächste Wegstation als
erstes Zwischenziel ins Auge faßt, bis man
sie erreichte, um dann die wieder nächste
sich zum Ziele zu setzen! ‒
.Statt dessen glaubt man schon den An‐
fang des Weges nur finden zu können, in‐
dem man dem Alltag entflieht und eine
Welt sich aus der Phantasie erbildet, die
nur der Vorstellungskraft ihr Dasein
dankt! ‒ ‒
.Von da aus späht man nun nach dem End‐
ziel aus und glaubt es erreichbar ohne
Zwischenziele, so daß man zuletzt des eige‐
nen Wähnens Beute wird und sich das ver‐
meintliche Reich des Geistes ebenso aus dem
Nichts der Vorstellung erträumt, wie
man sich vorher schon die Illusion zu schaf‐
fen wußte, man sei der Erde Alltag weit ent‐
rückt und habe den Weg zum Geiste längst
betreten...
.Man weiß sich nicht in Zucht zu nehmen,
um in Beharrlichkeit den Weg des Le‐
bens zu durchschreiten: möchte vielmehr
am liebsten morgen schon am Ziele sein, und
schafft sich so
selbst die Täuschung, der
man dann erliegt in einer trügerischen
Wonne, die zu Ende ist, wenn dieser Erde
Leib die Kräfte nicht mehr nährt, aus de‐
nen man sich seine Scheinwelt zu gestalten
wußte. ‒ ‒
*
.Wahrlich, hier sind selbst jene noch weit‐
aus besser durch sich selbst beraten, die den
Trug solchen Wahns erkennend, ihm nur
Verachtung bezeigen, auch wenn sie nicht
ahnen, daß sie ferne allem Wähnen den
Weg
der Wahrheit, der ein
Weg des Lebens
ist, in sich zu finden vermöchten! ‒
.Sei Du aber weder
diesen noch
jenen
gleich und folge vielmehr meiner Lehre, in‐
dem Du den Weg des
Lebens, den Weg der
wachen
Tat von Anfang an beschreitest, um
ihn von Ziel zu Ziel bis zum
Endziel hin
zu durchwandern, ohne danach zu fragen,
wann Du das Endziel erreichen wirst!
.Sollst Du es nicht
hier schon, und
wäh‐
rend Deines Erdenlebens erreichen, so
wirst Du es doch mit Sicherheit gar bald Dein
eigen nennen, auch
wenn Du von hinnen
scheiden müßtest,
ohne es noch erreicht zu
haben, denn man wird Dir dann eine
Hilfe
bieten können, die für
keinen erfaßbar ist,
der nicht schon hier in seinem Erdenleben
den
Weg des Lebens und der Tat be‐
schritten hat! ‒ ‒ ‒
*
.Hier,
mitten in Deinem Alltag,
mit‐
ten im Leben Deines Berufs und Dei‐
ner irdischen Pflichten sollst Du den
Anfang finden! ‒ ‒ ‒
.Es ist dieser „Anfang” nichts anderes als
das Erkennen, daß man auch sein
alltäg‐
liches Leben vom Standpunkt eines
ewi‐
gen Lebens her betrachten und auswirken
kann. ‒ ‒ ‒
.Die erste
Aufgabe ist nun: sein Alltags‐
leben als einen
Teil seines
ewigen Lebens
betrachten zu lernen und in
eiserner Be‐
harrlichkeit alle Verpflichtung des All‐
tagslebens so zu erfüllen, daß man
gewiß
zu sein glauben darf, in aller Ewigkeit nichts
zu bereuen zu haben, was man in diesem All‐
tagsleben tun oder unterlassen mag.
.Das
erste Wegziel, das es zu erreichen
gilt, besteht darin, daß man jene
Ruhe des
sicheren Gewissens erreiche, die solcher
beharrlichen
Erfüllung der Alltagspflich‐
ten früher oder später, aber
mit aller Ge‐
wißheit folgen muß.
*
.Ist dieses
erste Wegziel erreicht, dann
zeigt sich von selbst das
zweite, das darin
besteht, daß man
über den Alltagspflichten
noch
andere erkennt, die zwar im Alltag
nicht als „Pflichten” gelten, aber dann als
solche
empfunden werden. ‒
.Nun gilt es,
diese Pflichten
ebenso zu
erfüllen,
ohne etwa die Alltagspflichten
hintenan zu stellen! ‒ ‒
.Was diese Pflichten
gebieten, wirst Du
augenblicklich wissen, sowie Du wirklich das
erste Wegziel zu erreichen wußtest!
.Für jeden einzelnen zeigen sich diese wei‐
teren Pflichten in
anderer Gestalt, und es
wäre daher
unmöglich, Dir sie näher be‐
zeichnen zu wollen. ‒
.Du wirst aber
niemals, wenn Du das erste
Wegziel
erreichtest, etwa in
Zweifel ge‐
raten können,
worin diese neuen Pflichten
für Dich bestehen, und was sie von Dir for‐
dern!
*
.Hast Du auch
diese Pflichten getreulich
und mit Beharrlichkeit, so wie die Alltags‐
pflichten, längere Zeit hindurch
erfüllt, so
wird sich von selbst das
dritte Wegziel Dir
als erreicht erweisen, indem Du die gleiche
Ruhe des sicheren Gewissens, die nach
vollendeter Erfüllung der
Alltagspflich‐
ten Dir geworden war, nun auch in Hinsicht
auf diese
höheren Pflichten empfinden
wirst. ‒ ‒ ‒
*
.Alsdann aber wird sich Dir auch sogleich
ein neues Wegziel zeigen, und Du wirst se‐
hen, daß es nichts anderes von Dir verlangt,
als daß Du nun auch für
andere wirksam
zu machen suchst, was
Dich selbst so weit
förderte.
.Es ist hier nicht von Dir verlangt, daß Du
in törichtem Bekehrungseifer, jeden, der
Deinen Weg kreuzen mag, zu dem überreden
sollst, was Dich zu Deiner Selbstgewißheit
führte; allein man will, daß auch Du Dich
in den Dienst des gleichen Wirkens stellst,
das Dir schon erste Befreiung brachte, und
daß Du durch Dein
Beispiel in gleichem
Sinne zu wirken trachtest. ‒
.Auch dieses
vierte Wegziel bestätigt seine
Erreichung durch die bewußte
Ruhe des
Gewissens, die Dir anzeigt, daß Du es
‒ nicht durch Reden und Dispute ‒ son‐
dern durch
Leben,
Tat und
Handeln zu
erreichen vermochtest!
*
.Und allsogleich wirst Du das
fünfte Weg‐
ziel vor Dir sehen, das von Dir verlangt, Dich
als
Schaffenden zu bewähren!
.Du wirst auf irgendeine Weise nun
pro‐
duktiv in das Leben Deiner Umwelt einzu‐
greifen haben,
nicht etwa indem Du ver‐
suchst, hier
Mißstände auszutilgen, son‐
dern dadurch, daß Du
Förderliches im
Sinne der Dir bereits gewordenen Erkennt‐
nis, in Deiner Umwelt zu
schaffen trach‐
test. ‒ ‒ ‒
.Stellt sich auch hiernach dann die schon
mehrfach mit Sicherheit empfundene, si‐
chere
Ruhe des Gewissens ein, so wird
sie jetzt verbunden einer neuen
Erkennt‐
nis in Dir sich bezeugen, und dies ist die
sechste Wegstation, die sechste Stufe Dei‐
nes Weges, der Dich dann in der
siebenten
zur
Vereinigung mit Deinem geistigen Ur‐
grund führen soll! ‒ ‒ ‒
*
.Die neue Erkenntnis aber wird Dir sagen,
daß nun der Zeitpunkt gekommen ist, zu
versuchen und
immer erneut zu ver‐
suchen: ob Du Dich mit Deinem ganzen Sin‐
nen und Trachten,
ohne die Erde zu ver‐
lassen, dennoch geistig soweit
aus ihrem
Getriebe zu lösen vermagst, wie es nötig
ist, um das
Reich des Geistes in Dir die
Vereinigung vollziehen zu lassen, durch
die Dein erdenhaftes Bewußtsein fähig wird,
Deines
lebendigen Gottes heiliges
Wort
in Dir selbst zu vernehmen, ohne jemals noch
der Täuschung zu verfallen.
*
.Nicht früher sollst Du es versuchen,
Dich aus dem gewordenen Getriebe zu lösen,
als bis Du
völlig sicher bist,
alle früheren
Wegstationen wachend durchwandert zu ha‐
ben!
.Würdest Du es
früher versuchen, so
müßtest Du notgedrungen zur Beute
täu‐
schender Gewalten werden, um erst
nach Deiner Erdenlebenszeit voll Ent‐
setzen zu erkennen, wie sehr man Dich be‐
trog!
.Du würdest dann einem gleichen, der im
Traume zu
fliegen glaubt und sich seines
Könnens freut, während er beim Erwachen
sehen muß, daß er nach wie vor der Schwer‐
kraft, die ihn an die Erde fesselt, nicht Herr
zu werden vermag. ‒
*
.So einfach es Dir auch erscheinen mag,
jene früheren Wegstationen zu durchwan‐
dern, und so sehr Dich die Versuchung lok‐
ken will, zu glauben: Du
hättest sie längst
durchwandert, so sehr muß ich Dich warnen,
Dich hier einer
Selbsttäuschung hinzu‐
geben!
.Du stellst nicht nur den Erfolg Deines gan‐
zen Strebens in Frage, sondern begibst Dich
freventlich in Gefahr, den Weg, der Dich
zum Lichte führen sollte, für Äonen zu ver‐
lieren, wenn Du zu früh versuchst, die Lö‐
sung aus dem erdenhaften Getriebe zu er‐
reichen.
.Hast Du aber wahrhaft und ehrlich Dei‐
nen vorbezeichneten Weg durchschritten und
bist Dir bewußt, daß Du
keines seiner Zwi‐
schenziele
versäumtest, dann wird Deine
Loslösung damit beginnen müssen, daß Du
versuchst, den nackten
Menschen in Dir zu
finden!
.Das scheint Dir nicht allzu schwer zu sein
und ist dennoch weit schwerer als Du er‐
ahnen kannst! ‒ ‒
*
.Bis hierher
durftest Du Dich ja noch
als Sohn einer bestimmten
Familie, eines
bestimmten
Volkes, als Angehöriger eines
bestimmten
Kreises empfinden, ‒ und
das mit gutem Recht.
.Bis hierher
durftest Du Dich ja noch
nicht aus solcher
Bindung gelöst empfin‐
den, wolltest Du Hoffnung hegen, jemals
Dein Ziel zu erreichen.
.Nun aber mußt Du
alle solche Bindung
allmählich vom Gesichtspunkte der
Ewig‐
keit aus werten lernen, denn
der ewige Geist
gibt sich keinem „
Meder” und keinem
„
Perser”, keinem „
Griechen” oder „
Rö‐
mer”, ‒ keinem Sproß aus diesem oder je‐
nem ehrenwerten Hause, und keinem Gliede
dieser oder jener Kaste, sondern nur: ‒ dem
nackten
MENSCHEN! ‒ ‒ ‒
.Diesen „nackten”, kosmisch gegebenen
Menschen mußt Du also nun in Dir
allein
noch fühlen und alles was ihn irdischer‐
weise besonders bestimmen mochte, muß Dir
dann wesenlos und vergänglich erscheinen!
.Doch würdest Du wahrlich meine Worte
gar irriger Deutung unterwerfen, wolltest Du
etwa glauben, nun müßte Dir auch in Dei‐
nem
Alltagsleben dieses als „wesenlos”
und „vergänglich” Erkannte,
wertlos er‐
scheinen!
*
.In Dein
Alltagsleben fügt es sich
wohl‐
begründet ein und
muß daselbst
erhal‐
ten bleiben, wenn Du die kosmische Ord‐
nung nicht stören willst; aber ebenso würdest
Du diese Ordnung in verbrecherischer Weise
stören, wolltest Du innerhalb Deines
All‐
tagslebens diesen bestimmenden und
durch ihre Bestimmtheit trennenden Mo‐
menten
größeren Wert verleihen, als ihnen
durch ihre Naturgegebenheit allein schon zu‐
steht! ‒ ‒
.Wenn Du im Alltag
liebend solche Be‐
dingtheit umfaßt, ‒ mag sie
Familien‐
kreis oder
Kaste,
Volkstum oder
Na‐
tion sich nennen, so wirst Du immer
rich‐
tig handeln und auch die Bedingtheiten
anderer zu
lieben wissen; allein, sobald
Du besonders
hervorzuheben suchst, was
Dich in solcher Weise als Glied des Mensch‐
heitsganzen bestimmt, wirst Du zum
Störer
kosmischer Ordnung, gleichwie ein Mu‐
siker in einem großen Orchester das Tonwerk
stören würde, wollte er
sein Instrument ver‐
stärkt ertönen lassen und lauter als es die
Rolle verlangt, die ihm des Tonwerks Mei‐
ster zugeschrieben hat! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
*
.Auch angelangt an dieser
letzten irdi‐
schen Wegstation, von der aus Du das Reich
des Geistes bald betreten sollst, darfst Du
nicht etwa wähnen, nun auch nur
eine der
vorher erkannten Pflichten
versäumen zu
dürfen!
.Im
Alltag mußt Du daher stets allem
seine
Rechte lassen, was des
Alltags ist,
und trotzdem mußt Du in Dir selbst jenes
höhere Empfinden tragen, das Dich als
„wesenlos” und „vergänglich” sehen läßt,
was
gleichwohl im Alltag seinen
Alltags‐
wert erweist! ‒ ‒ ‒
*
.Ist so nun im höchsten Bereiche Deines
Empfindungslebens nichts mehr zu finden als
der nackte, kosmisch gegebene MENSCH,
der sich der GOTTHEIT einen will, dann
wirst Du Dich erst selbst wahrhaft
lieben
lernen müssen, wirst immer mehr und mehr
Dich selbst nur noch als LIEBE zu emp‐
finden suchen dürfen, bis
nichts mehr in
Dir ist, das etwas anderes als LIEBES‐
FEUER wäre. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Also in
Liebe verzehrt, wirst du in dieser
glutgeläuterten Region zum Gefäße GÖTT‐
LICHER Liebe werden, und in Deinem inner‐
sten „Ich” wird sich Dein „LEBENDIGER
GOTT” Dir einen...
*
.Hier erst hast Du dann Deines Höhen‐
weges
Endziel erreicht, aber Du würdest
gar bald das Erlangte wieder
verlieren,
wolltest Du Dich nun, soweit Du als Sohn der
Erde auch Deinem
Alltag gehörst,
Dei‐
nen Alltagspflichten enthoben wäh‐
nen! ‒ ‒ ‒
.Der Weg ist nun
in Dir, auf dem Du fort‐
an zu jeder Zeit, und zwar noch im Augen‐
blick Deines Wunsches, Dich zu Deiner höch‐
sten Höhe im Reiche des Geistes, zu
Deiner
Einheit mit Deinem lebendigen
Gotte erheben kannst; und von dieser höch‐
sten Höhe aus wird auch Dein Alltag
Licht
empfangen, ‒ ein Licht, das
nicht von die‐
ser Erde ist, und irdischem Gesetz
nicht
unterworfen! ‒ ‒ ‒
.Dann wirst Du vielleicht erfassen können,
was jener
große Liebende einst lehrte, als
er davon sprach, daß das Reich der Himmel
„nahe” sei, und daß man nicht sagen könne,
es sei da oder dort, oder glauben dürfe, es
komme mit großer Gebärde, denn:
.„
Das Reich Gottes ist in Euch!” '
*
.In hoher Begeisterung waren diese aufge‐
zeichneten Worte verlesen worden und die
beiden älteren Männer, die ihres jüngeren
Freundes Stimme lauschten, waren tief er‐
griffen von dem, was sie hier gehört.
.Nach einer Weile des Schweigens erhob
sich nun der Älteste der drei und sprach:
.„Wahrhaftig, es ist die erhabene Lehre,
die wir hier empfingen und das Geheimnis
wahren Lebens hat sich uns nun enthüllt!
.Wie viele Rätsel finden in dieser Lehre
ihre Lösung!
.Wie anders sieht man das Dasein des Men‐
schen auf dieser Erde an, wenn man solches
hören durfte!
.Nun ist mir jede Frage erstorben und ich
sehe den Weg mit aller Deutlichkeit vor mir,
den ich zu durchschreiten habe! ‒”
*
.Und auch der andere der drei Freunde, der
sich, während der Alte also sprach, gemein‐
sam mit dem Jüngsten erhoben hatte, ließ
sich nun in gleicher Weise vernehmen, und
seine Worte klangen in das Bekenntnis aus:
.„Uns ist Großes widerfahren auf dieser
Reise und als andere kehren wir heim, wenn
morgen die Zeit des Abschieds von dieser
Insel naht!
.Nun wird auch unser Alltag, den wir nur
allzuoft als grau und leer empfanden, Farbe
und Inhalt gewinnen, und wenn man in
alten Zeiten hier die Sonne als Symbol der
Gottheit ehrte, so darf ich sagen, daß auch
ich jetzt solchem Sonnendienst ergeben bin;
nur trage ich diese Sonne in mir selbst
und ich glaube ihre Strahlen schon zu füh‐
len! ‒ ‒ ‒
.Wohl hatte ich mir manches Schöne von
unserer Reise erhofft, aber niemals hätte ich
erwartet, daß ich so mit lebenslang gesuch‐
ter Erkenntnis bereichert, zurückkehren
würde. ‒ ‒
.Es müssen wahrhaftig
höhere Mächte
über uns die Hände halten! ‒ ‒
.Und wenn wir beiden Älteren es auch be‐
dauern möchten, daß die Erkenntnis, die
sich uns nun zeigt, erst in so späten Jahren
zu uns kam, so müssen wir doch gestehen,
daß sie früher noch
verfrüht gewesen wäre
und sich offenbar die
rechte Zeit zu wäh‐
len wußte. ‒ ‒”
*
.Die beiden Schiffer hatten schon längst
die Barke wieder zum Meere heruntergeholt,
das jetzt spiegelglatt und wie flüssiges Licht,
bereit war, die Sonnenscheibe in sich aufzu‐
nehmen.
.Meer und Himmel schienen geeint in gol‐
dener Glut!
.Die Freunde bemerkten endlich, daß ihre
Ruderer wohl schon lange auf sie gewartet
haben mochten, und so stiegen sie denn hin‐
ab zum Strande, während der jüngste der
beiden Brüder, als er den Aufbruch gewahrte,
eiligst entgegenkam, um Körbe und Gefäße
zurück ins Boot zu holen.
.Nach wenigen Minuten schon war die
Barke wieder weitab von der Stätte, an der
man so lange gerastet hatte, aber nun war es
nicht mehr nötig, auf das offene Meer hin‐
auszusteuern und man konnte gefahrlos zwi‐
schen den Uferklippen hindurch die hohen
Felsenwände der Insel in nächster Nähe um‐
fahren.
.Wundersam farbenprächtig glühte das Ge‐
stein in der Strahlenfülle der leuchtend im
Meere versinkenden Sonne.
*
.An dieser Seite der Insel gab es nun nur
wenige grüne Schluchten und breitere, öl‐
baumbewachsene Einbuchtungen.
.Fast ununterbrochen türmten sich hohe
Felsenmauern auf, gar oft vom Meere unter‐
höhlt, so daß man in weite, geheimnisrau‐
nende Grotten blickte.
.Da die drei Reisenden für alles, was man
so aus nächster Nähe gewahren konnte, gro‐
ßes Interesse zeigten, machte es ihren beiden
Ruderern Freude, vom nächsten Rückweg
abzuweichen und jede der kleinen Meeres‐
buchten anzufahren, wobei man nun auch
dann und wann an besonders schönen Stellen
des längeren verweilte.
.So war es gekommen, daß allmählich die
Nacht hereingebrochen war, ‒ eine Nacht
mit immer sich mehrender Sternenpracht,
‒ während man vom festen Lande herüber
nur noch die flimmernde Lichterzeile der
nicht allzu fernen, großen Hafenstadt ge‐
wahrte.
.Die Insel selbst wirkte jetzt, als sei sie un‐
bewohnt, denn noch war man eine reichliche
Strecke von der Stelle entfernt, von der aus
man zuerst die Lichter ihrer Hügelstadt hätte
sehen können.
*
.In tiefem, schwarzem Felswandschatten
glitt die Barke, nun durch schärferen Ruder‐
schlag beschleunigt, dahin.
.Unzähliges Leuchtgetier des Meeres ließ
die Ruder, sobald sie das Wasser berührten,
blitzendes, bläulich phosphoreszierendes
Licht aus der Tiefe holen.
.Wie ein Raketenschweif leuchtete lange
noch die Kielspur des Bootes nach.
.Da hier die Fische nur des Nachts bei
Fackelschein gefangen werden, so begegnete
man auch zuweilen einem Fischerkahn, der
jetzt noch gespenstig in Dunkel gehüllt, hin‐
aus zu seinem Fangort fuhr.
.Fröhliche Begrüßungsworte wurden ge‐
wechselt und alsbald entschwand man sich
wieder in der Finsternis.
.Zuweilen, und besonders, wenn sie wuß‐
ten, daß ein gutes Echo ihrer Kunst sich
günstig zeigen mochte, ließen die beiden
Brüder auch die Lieder ihrer Heimat mit
aller Lungenkraft erschallen, aber da ihre
Stimmen nicht allzu viel von dem melodi‐
schen Wohllaut der großen Sänger ihres
Landes besaßen, so hörten die drei Reisen‐
den, des Textes kundig, zwar gerne zu, wuß‐
ten es aber dann nur um so mehr zu schätzen,
wenn wieder die tiefe Abendstille sie um‐
fing, durch das Geräusch der rhythmischen
Ruderschläge nur noch eindrucksvoller dem
Empfinden dargeboten.
*
.Endlich sah man nun auch, als man den
letzten hohen Felsvorsprung umfahren hatte,
die ersten Lichter von der Insel her, und nun
währte es nicht mehr lange, bis man den klei‐
nen Inselhafen erreichte, wo schon der be‐
stellte Vetturino mit seiner Kalesche seit
Stunden auf die Rückkehr der Barke gewar‐
tet hatte, um dann die Fremden in lang‐
samer Fahrt die vielgewundene Straße hin‐
aufzubringen zu der kleinen Stadt, wo ihre
liebgewonnene Gaststätte ihnen diese Nacht
zum letzten Male Obdach bieten sollte.
.Nachdem die Freunde hier noch ihren
Abendimbiß eingenommen hatten, ergingen
sie sich wohl noch eine kleine Weile unter
den Zedern und Palmen des nächtlich dunk‐
len Gartens und erfreuten sich an dem Licht‐
gefunkel auf dem Meere, das von den Fak‐
keln der zahllosen Fischerboote herrührte,
in denen man jetzt dem Fang oblag.
*
.Da man des anderen Tages abreisen wollte,
fand man es aber doch alsbald geraten, die
Nachtruhe aufzusuchen, nachdem man vor‐
her noch übereingekommen war, wenn ir‐
gend möglich, von der nahen Hafenstadt des
Festlandes aus, zur Heimfahrt den
Seeweg
auszunützen, soweit er sich nur benützen
ließ.
.Bei solcher Reiseart war schönste Gelegen‐
heit noch zu erwarten, alles was man in
diesen Wochen nun besprochen hatte, in
Sammlung seelisch erneut zu betrachten, um
ganz erfassen zu lernen, wie anders sich das
Erdendasein nun zeigte, nachdem jetzt
enthüllt sein segenbringendes Geheimnis
war. ‒ ‒ ‒
* *
*
DER Leser, der meine anderen Bücher
kennt, wird wohl längst schon heraus‐
gefunden haben, daß es sich mir wahrlich
hier nicht um eine „Erzählung” handelte.
.So brauche ich ihm wohl kaum zu sagen,
daß die erzählende Form dieses Buches nur
gewählt werden mußte, um auch denen die
Lehre, die mein sonstiges Wirken kündet,
näherzubringen, die allzu leicht den Mut ver‐
lieren und ermattet innehalten, wenn sie nur
abstrakte Lehre in einem Buche finden
und überdies fast ausschließlich nur von Din‐
gen hören, die ihrem Alltag doch allzu ferne
liegen mögen.
.Daß jedes Wort dieses Buches sich immer‐
hin an tatsächliches Erlebnis hält, sei
aber dennoch ausdrücklich betont!
.Die drei Männer des Buches wurden dem
Autor nur zu Trägern solchen Erlebens und
gaben ihm Anlaß hier ein Bild zu schaffen,
dem sich manche Farben einfügen ließen,
die nicht wohl verwendbar gewesen wären,
hätte er nur versuchen wollen, das reale
Urbild dergleichen Erlebens nachzuzeich‐
nen.
.Gleichwohl aber ist auch dies an vielen
Stellen geschehen, wenn auch der
örtliche
Hintergrund, wie der
Umriß der spre‐
chenden Personen Veränderung erfuhr, da
nur solcher Verzicht auf „realistische Zeich‐
nung” es dem Autor erlaubte, dem Erlebten
immerhin Ausdruck zu vermitteln.
.Es schien ihm auch nicht erforderlich, die
drei Sprechenden dieses Buches mehr als an‐
deutend zu charakterisieren, denn es sollte
ja nicht
Menschenschilderung gegeben
werden, sondern ein
Bild der
Lehre. ‒
*
.Wer diese
Lehre in sich aufzunehmen
fähig und
willens ist, der wird sie unschwer
aus der Umrankung zu lösen wissen, und
manchem mag sie in hier gewählter Verflech‐
tung erst völlig
lebendig werden. ‒ ‒ ‒
.Tausende fanden sie bereits in mannig‐
facher Weise
bestätigt, aber noch sind
Abertausende in allen Ländern der Erde
zu finden, die nach der „
Wahrheit”, nach
Lösung letzter Rätsel dürsten, und von einem
Irrweg auf den anderen geraten, um zuletzt
resignierend einzusehen, daß
keiner sie zur
Quelle der Erkenntnis zu führen ver‐
mochte. ‒ ‒
.All diesen Suchenden möge aus diesem
Buche die
Sicherheit des Vertrauens
werden, daß sie dennoch ihr Ziel erreichen
können, wenn sie den einzigen auf dieser
Erde folgen wollen, die
allein hier zu lehren
berechtigt sind; ‒ die nicht eigenen
Wäh‐
nens,
Erschließens und
Meinens
Kunde geben, sondern lehren, wie der
„
Vater”, den
sie allein nur kennen, sie zu
lehren heißt! ‒ ‒ ‒
*
.Eine jede Zeit verlangt andere
Form der
Lehre, und ewige Weisheit weiß gar wohl zu
entscheiden, wie jene, die ihr Werkzeug wur‐
den, zu wirken haben. ‒
.So handelt auch der Autor dieses Buches
keineswegs nach eigenem Ermessen, wenn er
das geschriebene Wort in den Dienst der
Lehre stellt!
.Wohin nimmer das Wort der
gespro‐
chenen Rede dringen kann, dort ist in die‐
sen unseren Tagen das
gedruckte Buch
noch erreichbar und es bietet stets von
neuem den Suchenden die
Lehre dar, die
eine gar sehr der Eile und Hast versklavte
Zeit alsbald im Winde verwehen lassen
würde, wäre sie nur durch des
Mundes
Stimme zu Zeiten vernehmbar. ‒
.Auch soll es vermieden werden, daß sich
„
Gemeinden” dieser Lehre bilden und daß
man zum
voraus hinzunehmenden
Dogma
macht, was erst
Erfahrung des Herzens
als wahr und wirklich erweisen kann. ‒ ‒ ‒
*
.Wohl ist es keineswegs verwerflich, wenn
da und dort ein Kreis von Suchenden es sich
zur Aufgabe stellt, der Lehre nachzuleben;
allein, wenn auch so manche Wahrheits‐
sucher ihrer Artung nach nur in
gemein‐
schaftlichem Streben Förderung zu finden
glauben, so darf doch keiner ‒ sofern er
nicht die Lehre
fälschen will ‒ sie etwa
nur an solches gemeinschaftliches Streben
gebunden erachten! ‒ ‒
.Auch in solcher
Gemeinsamkeit des
Suchens kann sie immer nur dem
einzel‐
nen ihre leuchtende
Tiefe enthüllen, und
es ist letzten Endes nur
irdisch persön‐
liche Neigung, die den einzelnen bestim‐
men mag, ob er sich andere als Weggefährten
wünscht, oder Genüge darin findet,
für sich
allein zu gehen. ‒ ‒ ‒
.Auf jenem
Höhenpfade, zu dem die
Lehre leitet, ist ohnehin ein jeder, der ihr
folgen will,
allein auf sich gestellt, mag er
um andere wissen, die den gleichen Pfad be‐
treten haben, oder nicht!
*
.Es mag auch jeder
jener Kulturge‐
meinschaft treu ergeben bleiben, die ihm
von früher Jugend an das Leitseil bot, an
dem er seinen Weg zum Geiste zu finden
hoffte, und wird er ihn dann durch ein
Le‐
ben nach der hier vermittelten Lehre wirk‐
lich finden, dann wird er seines Jugend‐
glaubens Dogma erst so zu
vertiefen wis‐
sen, daß er auch
anderen zu helfen weiß,
die an der Wahrheit ihrer Jugendglaubens‐
lehren längst verzweifelten, weil selbst die
Lehrer solchen Glaubens ihre Zweifel in
sich trugen und darum
nicht zu helfen wuß‐
ten, da
sie selbst der Hilfe nur allzusehr
bedurften. ‒ ‒ ‒ ‒
*
.So möge auch dieses Buch nun
Befreiung
und
Klarheit bringen, und allen den Weg
zum Lichte zeigen, die ihn finden
wol‐
len! ‒
.Möge allen, die
ehrlichen Willens sind,
durch dieses Buch der
erste Anstoß wer‐
den, auf jene
Geisteshöhe zu gelangen, von
der aus gesehen, ihres Daseins
Ziel und
End‐
zweck ihnen nicht mehr „
Geheimnis”
bleibt! ‒ ‒
ENDE