DAS REICH
DER KUNST
Verlagslogo
Ein Vademekum für Kunstfreunde
und bildende Künstler
Kober'sche Verlagsbuchhandlung
Basel-Leipzig 1933
BÔ YIN RÂ
IST DER DICHTER, PHILOSOPH UND MALER
JOSEPH SCHNEIDERFRANKEN
COPYRIGHT BY
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASLE 1933
KARL WERNER, BUCHDRUCKEREI IN BASEL
INHALT Seite
Geleitwort zur Neuausgabe 5
Kunst als Lebensfaktor 13
Ist Kunst ein „Luxus”? 27
Kunst-„Erklärung” 35
Künstlerisches Sehen 47
„Das Schöne” im Kunstwerk 59
Natur und Kunst 71
Plastisches Empfinden 83
Künstler und „Laie” 95
Künstler, Publikum und Jury 105
Das Kunstwerk und seine „Technik” 115
Das Kunstwerk und sein Stil 123
Das Übersinnliche im Kunstwerk 131
Kunst und Weltanschauung 145
„Moderne” Kunst 153
Expressionismus 163
Sinnlose Kämpfe 171
Die „Grenzen” der Malerei 181
Primitive Kunst und Archaismus 193
Kunst und Artistentum 203
Dilettantenkunst 213
Die Kunst Raffaels 221
Originalscan
Geleitwort zur Neuausgabe
.Im Jahre 1921 ist dieses Buch zum ersten‐ OO
male erschienen.
.Hier liegt nun ein Neudruck vor, der zwar OO
einige Änderungen bedingte, aber im Ganzen OO
als eine durchgesehene Wiedergabe des ursprüng‐ OO
lichen Textes gelten darf. Gewisse Wiederholun‐ OO
gen habe ich auch in dieser Neubearbeitung nicht OO
gestrichen, da es sich ja um eine Sammlung ein‐ OO
zelner, ehedem getrennt erschienener Darlegungen OO
handelt, so daß jedes Kapitel des Buches als für OO
sich abgeschlossen betrachtet werden will.
.Beim ersten Erscheinen der vorliegenden OO
gesammelten Abhandlungen sagte ich in einem OO
kurzen Vorwort:
.„Die Tendenz dieses Buches ergibt sich aus OO
seinem Inhaltsverzeichnis. Es will nicht für oder OO
gegen irgend eine Kunstrichtung kämpfen, son‐ OO
dern aufzuzeigen suchen, was die wertgebenden OO
Elemente sind, die das Werk des bildenden OO
Künstlers erst zum Range eines KunstwerkesOO
erheben, einerlei welcher Kunstauffassung dieses OO
Werk seine Formung dankt.”
7 Das Reich der Kunst
.Ich hatte sodann die durch gewichtige Zu‐ OO
stimmungserklärungen aus den Kreisen hervor‐ OO
ragender Künstler und Kunstfreunde geförderte OO
Hoffnung ausgesprochen, daß das Buch einem OO
wirklichen Bedürfnis entsprechen und in der Flut OO
moderner Kunstliteratur nicht untergehen möge. OO
.Aber ich ahnte dazumal nicht, daß die große OO
Auflage schon nach kurzer Zeit vergriffen sein OO
würde. Dennoch konnte ich mich, aus Gründen OO
rein persönlicher Art, nun schon seit Jahren OO
nicht entschließen, einen Neudruck veranstalten OO
zu lassen, bis ich doch durch das mir überall OO
begegnende ungeminderte Interesse an diesem OO
Buche mich bestimmen ließ, meinen vormaligen OO
Widerstand gegen sein Wiedererscheinen aufzu‐ OO
geben. OO
.Nach eigenem Ermessen glaubte ich bei der OO
ersten Veröffentlichung der einzelnen Abhand‐ OO
lungen auf meine Art eine gewisse Klärung in OO
zeitlich arg verwirrte künstlerische Anschauungen OO
gebracht zu haben, und vielleicht war auch zu OO
erwarten, daß durch meine Darlegungen bei man‐ OO
chen vorerst noch „kunstscheuen” Menschen doch OO
die Erkenntnis geweckt werden könne: ‒ auch OO
sie seien berufen, das Reich der bildenden Kunst OO
allmählich kennenzulernen um allda eine ihnen OO
noch unbekannte Bereicherung seelischen Lebens OO
zu erlangen.
8 Das Reich der Kunst
.Der Erfolg des danach erschienenen Buches OO
hat meine Erwartungen erheblich übertroffen.
.Künstler, Kunstgelehrte, Kunstfreunde, sowie OO
auch solche seiner Leser, die durch mein Buch OO
erst den Weg zur Kunst gefunden haben, ver‐ OO
langen heute dringlich sein Wiedererscheinen, OO
damit es auch Kreisen zugänglich werden könne, OO
die erst durch die bisherigen Leser von seiner OO
Existenz vernommen haben.
.So bleibt mir nichts anderes übrig, als meine OO
Zustimmung zum Neudruck zu geben, wobei ich OO
es nur bedauern muß, daß die ganze Anlage des OO
Buches keine kürzere Zusammenfassung zuläßt, OO
wenn nicht verzichtet werden soll auf Vieles, OO
was bei der raschen Folge neuerer Kunstbeur‐ OO
teilungsweisen dem Wohlorientierten zwar nicht OO
mehr als erörterungsbedürftig erscheinen mag, ‒ OO
was aber der noch kunstferne „Laie”, der gerne OO
das ihm vorerst unerschlossene Gebiet betreten OO
möchte, keinesfalls missen darf.
.Schließlich beabsichtige ich ja auch nicht, OO
hier in formvollendeter und streng gebundener OO
Weise etwa Aufgaben lösen zu wollen, die unter OO
allen Umständen einer heute hochentwickelten OO
und als Lebensberuf anerkannten FachwissenOO
schaft vorbehalten bleiben müssen, obwohl mir OO
Methode und kritische Hilfsmittel solcher Wis‐ OO
senschaft wahrhaftig nicht fremd sind.
9 Das Reich der Kunst
.Ich will nur, was an mir liegt, dazu beitragen, OO
daß das Reich der bildenden Kunst auch solche OO
Menschen anziehe, die es bisher fast ängstlich OO
für ein ihnen verschlossenes, ja verbotenesOO
Land halten, und ich glaube auch werdenden OO
Künstlern da und dort weiterhelfen zu können, OO
sofern sie sich selbst verstehen lernen wollen, OO
um nicht erst ein halbes Erdenleben lang, ver‐ OO
anlaßt durch Ergüsse einer verhängnisvollen Li‐ OO
teratur, in den Fesseln irgend einer, ihnen viel‐ OO
leicht ganz ungemäßen „Richtung” Fronarbeit OO
zu leisten, bevor sie zu ihrem eigenen freien OO
Schaffen den Mut finden.
.Was hier nun gesagt werden wird, soll zu‐ OO
gleich zur Erkenntnis führen, daß die Werke der OO
bildenden Kunst, ‒ wenn es sich wirklich um OO
geistgezeugte Werke und nicht um bloße, mehr OO
oder weniger routinierte „Mache” handelt, ‒ OO
keineswegs nur dazu da sind, dekorative Schmuck‐ OO
elemente für die Wände und Räume des äußeren OO
Lebens abzugeben, sondern daß die Einwirkung OO
wirklicher Kunstwerke auf die Seele auch zu OO
unerahnter Förderung werden kann für alle, die OO
den Weg zum wesenhaften Geiste suchen. OO
.Die Priester der Kulte des Altertums kannten OO
sehr genau die „Magie der Zeichen” und OO
wußten sie zur Erhebung der Seele aus Alltags‐ OO
10 Das Reich der Kunst
wirrwarr in die geklärten Regionen der wesen‐ OO
haften Welten des reinen Geistes zu nützen.
.Überkommenes Weisheitsgut solcher Art war OO
noch in den großen Meistern bildender Kunst OO
des Mittelalters und der Renaissance lebendig OO
und ging in ihre hohen Werke ein, so daß ge‐ OO
heimnisvolle Kraft aus ihnen noch heute den OO
Betrachter überströmt. Ich erinnere hier nur an OO
die großen Baumeister dieser Zeiten, an den Maler OO
des Isenheimer Altars, und die Plastik im Dom OO
zu Naumburg! ‒
.Nach der Barockzeit aber, die ein letztes ju‐ OO
belndes Aufleuchten solcher „Magie der Zeichen” OO
brachte, verliert sich, geradezu plötzlich, in Künst‐ OO
lern und Kunstliebenden das Wissen um die gei‐ OO
stige Macht, die dem darstellenden Künstler ge‐ OO
geben ist.
.Was von da an künstlerisch gestaltet wurde OO
bis auf den heutigen Tag, bringt zwar die Lösung OO
vieler Probleme, die den Alten recht wenig be‐ OO
deutsam erschienen waren, endet aber jetzt in OO
einem unruhigen verkrampften Suchen nach OO
Neuem und immer wieder Neuerem, denn die OO
Seele des Künstlers selbst, wie die des Beschauers, OO
bleibt bei jedem neuen Versuch, Sichtbares künst‐ OO
lerisch zu deuten, nach wie vor unbefriedigt, bis OO
das Eine wieder erlangt wird, das sich in jederOO
persönlichen Darstellungsart zum Ausdruck ge‐ OO
11 Das Reich der Kunst
stalten läßt, wenn es der künstlerisch Schaffende OO
wirklich in sich trägt.
.Ich habe anderenortes wahrlich in aller Deut‐ OO
lichkeit von diesem „Einen” gesprochen, das OO
allein not tut, das aber vor allem der schaffendeOO
Künstler in sich lebendig fühlen muß, wenn er OO
durch sein Werk der Seele des nacherlebenden OO
Betrachtenden die Erhebung und Förderung brin‐ OO
gen will, die von der bildenden Kunst her ‒ OO
und nur durch sie ‒ erlangbar sind.
.Dieses Unerläßliche zeigt sich nicht etwa in OO
der Wahl der künstlerisch dargestellten Gegen‐ OO
stände!
.In jeglicher Form wird es erkennbar, wenn es OO
der Schöpfer dieser Form in sich selber trägt. OO
.Die formende Hand des Künstlers bringt dieses OO
Allerinnerste unweigerlich zur Offenbarung, wenn OO
es wirklich in ihm lebendig ist, aber keine Bra‐ OO
vour des formalen Könnens wird es dem kun‐ OO
digen Betrachter eines Bildwerkes jemals vortäu‐ OO
schen können.
12 Das Reich der Kunst
Kunst als Lebensfaktor
.Der bildende Künstler, wie weit er auch im OO
schöpferischen Gestalten seiner Zeit vorauseilen OO
mag, bleibt doch immer ein „Kind seiner Zeit”.
.So war es vor Jahrtausenden, ‒ so ist es OO
heute, ‒ und nicht anders wird es auch in Zu‐ OO
kunft sein.
.Was die Zeit, in der ein Künstler lebt, bereits OO
an künstlerischer Form begriffen hat, das gibt OO
sie ihm mit, als erstes Verständigungsmittel: ‒ OO
als erstes Material zur Gestaltung eigener kunst‐ OO
gemäßer Ideen.
.Der Epigone, der sein höchstes Ziel nur im OO
Erreichen des bereits vor ihm Vorhandenen OO
sieht, bleibt lebenslang innerhalb der Grenzen, OO
die ihm das künstlerische Verstehen seiner Zeit OO
zu Anfang absteckte.
.Von allen ihn umgebenden Zeitbedingten wird OO
er mühelos „verstanden”, und auf recht bequeme OO
Weise findet er gewöhnlich bald Anerkennung OO
und Ruhm, indem er nur das Edelmetall aus‐ OO
münzt, das Andere, Größere als er, einst aus OO
ihrer innersten Tiefe zutage schürften.
15 Das Reich der Kunst
.Oft genug ist der solcherart Selbstzufriedene OO
auch zugleich „Münzfälscher” und gibt dann für OO
gutes Gold aus, was er im eigenen Tiegel mit OO
allerlei billigem Unedlen mengte.
.Anders der wirklich Schaffende, der aus OO
Urtiefen des Geistes, die kein Senkblei psycho‐ OO
logischer Forschung restlos ergründen kann, An‐ OO
trieb und Kraft zu seiner Schöpfung empfängt! OO
.Auch ihm übergibt seine Zeit die ihr gewor‐ OO
denen Darstellungsmittel als Behelf zu erster OO
Gestaltung.
.Bald aber treibt ihn inneres, in der Ehrlich‐ OO
keit vor sich selbst begründetes Müssen aus OO
dem engen Kreise, den er mit solchem Behelf OO
durchreicht, hinaus, empor, und er sieht sich ge‐ OO
zwungen, Form und Darstellungskonvention sei‐ OO
ner Zeit zu durchbrechen, will er sein Stärkstes OO
und Bestes nicht verkümmern lassen.
.Die hemmenden Kräfte, die gerade in sei‐ OO
ner Zeit sich auswirken, stemmen sich ihm ent‐ OO
gegen, aber ob sein Weg nun auch durch Armut OO
und Not führen mag, ‒ er muß ihn zu Ende OO
gehen!
.Nur die wenigen echten Schaffenden aber OO
erzeugen, „bilden” mit wahrer Bildnerkraft die OO
bleibenden künstlerischen Werte einer Zeit!
16 Das Reich der Kunst
.Mag der Schöpfer dieser Werte im Elend OO
seine Tage beschließen, so bleibt doch sein OO
Werk, in dem die Gottheit wohnt, allen kom‐ OO
menden Zeiten gestaltet.
.Fast will es wie eine besondere Gunst des OO
Schicksals erscheinen, wenn ein solcher wirkli‐ OO
cher Schaffender nach mancherlei Entbehrung OO
noch die Tage erlebt, da man sein Werk den OO
Werten der Zeit endlich einzuordnen weiß, aber OO
auch dann bleibt es unabhängig von zeitlich wer‐ OO
tender Willkür, weil Ewiges, schon in derOO
Stunde, in der ein solches Werk geschaffenOO
wurde, seinen bleibenden Wert bestimmte.
.Für die Mit- und Nachwelt bleibt zwar die OO
Erhaltung des Werkes immer bedeutsam, OO
allein der ewigkeitsgültige Wert ist imOO
Schaffensvorgang selbst gegeben, und bleibt OO
geistig bestehen, auch wenn das sichtbare Werk OO
längst zerstört ist.
.Um in diesem Satz nicht eine leere Behaup‐ OO
tung zu sehen, muß man freilich erkannt haben, OO
daß alle menschliche Gestaltungskraft ewigerOO
Schöpferkraft einbezogen ist, und wie diese, OO
hoch über aller, ihr möglichen Gestaltung er‐ OO
halten bleibt, einerlei, welche Schicksale das Ge‐ OO
staltete erleidet.
17 Das Reich der Kunst
.Zu den echten Schaffenden muß der Blick OO
sich wenden, will man erkennen lernen, was bil‐ OO
dende Kunst als Lebensfaktor bedeutet!
.Es ist aber nicht genügend, in dem Werke OO
der wahrhaft Schöpferischen nur die Elemente OO
zu entdecken, die sie ihrer Zeit verdanken: ‒ OO
man muß vielmehr zu erfühlen suchen, was ihr OO
Schaffen aus der Ewigkeit ins ZeitlicheOO
holte, ‒ was es so der Zeit an Neuem, vor‐ OO
her noch nicht im Zeitlichen Geformten gab: OO
‒ ‒ wie das Werk der Schaffenden die ZeitOO
erst formte, in der es entstand. ‒
.Eine jede Zeit bleibt nur chaotische Ansamm‐ OO
lung vieler und vielgestaltiger Einzelwillen, so‐ OO
lange sie noch nicht ihre Form empfing aus OO
der Hand der wirklichen Formbildner: ‒ ihrer OO
echten Schaffenden unter den bildendenOO
Künstlern!
.Niemals hätte die hohe Kultur des alten HelOO
las ihre göttlich-erhabene Blüte entfalten können, OO
ohne die Werke der großen Bildner, die dem OO
Empfinden ihrer Zeit den sinnenfälligen Aus‐ OO
druck, ‒ das göttliche Symbol ‒ schufen, OO
durch dessen Formgewalt jeder Fühlende sich OO
bestimmt fand, mochten auch die Künstler OO
selbst die Kraft zu solcher Formgebung derOO
Zeit verdanken, aus der sie emporgewachsen OO
waren. OO
18 Das Reich der Kunst
.Sie selbst wußten weit über ihre Zeit empor OO
zu weisen, indem sie ihren Zeitgenossen vor-bil‐ OO
deten, was diese zu werden fähig seien.
.Das Beste der Kultur des Mittelalters und OO
der Renaissance ist undenkbar ohne ein be‐ OO
stimmendes, durch hohe Bildner geschaffenes OO
göttliches Symbol: ‒ das in allen damals OO
gestalteten Werken der gluterfüllten Maler, Pla‐ OO
stiker und Architekten erkennbar wird, die noch OO
heute der Nachwelt Bewunderung finden.
.Genährt vom Kulturwillen ihrer Zeit, stellten OO
alle diese große Schaffenden das Ideal solchen OO
Kulturwillens sichtbarlich und in höchster VollOO
endung in ihren Werken dar.
.Sie zeigten nicht, wie ihre Zeitgenossen wirk‐ OO
lich waren, ‒ denn wahrlich gab es zu ihrer OO
Zeit auch des Niedrigen und Gemeinen gerade OO
genug, ‒ sondern wie sich ihre Zeitgenossen OO
gesehen wissen wollten, durchdrungen von OO
dem starken Willen zur steten Erhöhung ihrer OO
eigenwüchsigen Kultur!
.Nicht ihr Fehlwertiges, nicht das, was OO
erkannt war als ein zu Überwindendes, stell‐ OO
ten sie dar, ‒ sondern das Göttliche, dessen OO
Spuren sie auch unter tierischer Hülle zu ge‐ OO
wahren wußten.
.Ihre Werke sprachen mit lauter Stimme:
19 Das Reich der Kunst
.„Seht, das ist die Welt, die unsere Besten OO
ahnen!” OO
.So wirkte ihr Werk auf die Seelen gleichsam OO
als „Vor-Bild” dessen, was der Mensch aus sichOO
machen könne, was er zu werden vermöge.
.So holte ihr Werk in den Seelen Kräfte aus OO
der Tiefe, die ohne solchen Erweckungsruf nie‐ OO
mals schaffend und zeugend ins Leben eingewirkt OO
hätten, und die Mächtigen der äußeren Gewalt OO
wußten sehr wohl, was sie den großen Bildnern OO
ihrer Zeit zu danken hatten.
.Das wußte noch jede Zeit hoher und vom OO
Willen zu großer Lebensformung durchströmter OO
Kultur!
.Wer vermag es, sich die großen Zeiten der OO
Vergangenheit auf gleicher Höhe vorzustellen, OO
ohne ihre Schaffenden und Kundigen der Magie OO
der Zeichen: ‒ ohne ihre gestaltendenOO
Künstler und deren bleibende Werke!? ‒
.Auch unsere Zeit, unleugbar des größten OO
Kraftaufwandes und hingebendster Arbeit fähig, OO
aber so bettelarm an selbstgeschaffenen kultuOO
rellen Werten, kann niemals zu ihrer eigenen, OO
von Dichtern und Denkern vorgefühlten wirk‐ OO
lichen Kultur gelangen, ja nicht einmal zur Voll‐ OO
endung ihrer Zivilisation, wenn man nicht end‐ OO
20 Das Reich der Kunst
lich doch wieder einsehen lernt, daß es ein Un‐ OO
ding ist, Kultur zu fordern oder zu erwarten, OO
solange bildende Kunst nur gerade noch geOO
duldet wird, solange selbst Menschen, die sich OO
zu den „Gebildeten” rechnen dürfen, völlig in OO
Unsicherheit geraten, wenn sie die Mache eines OO
geschickten Routiniers von dem Werke eines wirk‐ OO
lichen Schaffenden unterscheiden sollen.
.Man glaubt mit dem Erkämpfen politischer OO
und sozialer Forderungen, mit Höchstleistungen OO
auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik, OO
mit einer „Kunstpflege”, die sich im Wesent‐ OO
lichen nur der Literatur, der Musik und dem OO
Theater widmet, die ersehnte Kultur erreichen OO
zu können und sieht nicht, daß alle diese Be‐ OO
strebungen, so richtig und wichtig sie auch an OO
sich sind, keine dauernden Wirkungen auf das OO
Leben zeitigen können, solange die Beziehungen OO
zu bildender Kunst nicht mit gleicher Hin‐ OO
gabe und Energie gepflegt werden.
.Ein Zeitalter, das noch die Werke seiner bil‐ OO
denden Künstler unter den allenfalls leicht ent‐ OO
behrlichen Luxus rechnet, ohne sie zu befragen OO
nach dem Sinn seines Kulturideals, ‒ ohne mit OO
Entschiedenheit Antwort auf solche Frage zu OO
verlangen, ‒ ein Volk, das sich nur mehr OO
nebenbei und wenn es gerade „anstandshalber” OO
21 Das Reich der Kunst
nicht anders gehen will, an seine großen Schaf‐ OO
fenden unter den bildenden Künstlern erinnert, OO
kann es zu keiner in der Tiefe verankerten OO
Kultur bringen, auch wenn es sehnlichst danach OO
verlangt.
.Es genügt nicht, daß man sich, wenn wieder OO
einmal ein bildender Künstler gestorben ist, durch OO
die Zeitung darüber informieren läßt, daß er OO
auch am Leben war, während man nichts von OO
ihm wußte.
.Wurden in der neueren Zeit die arkadischen OO
Gefilde bildender Kunst zu einem wilden Tum‐ OO
melplatz erregter Experimentatoren, denen so OO
mancher bedächtig schlau nachlief, weil es ihm OO
anders zu langsam zu gehen schien mit dem Be‐ OO
rühmtwerden, so liegt die Schuld weit mehr anOO
der Verwahrlosung des künstlerischenOO
Urteilsvermögens auf seiten derer, für die OO
Kunst ein Bedürfnis der Seele sein sollte, OO
als an der inneren Unsicherheit der herangezüch‐ OO
teten Künstler, die sich mitten im Kampf ums OO
Dasein sehen und schon aus Selbsterhaltungs‐ OO
trieb, um jeden Preis siegen möchten.
.Die Ignoranz gegenüber der bildenden Kunst OO
schädigt alle: ‒ das Volk, das seine bildenden OO
Künstler für ausgemachte Sonderlinge hält, weil OO
es den Kontakt mit ihrem Streben verloren hat, OO
22 Das Reich der Kunst
und den Künstler, der jede Beziehung zu seinem OO
Volke verliert, sich in abstruses Erfindenwollen OO
neuer Darstellungsgesten verkrampft, weil all sein OO
Sagenkönnen auf die ihm angeborene Weise ein‐ OO
fach unbeachtet bleibt.
.Keine Kunstrichtung, keine Schule kommt zu OO
reifer Auswirkung.
.Alles bleibt schon in den ersten Anfängen OO
stecken, oder entartet zu steriler Manier.
.Unruhig tasten die jüngeren Künstler nach OO
neuen Formgesetzen, weil sie auch ihren be‐ OO
sten Werken gegenüber jeden Widerhall in der OO
eigenen Volksgemeinschaft vermissen.
.Gewiß werden auf diese Weise zuweilen auch OO
neue Wege gebahnt, aber nur um in kurzer Zeit OO
wieder verschüttet zu werden, noch bevor sie zu OO
Ende gegangen werden konnten.
.Noch hat ja kaum der ImpressionismusOO
sein Gestaltungsideal in einigen vollendeten Mei‐ OO
stern gezeigt, da gilt er auch schon als „über‐ OO
wunden”, als „eine Sache von vorgestern”, mit OO
der man sich nicht mehr befassen darf, wenn OO
man nicht in den Ruf gelangen will, verständnis‐ OO
los den seither aufgetauchten Erzeugnissen künst‐ OO
lerischen Wollens gegenüberzustehen.
.Aber der Impressionismus hat ja noch kei‐ OO
23 Das Reich der Kunst
neswegs in seiner Form allen Inhalt erschöpft, OO
der gerade dieser Darstellungsauffassung zu‐ OO
kommen könnte!
.Warum soll er nicht auch weiterhin von de‐ OO
nen gepflegt werden, die durch naturhafte Ver‐ OO
anlagung für seine Ausdrucksart mehr Talent OO
mitbringen als für jede andere?! ‒
.Wie lange wird es noch dauern, und die „neue OO
Sachlichkeit” ist ebenso wieder „überwunden” OO
wie heute schon der „Expressionismus” für die OO
Eilfertigen abgetan ist, lange bevor es noch dieser OO
Kunstauffassung gelingen konnte, sich zu einer OO
Kunst deutbarer Symbole zu klären, als welche OO
sie gewiß auch zu Schöpfungen von bleibendem OO
Werte hätte führen können!
.Die Künstler sehen selbst nicht mehr, daß OO
ihr Reich unendlich ist, und daß in jederOO
Kunstform, welcher Auffassung des Kunstschaf‐ OO
fens sie auch ihr Dasein danken möge, EwigesOO
gestaltbar ist, wenn der Schaffende nur selbst an OO
das Ewige hinanzureichen vermag. ‒ Ich rede OO
hier nicht von gedanklich-literarisch Gestalt‐ OO
barem, sondern von der Gestaltung aus den Form‐ OO
elementen bildender Kunst!
.Alles Suchen nach neuer Form ist sinnlos, OO
wenn jede gefundene Form alsbald wieder ver‐ OO
24 Das Reich der Kunst
worfen wird, noch bevor der in ihr gestaltbare OO
Inhalt erschöpft ist.
.Es ist ein seichter Irrtum, daß der ImpresOO
sionismus allein einer materialistischenOO
Weltanschauung entspräche, und daß man GeiOO
stiges nur auf die Weise des ExpressionisOO
mus ausdrücken könne.
.In beiden Kunstformen läßt sich natürlich OO
immer nur das ausdrücken, was der Maler wirk‐ OO
lich in seiner Seele trägt, und was ihm seine OO
Seele eröffnet.
.Was sich dann mit den Mitteln impressioOO
nistischer Kunst sagen läßt, wird niemals auf OO
expressionistische Weise zu sagen möglich OO
sein, während expressionistischer Auffassung Ge‐ OO
biete vorbehalten bleiben, denen der Impressio‐ OO
nist weder nahen kann noch will.
.Die ganze Verwirrung heutiger Kunstbegriffe OO
ist eine Folge der Hast unserer Zeit. Man drängt OO
zu Wirkung und Erfolg, wie die Eintagsfliegen OO
zum Licht der Gartenlampe.
.Letzte Ursache dieses Einbruchs nervösen OO
Hastens in das weihevolle Reich der bildenden OO
Kunst ist aber die durch Ignoranz ihrer Mit‐ OO
menschen hervorgerufene innere Not der Künstler, OO
25 Das Reich der Kunst
die ja gewiß nicht daran zu zweifeln vermögen, OO
daß die bildende Kunst zu den wichtigsten Fak‐ OO
toren geistig-kulturellen Lebens gehört, aber OO
gleichzeitig sehen müssen, daß man ihrem Tun OO
nur dann Beachtung schenkt, wenn sie sich OO
durch verwegene Kapriolen oder brüske Motiv‐ OO
wahl Beachtung erzwingen.
.Würde das Werk des bildenden Künstlers OO
auch wieder als Lebensfaktor allgemein geOO
wertet, dann könnten, ‒ wie in den großen OO
Zeiten der alten Kunst Japans, ‒ bei uns OO
heute alle neueren Kunstrichtungen friedOO
lich nebeneinander zu ihrer Auswirkung kom‐ OO
men, und es entstünde alsdann in allen das Beste, OO
was sie zu geben imstande sind: Vor-Bildung OO
dessen, was Bildnerkraft im Menschen als OO
zukunftsmöglich erspürt.
.Nur in solcher Freiheit vor jedem Schlag‐ OO
wortzwang kann schließlich die große Kunst er‐ OO
stehen, die wieder fähig ist göttliches SymbolOO
zu formen und damit das Vor-Bild zukünftiger OO
Zeitbildung: ‒ wirklicher Kultur!
26 Das Reich der Kunst
Ist Kunst ein „Luxus”?
.Solange es noch den meisten Menschen näher OO
liegt, spottbereit und überlegen die Achseln zu OO
zucken, wenn sie von der unschätzbaren Berei‐ OO
cherung hören, die aus dem Schaffen seiner bil‐ OO
denden Künstler dem Geistesleben eines Volkes OO
zuströmen kann, ‒ solange haben wir noch gar OO
keinen Grund, uns auf gutem Wege zu der uns OO
zeit- und artgemäßen Kultur zu glauben, die so OO
viele gar schon „erreicht” wähnen, und aller Stolz OO
auf die Erkenntnishöhe in den Wissenschaften, OO
auf die großen Leistungen der Technik und ihre OO
Verwertung in der Industrie, darf uns nicht über OO
die Tatsache hinwegtäuschen, daß es zwar unter OO
vielen Völkern schon Zeiten gewaltiger wirklicher OO
Kulturhöhe ohne alle unsere neueren ErrunOO
genschaften gab, daß aber noch niemals eine OO
große Kultur erreicht wurde, ohne die MitwirOO
kung des Vor-Bild setzenden Schaffens beOO
deutender Bildner, auch wenn man heute nur OO
von den wenigsten noch die Namen kennt.
.Wo aber ein Wille ist, da findet sich bekannt‐ OO
lich auch immer ein Weg, und darum gilt es, OO
zuerst den schlafenden Willen zu wecken, den OO
Willen zu einem kulturvorbereitenden LeOO
benszustand, in dem das bildnerische Gestalten OO
29 Das Reich der Kunst
wieder die ihm gebührende Würdigung erfährt, OO
da es als Notwendigkeit empfunden wird.
.Schaffen und Werk des bildenden Künstlers OO
dürfen nicht weiter als „Luxus” eingeschätzt OO
werden, auf den ein mit Lebenssorgen überbür‐ OO
detes Volk verzichten müsse, ‒ auf den es auch OO
nur verzichten könne!
.Der Wille zu einem Lebenszustand, dem bil‐ OO
dende Kunst eine nicht mehr entbehrlicheOO
Bereicherung bedeutet, kann jedoch nur aus dem OO
Schlafe gerüttelt werden durch die Erkenntnis, OO
daß sich im echten Schaffen der bildenden Künst‐ OO
ler die Seele ihres Volkes selbst offenbart OO
und aus der künstlerischen Gestaltung zurück‐ OO
wirkt auf die Lebensauffassung derer, die solche OO
Gestaltung empfinden lernen und mit ihr vertraut OO
werden. Durch die Degeneration seiner zeitlichen OO
Mitwelt kann freilich auch der schaffende Bildner OO
zum zersetzenden Zeitverderber entarten, aber OO
selbst an solcher Entartung läßt sich die lebensOO
gestaltende Wirkung bildender Kunst, wenn OO
auch hier mit negativen Vorzeichen, deutlichst OO
erweisen.
.Wer allerdings nur seine persönlichen Lieb‐ OO
lingsgegenstände, die Naturszenerien, die ihn OO
etwa auf einer Reise ergriffen haben, oder irgend‐ OO
welche Begebenheiten, die er für wichtig hält, OO
im Bilde dargestellt sehen möchte, der ist vom OO
30 Das Reich der Kunst
Willen zur Kunst, von einem Erfassen des OO
allein Wesentlichen im Kunstwerk, noch gar OO
weit entfernt.
.Dergleichen war lange genug im Schwange und OO
trägt reichlich Schuld daran, daß so wenige heute OO
auch nur ahnen, was Kunst wirklich ist.
.So nehmen doch noch die meisten, der Kunst OO
nicht sehr nahestehenden Menschen, übelste OO
Kunstprostitution für Kunstwerke „ersten OO
Ranges”, und gehen gleichgültig oder gelangweilt OO
an echter Kunst vorüber, wenn sie sich nicht OO
gar berufen fühlen, in vorlauter Weise „Kritik” OO
zu üben an Werken, die ihnen noch so uner‐ OO
faßbar sind wie ein fernes Gestirn.
.Noch immer blüht eine Industrie allerübelsten OO
Kunstersatzes, und von ahnungslosen Käufern OO
werden Produkte als vermeintliche „Kunstwerke” OO
erworben, die selbst die Kosten des an sie ver‐ OO
geudeten Rohmaterials nicht mehr wert sind, OO
da dieses Material für alle Zeit nun völlig un‐ OO
brauchbar wurde, obwohl man aus ihm auch OO
künstlerisch Wertvolles hätte gestalten können. OO
.Wer aber aufnahmebereit vor ein wirklichesOO
Kunstwerk hintritt, der darf nur dann erwar‐ OO
ten, daß es ihm seine reichsten Schätze schenke, OO
wenn er es vorerst ganz so betrachtet wie etwa OO
ein seltenes Naturphänomen, dem er ja auch OO
31 Das Reich der Kunst
erst bewunderungswillig naht, bevor er es nach OO
und nach zu ergründen versuchen wird.
.Man glaube doch ja nicht, daß alle die so OO
seltsam erscheinenden Werke neuerer Künstler OO
immer nur einer skurrilen Laune oder gar bloßer OO
Sensationslust ihr Entstehen verdanken, auch OO
wenn dies gewiß bei manchen Nachläufern der OO
echten Schaffenden die auslösenden Momente OO
sein mögen, die sie zum Produzieren extravagan‐ OO
ter Erzeugnisse verleiten, obwohl kein inneres OO
Müssen sie zum Verlassen längstgebahnter Wege OO
zwingt!
.Bei den Echten, die aus innerem MüssenOO
heraus zu persönlichen Gestaltungsformen gelan‐ OO
gen, sind wahrhaftig tiefer verankerte Kräfte am OO
Werk!
.Hier offenbart sich in menschlichem Schaffen, OO
‒ wenn auch oft noch durch irdisch Unzuläng‐ OO
liches gehemmt, ‒ der ewige Geist, der ausge‐ OO
gossen ist über allem, was Menschenantlitz trägt, OO
‒ der Geist des Lebens, der aus dem Ursein OO
strömt, ‒ und ein neues Pfingstwunder will auf OO
dem Gebiete menschlicher Gestaltungsfähigkeit OO
vor aller Augen Wirklichkeit werden.
.Eine Erneuerung des Angesichts der Erde be‐ OO
reitet sich allenthalben vor, und die ersten Strah‐ OO
len geistigen Lichtes, das allein diese Erneuerung OO
dereinst bewirken wird, sind bereits auch recht OO
32 Das Reich der Kunst
deutlich wahrzunehmen in dem Drange schöpfe‐ OO
rischer Bildner, zu einer von allem Hohlen, Leer‐ OO
gewordenen und Konventionell-Nichtssagenden OO
befreiten Darstellungsart.
.Mehr Ehrfurcht vor den Inspirationen des OO
Geistes, wie sie der wahrhafte Künstler kennt, OO
mehr Aufblick zu den Höhen, allwo der echte OO
Schöpferische heimisch ist, und mehr GläubigOO
keit an geistiges Walten im Schaffen der wirk‐ OO
lichen Bildner sind nötig, will man in dem Werke OO
der Neuerer die wahren Werte erkennen lernen, OO
‒ will man mit Sicherheit die Werte rein geistiOO
ger Ausprägung von den willkürlichen, ausgeklü‐ OO
gelten Nachahmungsversuchen unterscheiden! OO
.Es ist, neben allen geschwinden Akrobaten OO
und Marktschreiern, unter den neueren Künst‐ OO
lern heute auch wieder, ‒ vorerst noch in aller OO
Stille, ‒ ein Geschlecht am Werke, das mit einer OO
Inbrunst vor der Staffelei steht, wie einst Fra AnOO
gelico in seiner Zelle von San Marco zu Florenz. OO
.Eine echte Frömmigkeit der Seele erfüllt OO
diese wenigen Gestalter, von der sich ein mo‐ OO
derner Alltagsmensch, der dann lachend und OO
witzelnd vor ihren ihm so fremdartigen Werken OO
steht, gar keine Vorstellung bilden kann!
.Es läßt sich solche künstlerische Frömmig‐ OO
keit sehr wohl mit dem rein religiösen Ver‐ OO
halten der Menschen vergleichen:
33 Das Reich der Kunst
.So, wie sich wahrhafte religiöse Frömmig‐ OO
keit niemals damit begnügen kann, von Anderen OO
vorgeformte Gebete gefühlsleer abzuleiern, so OO
kann auch der in wahrer künstlerischer Fröm‐ OO
migkeit Empfindende nur in Formen schaffen, OO
die sein Innerstes erfühlt hat und die ihn bisOO
in sein Tiefstes erregen.
.Formen, die ihm „nichts mehr zu sagen” haben, OO
kann er auch nicht mehr gebrauchen, um zu sagen, OO
was er zu sagen hat.
.Und so, wie das tiefste Gebet der religiösen OO
Seele, die wirklich ihren Gott in sich fand, OO
zuerst immer nur ein Stammeln sein kann, bis OO
dereinst aus solchem Stammeln: Hymnen und OO
Psalmen werden können, so ist auch das Werk OO
des geistdurchglühten Künstlers oft erst nur ein OO
stockendes und des neuen Erfühlens noch nicht OO
gewaltiges Ausstoßen der Form, bis das Neue OO
dereinst klare Sprache wird, in der sich immer OO
Größeres und Erhabeneres darstellen läßt.
.Wer in solcher geistigen Erkenntnis der bil‐ OO
denden Kunst dieser Tage gegenübertritt, dem OO
wird doch so manches Werk bald Tieferes zu OO
offenbaren haben als er vorher in ihm gesucht OO
hätte, ‒ und dann wird ihm sicherlich von OO
diesem Tage an auch die Frage beantwortet sein: OO
ob die bildende Kunst als „Luxus”, oder als OO
Lebensnotwendigkeit zu werten sei? ‒
34 Das Reich der Kunst
Kunst-„Erklärung”
.Es ist eine bemerkenswerte Erfahrung, die OO
jeder mit bildender Kunst Vertraute stets von OO
neuem machen kann, daß er von Menschen, die OO
erst tastend Bildnerwerk für sich deuten lernen OO
möchten, immer wieder gebeten wird, ihnen OO
Werke der Kunst zu „erklären”.
.Nirgends spricht sich die grundfalsche Auf‐ OO
fassung weiter Kreise vom Schaffen und Werk OO
des bildenden Künstlers deutlicher aus als in OO
solchem Verlangen!
.Alle Lektüre „kunsterzieherischer” Schriften, OO
alles Anhören „einführender” Vorträge, ja selbst OO
das von Vielen so treugläubig betriebene Lesen OO
der Zeitungskritik, ‒ natürlich vor dem Besuch OO
der Ausstellungen! ‒ ‒ scheint den Irrtum OO
nicht angreifen zu können: Werke der bilden‐ OO
den Kunst seien dem Erfassen näher zu bringen OO
durch eine „Erklärung” dessen, was doch nur zu OO
sehen und schauend zu erfühlen ist.
.Man hat den aufrichtigen Wunsch, das Le‐ OO
bensgebiet der bildenden Kunst sich erschließen OO
zu lassen, aber man weiß noch nicht, daß man OO
37 Das Reich der Kunst
es sich nur selber erschließen kann, und so OO
mangelt es denn am Willen, es sich selber zu OO
erschließen, ja, man fühlt sich vorläufig wie ein OO
Eindringling, fühlt sich ohne wohlerworbene Be‐ OO
rechtigung.
.Der Mensch dieser Tage ist so sehr an den OO
Gedanken gewöhnt, daß er bei gehörigem Fleiß OO
alles erlernen könne, wenn es ihm nur richtig OO
„erklärt” werde, daß es für alles Erdenkliche, OO
dem er nahekommen möchte, „Kurse”, Schulen OO
und Lehrstunden geben müsse, so daß er auch OO
den inneren Zugang zu Werken der bildenden OO
Kunst auf solche Weise allein zu erreichen hofft. OO
.Daß hier die Eröffnung des noch Verschlos‐ OO
senen erlangt werden könne durch Anwendung OO
eigenen Einfühlungsvermögens, ‒ durch OO
eine Erweckung des eigenen Auges, ‒ kommt OO
nur Wenigen in den Sinn.
.Man betrachtet das Werk des bildenden Künst‐ OO
lers als eine nur den Eingeweihten verständliche OO
Hieroglyphe, die etwas auszusagen habe, was OO
erst erklärender Worte bedürfe, solle es von OO
anderen Beschauern „verstanden” werden.
.So erzeugt man in sich eine durchaus unOO
künstlerische Einstellung, noch bevor man OO
sich auch nur an den Versuch heranwagt, das OO
38 Das Reich der Kunst
was ein Kunstwerk wirklich zu sagen hat, in OO
sich aufzunehmen.
.Diese falsche Einstellung hält viele, die OO
sich einst innerlich angetrieben fühlten, das Reich OO
der bildenden Kunst ihrem eigenen Seelenleben OO
zu erschließen, zeitlebens von jeder echten künst‐ OO
lerischen Empfindung fern, und läßt die seeli‐ OO
schen Organe allmählich verkümmern, die zu OO
künstlerischer Einfühlung nötig sind.
.Immer wieder werden Fähigkeiten als Vor‐ OO
spann herangezogen, die wohl auf jedem anOO
deren Lebensgebiet gute Dienste leisten, auf dem OO
Wege zur Kunst aber versagen müssen.
.Kunst ist keine Verstandessache!
.Das Wort „Kunstverständnis” hat, streng ge‐ OO
nommen, nur den Wert einer alten Scheide‐ OO
münze, die man weiterhin kursieren läßt, weil OO
man sich an sie gewöhnte, aber was wirklich mit OO
diesem Wort gemeint ist, hat gar nichts mit OO
dem verstandesmäßig zu Erfassenden zu tun. OO
.Kunst kann man erfühlen und empfinden, OO
aber nicht mit dem Verstande erfassen!
.Das, was an einem Werke der bildenden Kunst OO
allenfalls dem Verstande zugänglich ist, ‒ was OO
eine Erklärung braucht, oder sich durch WorteOO
39 Das Reich der Kunst
näherbringen läßt, geht niemals die Kunst als OO
solche an, auch wenn das Technische des OO
Werkes zur Erörterung steht!
.Nicht Form und Farbe an sich machen ein OO
Werk, das aus diesen Grundelementen entstand, OO
zum Kunstwerk, sondern erst das innere, OO
gleichsam organische Leben, das die Formen‐ OO
und Farbenkomplexe erfüllt und ihre Gesamt‐ OO
masse zu einer im Werke beschlossenen EinheitOO
bindet.
.Ideen, die sich mit dem Verstande erfassen, OO
oder in Worten wiedergeben lassen, mögen see‐ OO
lisch erheben und begeistern können, aber sie OO
sind niemals imstande, das innere Leben der OO
zu einem Kunstwerk vereinten Formen und OO
Farben zu ersetzen.
.Gerade hier aber läßt sich der in Dingen der OO
bildenden Kunst Unerfahrene am leichtesten täu‐ OO
schen, und so mancher „Künstlerruhm” von vor‐ OO
gestern beruhte lediglich auf dieser Täuschung. OO
.Man kann ein Mann sehr geistvoller, sehr OO
poetischer und sehr hoher Ideen sein, ‒ man OO
kann dabei auch Pinsel oder Meißel in akade‐ OO
misch korrekter Art bis zur Bravour beherrschen, OO
‒ aber man braucht deshalb noch lange kein OO
Künstler zu sein.
40 Das Reich der Kunst
.Die Machwerke eines solchen, sonst vielleicht OO
ganz ehrenwerten Mannes, der das auch wirkli‐ OO
chen Künstlern unentbehrliche HandwerkOO
des Malers oder Plastikers gründlich erlernt ha‐ OO
ben mag, können in einer kunstfremden Epoche, OO
wie sie ja im großen und ganzen heute noch be‐ OO
steht, über alle Maßen bedeutungsvoll und ver‐ OO
ehrungswert erscheinen, ‒ können bestaunt wer‐ OO
den und große Bewunderung erregen, ‒ und OO
haben dennoch mit wirklicher, alle zeitliche OO
Modeschätzung überdauernden Kunst nicht mehr OO
gemeinsam als das äußere Material der Dar‐ OO
stellung: ‒ Farbe und Leinwand, Bronze oder OO
Stein.
.Ein solcher „Hochgeschätzter” seiner Zeit be‐ OO
glückte mich einst mit seinem Urteil über HansOO
Thoma, und meinte: „Der Mann ist ja ganzOO
bedeutungslos! Hat nicht einmal einen geOO
bildeten Strich im Handgelenk!”
.Heute ist der Name des also Urteilenden eben‐ OO
so vergessen, wie das was er machte, und was OO
noch vor ein paar Jahrzehnten von recht vielen OO
Leuten als „Kunst” gewertet, und weit höher OO
honoriert wurde als die Bilder Hans Thomas, OO
der damals noch ohne Titel und Würden war, OO
wenn er auch den Kundigen längst schon als OO
wahrhaft verehrungswürdig galt.
41 Das Reich der Kunst
.Die künstlerische „Idee” eines wahren OO
Kunstwerkes ist niemals verstandesmäßig zu OO
fassen, oder in Worten mitteilbar, wenn vielleicht OO
auch unter denen, die sie fühlend zu erfassen OO
wissen, ein Wort genügen kann, um auf sie hin‐ OO
zuweisen.
.Sie beruht allein in jenem gleichsam „orga‐ OO
nischen” Leben, das der Künstler seinem Werke OO
einzusenken wußte.
.Der beste „Erklärer” wird unvermögend sein, OO
die rein künstlerische „Idee” eines Werkes OO
aufzuzeigen, wenn das Einfühlungsvermögen des OO
Beschauers in bequemer Trägheit verharrt, ‒ OO
wenn der nach „Erklärung” Verlangende der Mei‐ OO
nung ist, Kunst „müsse” ihn „erheben”, „er‐ OO
freuen”, dürfte aber keine Mitarbeit von ihm OO
verlangen.
.So sagte mir einst ein angesehener Hochschul‐ OO
lehrer und nicht unbedeutender Spezialist seines OO
Faches bei Gelegenheit einer Hodler-Ausstel‐ OO
lung: ‒ er müsse diese Kunst „prinzipiellOO
ablehnen, denn Kunst habe „die Aufgabe”, ‒ OO
Genuß” zu vermitteln. Es sei ihm aber kein OO
Genießen, wenn er, aus anstrengender Berufs‐ OO
tätigkeit heraus, sich entschlösse, eine Ausstel‐ OO
lung zu besuchen und dort Kunstwerken begegne, OO
die erst Ansprüche an seinen Geist stellten, OO
42 Das Reich der Kunst
‒ womit er natürlich seinen Intellekt: sein verOO
standesmäßiges Erkenntnisvermögen, meinte. OO
.Dabei gehörte aber dieser Gelehrte zu den OO
„kunstliebenden” Kreisen seiner Stadt, und wußte OO
allerlei holde Mittelmäßigkeit, auch als Käufer, OO
weit über Gebühr zu schätzen, so daß er sich OO
allen Ernstes für einen „Kunstfreund” hielt.
.Wer in solcher Gesinnung an die Werke OO
wirklicher Kunst herantritt, der darf ruhig alle OO
Hoffnung aufgeben, jemals seelisch zu erfahren, OO
was Kunst ist, ‒ jemals in ein lebendiges Ver‐ OO
hältnis zur Kunst zu kommen.
.Lebendiges Verhältnis zur bildenden Kunst OO
läßt sich nur durch andauernde vergleichende OO
Übung im Kunst-Beschauen, im Kunst-BeOO
trachten gewinnen, nicht aber durch stetes Be‐ OO
lehrtseinwollen, oder durch das Verschlingen von OO
allerlei Kunstliteratur, die nur für bereits „Se‐ OO
hende” geschrieben ist.
.Sehen, sehen und wieder sehen, ‒ unbeOO
irrt durch eigene Vorurteile, eigene Vorliebe OO
oder Abneigung, ‒ nur geleitet durch das Be‐ OO
streben, offenen Auges und mit allen Kräften des OO
Einfühlungsvermögens das innere „organische” OO
Leben im Kunstwerk entdecken zu wollen, ‒ OO
das ist der einzige Rat, den man allen geben OO
43 Das Reich der Kunst
kann, die immer wieder fragen: warum gewisse OO
Werke großer Kunst, die dem Unkundigen viel‐ OO
leicht gar, des dargestellten Gegenstandes oder OO
der Technik wegen, „scheußlich” erscheinen, OO
wirkliche Kunstwerke seien, während der OO
doch so viel „schönere” liebe Kitsch auf die mit OO
Kunst Vertrauten sichtlich wie ein Brechmittel OO
wirke?
.Jeder, der in ein inneres Verhältnis zur bil‐ OO
denden Kunst gekommen ist, mußte einst auf die OO
gleiche Weise beginnen.
.So, wie das Kind in der Wiege, das nach dem OO
Mond greift, weil er ihm nahe erscheint, erst OO
sehen lernen muß, um Entfernungen abschätzen OO
zu können, so muß auch der Erwachsene erst OO
sehen „lernen”, bevor er imstande ist, den un‐ OO
geheuren Abstand zu ermessen, der zwischen OO
einer mit Pinsel oder Meißel hervorgebrachten OO
Mache und einem wirklichen KunstwerkOO
besteht.
.Es mag dabei ratsam erscheinen, immerhin OO
das Urteil solcher Menschen zu beachten, OO
deren entwickeltes Kunstgefühl keine Verwechs‐ OO
lung von Kunst und Unkunst zuläßt, und die OO
zugleich ihre eigenen Vorlieben und Abneigungen OO
soweit meistern, daß sie zum Wertgebenden in OO
jeder Kunstrichtung vorzudringen vermögen.
44 Das Reich der Kunst
.Aber auch das Urteil eines Menschen, dessen OO
subjektiv unbeeinflußtes Kunstgefühl ganz außer OO
Frage steht, kann immer nur insoweit fördern, OO
als es lehrt, alles Unkünstlerische, alles Halbe OO
und Unechte auszuscheiden.
.Es kann nur den Kreis des „Studienmaterials” OO
auf das wirklich Wertvolle einschränken, und OO
dadurch ein Abirren vermeiden lehren.
.In dem Echten und Wertvollen dann die OO
wirklichen Kunstwerke zu entdecken, muß eiOO
gener Versenkung, eigenem Empfinden, eigeOO
nem Suchen und Vergleichen anheimgestellt OO
bleiben.
.Nichts wäre verkehrter als das „Nachbeten” OO
auch des sichersten Urteils, dessen innere BeOO
gründung man nicht selbst empfunden hat. OO
.Wer aber bestrebt ist, diese innere Begrün‐ OO
dung im eigenen Empfinden nachzuerleben, der OO
wird bei einiger Ausdauer entdecken, daß das OO
Urteil eines wirklich der bildenden Kunst kun‐ OO
digen Menschen stets auf den gleichen Grund‐ OO
lagen beruht, mag es sich nun um Kunst der OO
alten Ägypter, der Griechen und Römer, um OO
die Kunst Dürers oder das Werk eines als OO
ultramodern” geltenden wirklichen Künstlers OO
handeln.
45 Das Reich der Kunst
.Nicht die gedankliche Idee, nicht die ge‐ OO
schickte Wahl des Gegenstandes und dessen ding‐ OO
liche Schönheit oder Häßlichkeit, nicht die Art OO
der Naturauffassung und nicht die Technik ent‐ OO
scheiden über den wesentlichen Kunstwert eines OO
Werkes und bestimmen dessen Höhe, sondern OO
einzig und allein der Grad des inneren „organi‐ OO
schen” Lebens ist hier entscheidend, als Aus‐ OO
druck und Widerschein jenes ursprünglichenOO
schöpferischen Lebens, das der wesenhafte, auch OO
den höchsten Intellekt hoch überragende Geist, OO
der „über den Wassern” des Chaos schwebt um OO
aus ihnen immer neues Leben zu zeugen, alleinOO
in der Seele des wahren Künstlers sich ent‐ OO
falten läßt, damit es eingehen könne in das reife OO
Werk. OO
46 Das Reich der Kunst
Künstlerisches Sehen
.Um künstlerisch „sehen” zu lernen, muß OO
man wieder und wieder beste Kunst vor AugenOO
haben, bis die Seele allmählich das optische Bild OO
deuten, und künstlerisch Beseeltes von Unbe‐ OO
seeltem scheiden lernt.
.Entwickeltes Kunstgefühl ist nur eine Folge OO
des tiefen Eindringens in das künstlerisch WeOO
sentliche, das in aller wirklichen Kunst zu OO
finden ist: ‒ in den Werken der einander fernsten OO
Zeiten und Völker, ‒ in allen Schöpfungen ech‐ OO
ter Künstler, möge ihr Werk auch durch ganz OO
verschiedene, ältere oder neuere Kunstauffassung OO
bestimmt worden sein.
.Was auf Reisen, bei gelegentlichen Museums‐ OO
und Ausstellungsbesuchen flüchtig betrachtet wird, OO
kann zwar dem schon urteilssicheren Kunst‐ OO
Vertrauten allenfalls dazu dienen, sich einenOO
neuen Überblick zu verschaffen, hingegen wird OO
es den noch Kunst-Fremden eher verwirrenOO
als belehren.
.Soll Kunstbetrachtung wirklich die UrteilsOO
fähigkeit entwickeln, dann ist vor allem ZeitOO
zur Vertiefung in das Gesehene nötig.
49 Das Reich der Kunst
.Der ungeübte Beschauer, dem die Fähigkeit OO
zu objektiv richtiger Schätzung des Gesehenen OO
noch abgeht, wird niemals Gewinn von Kunst‐ OO
besichtigungen „im Vorübergehen” haben, ‒ OO
handle es sich um eine Galerie alter Meister OO
oder um eine Darbietung neuerer Kunstwerke. OO
.Die meisten Menschen, auch die auf anderenOO
Gebieten Gebildeten, sind immer noch gewohnt, OO
ein Werk der bildenden Kunst in erster Linie OO
um seinen gegenständlich gegebenen Inhalt zu OO
befragen, mögen manche das auch nicht immer OO
gern wahrhaben wollen.
.Der künstlerisch maß- und wertgebende OO
Inhalt” eines Werkes der bildenden Kunst ist OO
aber niemals das gegenständlich Dargestellte, OO
sondern die Darstellung an sich, als Äuße‐ OO
rung der künstlerischen Begabung eines kunst‐ OO
schöpferischen Menschen!
.Wer in einem Werke der Malerei oder der OO
Plastik nur das Dargestellte sieht, der sieht OO
zunächst lediglich den Anlaß, der einen Künstler OO
zu einer Äußerung seiner schöpferischen Bega‐ OO
bung bestimmte.
.Nicht jedes Bildwerk, das dem Auge wohl‐ OO
gefällt, und das wohl gar die Bewunderung des OO
50 Das Reich der Kunst
Betrachters erregt, weil der dargestellte Gegen‐ OO
stand „zum Greifen natürlich” erscheint, ist OO
deshalb schon ein Kunstwerk.
.Um ein wirkliches Kunstwerk zu sein und OO
somit auch einen über den bloßen Arbeits- und OO
Materialwert hinausgehenden, tatsächlich gege‐ OO
benen Kunstwert zu besitzen, muß eine Dar‐ OO
stellung Zeugnis ablegen von der Intensität, OO
mit der ihr Darsteller die äußere Naturerschei‐ OO
nung in sich aufnahm, dann in seinem Inneren OO
verarbeitete, und sie, nachdem er sie gleich‐ OO
sam neu schuf, schließlich zum sinnenfälligen OO
Werke formte.
.Die individuelle Eigenart des Schaffen‐ OO
den allein bestimmt, bis zu welchem Grade sein OO
Werk gleichzeitig auch noch als Abbild desOO
Naturvorbildes gelten kann.
.Wäre schon jede korrekte und das Auge über‐ OO
zeugende Darstellung der Natur ein KunstOO
werk, dann hätte man die höchste VollenOO
dung der bildenden Kunst unstreitig von der OO
Optik und der Chemie her zu erwarten, denn OO
die endgültige Lösung des Problems der Farben‐ OO
photographie müßte dann Werke hervorbringen OO
lehren, die alle mit Pinsel und Farbe manuell OO
geschaffenen Darstellungen weithin an Kunst‐ OO
wert überragen würden.
51 Das Reich der Kunst
.Das Gleiche gilt von der Plastik, denn man OO
vermag ja bereits heute schon Plastiken auf OO
phototechnischem Wege herzustellen, die an „Na‐ OO
turtreue” kaum mehr etwas zu wünschen übrig OO
lassen.
.Vielleicht am verständlichsten wird das hier OO
Gemeinte ersichtlich innerhalb der Architektur. OO
.Wohl kann auch der Architekt Anregung zum OO
Schaffen durch ein Gebilde der Natur empfangen, OO
‒ doch, welches abstruse Mißgebilde würde ent‐ OO
stehen, wollte er etwa versuchen, in seinem Werke OO
ein Abbild der Naturerscheinung zu geben, OO
die sein Schaffen befruchtet hat!
.Aber auch nicht die handwerkliche GeschickOO
lichkeit, mit der etwa die Illusion des Gegen‐ OO
ständlichen auf der Fläche oder plastisch her‐ OO
vorgerufen wurde, erhebt eine Darstellung zum OO
Kunstwerk.
.Von wirklicher Kunst, von eigentlichem OO
Kunstwert darf erst dann gesprochen werden, OO
wenn das innerlich verarbeitete und aus schöpfe‐ OO
rischer Kraft geformte Werk vorliegt, ‒ nicht OO
die bloße „Naturwiedergabe”, die eine vervoll‐ OO
kommnete photochemische Technik dereinst weitOO
fehlerfreier liefern wird, als sie durch manuelle OO
Arbeit jemals gegeben werden könnte.
52 Das Reich der Kunst
.Der Schaffensvorgang im Künstler bedingt in OO
aller auf die sichtbare Welt bezogenen Kunst OO
gewiß zuerst eine besonders intensive AufOO
nahme der optischen Eindrücke durch das OO
physische Auge.
.Aber hier schon beginnt eine Auswahl, die OO
allein vom künstlerischen Empfinden be‐ OO
stimmt wird.
.Der Künstler wird Farben- und LinienOO
werte, Formen und räumliche BeziehungenOO
in dem Naturvorbild gewahren, die dem Nicht‐ OO
künstler nur nach jahrelanger Vorbereitung, nach OO
unermüdlicher Schulung seines Auges, zu sehen OO
möglich wären.
.Dann aber erfolgt erst in der Seele des Schaf‐ OO
fenden die innere Verarbeitung der durch phy‐ OO
sisches Sehen aufgenommenen Eindrücke, bis OO
endlich der eigentliche Schöpfungsakt: ‒ dasOO
Gestalten der künstlerischen Vorstellung, OO
sich ereignet.
.Dieses im Innern geschaffene VorstelOO
lungsbild wird alles in sich enthalten, was OO
dem Schaffenden an der Naturerscheinung künstOO
lerisch wesentlich war: ‒ was sein Tempera‐ OO
ment erregte, ‒ was den Anlaß zum Schaffen OO
bildete, ‒ und wird alles ausschalten, was bei OO
dem Naturerlebnis belanglos blieb.
53 Das Reich der Kunst
.(Den hier geschilderten Prozeß wird jeder Ma‐ OO
schinenbauer leicht verstehen, wenn er daran OO
denkt, daß auch er in seiner Zeichnung alle OO
Schrauben, Hebel und Räder besonders hervorOO
heben wird, die ein Verständnis der FunkOO
tion seiner Maschine vermitteln, auch wenn das OO
solcherart Betonte dem Laien an der fertigen OO
Maschine kaum besonders auffallen würde, wäh‐ OO
rend anderes, das dem Fachmann unwichtig ist OO
oder die Klarheit der Zeichnung beeinträchtigen OO
könnte, aus der Darstellung ausgeschaltet bleibt.) OO
.Der dritte und letzte Vorgang im Schaffen OO
des bildenden Künstlers ist dann erst die sinnenOO
faßliche Darstellung.
.Es versteht sich von selbst, daß sie nur in OO
einer den Gesetzen der Kunst entsprechenden OO
Verwendung der Darstellungsmittel erfolgen darf, OO
wenn ein wirkliches Kunstwerk entstehen soll. OO
.Die Darstellungsmittel selbst aber kann auch OO
jeder Nichtkünstler beherrschen lernen.
.Mit mehr oder weniger Begabung zum Zeichnen, OO
mit mehr oder weniger Farbengeschmack, wie ihn OO
schließlich auch der gute Schaufensterdekorateur OO
besitzen muß, läßt sich bei entsprechendem Fleiß OO
„Zeichnen” und „Malen” erlernen, ja bis zur OO
Virtuosität entwickeln.
54 Das Reich der Kunst
.Was dann ein solcher „geschickter” Zeichner OO
oder Maler hervorbringt, mag den „Laien” zu OO
staunender Bewunderung hinreißen, und es kann OO
auch am rechten Platz, ‒ etwa als Illustration, OO
oder dort, wo es sich darum handelt, eine Fläche OO
geschmackvoll zu schmücken, ‒ in seiner Art OO
vollkommen sein, so daß es hohe Anerkennung OO
verdient, aber mit wirklicher Kunst hat es nur OO
die gleichen Darstellungsmittel und das ErlernOO
bare gemeinsam.
.Der Schaffende gebraucht die Darstellungs‐ OO
mittel, über die er, genau wie jeder andere, OO
nur dann frei verfügen kann, wenn er sie durch OO
langes Studium in sicheren Besitz brachte, um OO
sein inneres künstlerisches Vorstellungsbild, von OO
dem oben die Rede war, nach außen hin sicht‐ OO
bar erstehen zu lassen.
.Es ist dabei einerlei, ob er, wie Böcklin, OO
nur aus der Erinnerung schöpft, wie Hodler, OO
die Zeichnung unerbittlich nach dem Modell OO
berichtigt, oder, wie der urdeutsche LeiblOO
keinen Pinselstrich macht, ohne seine Berechti‐ OO
gung vorher scharfsinnig erprüft zu haben.
.In allem künstlerischen Schaffen handelt es OO
sich um die Wiedergabe des innerlich bereits ge‐ OO
stalteten Vorstellungsbildes, nicht etwa um OO
ein „Abmalen” der äußeren Natur, und selbst OO
der scheinbar so ganz vom Naturvorbild ab‐ OO
55 Das Reich der Kunst
hängige, ausgesprochene Impressionist Max LieOO
bermann bestätigt das, indem er von seinem OO
eigenen Schaffen spricht als von einem steten OO
Komponieren aus der Phantasie”, wobei OO
dem Naturmodell nur die Aufgabe zufalle, diese OO
schöpferische Phantasie in lebendiger Erregung OO
zu erhalten.
.Aus den Darstellungsmitteln wählt jeder Künst‐ OO
ler instinktiv aus, was ihm am ehesten gestattet, OO
das was er zu sagen hat, in der knappestenOO
und dabei vollkommensten Form zu sagen. OO
.Zeichnen ist die Kunst wegzulassen!” ‒ OO
definiert der oben genannte Künstler.
.Auch Malen ist eine Kunst des „Weglassens!” OO
.Jeder Pinselstrich, der zur Darstellung des OO
künstlerisch geformten inneren Vorstellungsbil‐ OO
des nicht unbedingt nötig ist, ergibt ein „Zu‐ OO
viel”, verringert den Wert des Werkes in der OO
Wertung des Kunstkundigen.
.In der Plastik ist es nicht anders, wenn man OO
vom Merkmal des Meißels am Werke sprechen OO
will, und daß ein Überwuchern architektoniOO
scher Formen, die nicht durch den Zweck und OO
die künstlerische Struktur eines Bauwerks OO
bedingt sind, seinen Kunstwert verringert, OO
wenn nicht gar völlig in Frage stellt, weiß OO
heute doch schon mancher, der den Werken der OO
56 Das Reich der Kunst
Malerei und Plastik noch recht unsicherOO
gegenübersteht.
.Ausgeführt” oder „fertig” ist ein Werk OO
der bildenden Kunst, wenn es das innere künst‐ OO
lerische Vorstellungsbild zum Ausdruck bringt, OO
sei es auch nur durch „skizzenhafte” Andeutun‐ OO
gen, während es bei noch so detaillierter und OO
glatter Arbeit unfertig bleibt, solange es nicht OO
der vollendete Ausdruck des innerlich GeOO
sehenen ist.
.Hier mag an das Wort Goethes erinnert sein: OO
.Ein jedes wirkliche Kunstwerk ist inOO
jedem Zustande fertig.”
.Ob Holbein seine Köpfe glatt und minutiös OO
malt, oder Frans Hals die seinen mit wuchti‐ OO
gen, „skizzenhaften” Pinselhieben hinhackt, ist OO
für die Wertung beider Künstler absolut gleichOO
gültig.
.Wichtig ist allein, ob in der Darstellung un‐ OO
bestreitbar das innere, nach immanenten künst‐ OO
lerischen Gesetzen „komponierte” Vorstellungs‐ OO
bild des Künstlers erfühlbar wird, indem es mit den, OO
seinem Temperament entsprechenden, sicher OO
beherrschten Darstellungsmitteln zum Ausdruck OO
kam. OO
57 Das Reich der Kunst
.Wichtig ist, ob die „Handschrift”, die das OO
Werk aufzeigt, wirklich ursprünglich, dem OO
Künstler wesensgemäß und sein eigen ist, oder OO
ob nur äußerliche Dressur und glatte Fleißarbeit OO
über den Mangel wirklichen künstlerischen Tem‐ OO
peraments hinwegtäuschen sollen.
.Alles das muß man aber erst sehen lernen, OO
bevor man zu einem sicheren Urteil über Werke OO
der bildenden Kunst kommen kann, denn solches OO
Urteilsvermögen ist ebensowenig „angeboren”, OO
wie etwa die Sicherheit, mit der ein Juwelen‐ OO
händler wertvolle von fehlerhaften EdelsteinenOO
oder gar von Fälschungen unterscheidet.
58 Das Reich der Kunst
„Das Schöne” im Kunstwerk
.Die Freude am Schönen ist dem Menschen OO
eingeboren, trotzdem bis heute noch niemand OO
imstande ist, eine absolut gültige Definition des OO
„Schönen” zu geben.
.Was dem einen Menschen als berückendOO
schön erscheint, wird von dem andern kaumOO
beachtet, und ein dritter mag es gar als unOO
schön empfinden.
.Wie verschiedenartig die Deutungen des OO
Begriffes „Schönheit” ausfallen können, zeigt OO
in klarster Weise die Geschichte der bildendenOO
Kunst.
.Gerade die größten Meisterwerke RemOO
brandts fanden seine Zeitgenossen unschön, OO
ja häßlich, während sie den Kunstkundigen OO
unserer Tage eine Welt der Schönheit er‐ OO
schließen.
.Bei den Zeitgenossen fanden die süßlichen OO
Malereien der späten Nachahmer Raffaels höchste OO
Bewunderung, während jeder Urteilssichere OO
heute nur mehr ein trauriges Dokument desOO
Niedergangs in diesen Bildern erblicken kann. OO
61 Das Reich der Kunst
.So wechselten die Meinungen hinsichtlich OO
dessen, was als das künstlerisch Schöne zu OO
gelten habe, nicht anders wie in Bezug auf das OO
gegenständlich Schöne in der Natur.
.Am deutlichsten zeigt sich vielleicht die Viel‐ OO
deutigkeit des Schönheitsbegriffes in der neueOO
ren Kunst.
.Während der eine Betrachter berauscht ist OO
von der „Schönheit” eines Werkes, findet es OO
der andere „ekelhaft” und „abstoßend”.
.Jeder sucht eben nur die Darstellung seines OO
eigenen, recht subjektiv bestimmten Schön‐ OO
heitsideals, ‒ aber auch dieses persönlicheOO
Ideal ist keineswegs unwandelbar, sondern OO
wird im Laufe eines Menschenlebens gar oft OO
durch Modeströmungen, Zeitgeschmack und ei‐ OO
gene Urteilsumbildung beeinflußt, so daß der OO
gleiche Mensch in den verschiedenen Zeitfolgen OO
seines Erdendaseins zu sehr verschiedenenOO
Definitionen seines Schönheitsideales gelangen OO
kann.
.Erfreulich wird solche Wandlung sein, OO
wenn sie aus einer tieferen Erkenntnis desOO
Wertgebenden in der Kunst hervorging.
.Während man lange Zeit hindurch nur dieOO
Anekdote, den dargestellten Vorgang, oder die OO
62 Das Reich der Kunst
möglichst täuschende Natur-Imitation in einem OO
Kunstwerk, oder einem Gebilde das als Kunst‐ OO
werk gelten wollte, bewunderte, fing man eines OO
Tages an, alles dieses unbeachtet zu lassen, um OO
fortan die Schönheit nur in der besonderen Qua‐ OO
lität des Technischen: ‒ der VirtuositätOO
der Mache, ‒ in der „schönen EpidermisOO
des Werkes zu suchen und zu sehen.
.Heute noch gibt es genug solche begeisterte OO
Bewunderer des Pinselraffinements, und ManetsOO
„Spargelbund”, der als Probe stupenden Kön‐ OO
nens gewiß hervorragend bleibt, wird von vielen OO
nicht nur höher gewertet als seine wirklichOO
kunstbedeutsamen, aus gleichem Können erwach‐ OO
senen Meisterwerke, sondern auch für weitaus OO
wertvoller angesehen als, beispielsweise, die SixOO
tinische Madonna.
.Aber die Zeit, in der solches Urteil genügte, OO
um sich als „Kunstkenner” zu erweisen, neigt OO
sich doch allmählich wieder ihrem Ende zu.
.Man fängt wieder an, im Künstler nicht nur OO
den kapriziösen Könner zu sehen, ‒ ja man OO
hat leider bereits eine ganz ungerechtfertigte OO
Geringschätzung für alles technische Können OO
bereit, und läßt sich selbst gewollt naiv-unbe‐ OO
holfenstes Gebaren im Technischen gefallen, OO
63 Das Reich der Kunst
wenn nur der gesuchte geistige Inhalt dahinter OO
irgendwie zu erspüren ist.
.Hervorragende „Könner” unter den Künst‐ OO
lern dieser Tage kennen kein heißeres Bemühen, OO
als die bewußte Unterdrückung auch des lei‐ OO
sesten Anzeichens ihres Könnens, und gefallen OO
sich in einer Darstellungsart, die mehr oder we‐ OO
niger den Kunstäußerungen der Naturvölker, OO
oder naiven Kinderzeichnungen angeähnelt ist. OO
.Nichts wird ärger gefürchtet als der Anschein OO
des Virtuosentums, oder die Merkmale einer ho‐ OO
hen Kultur des künstlerisch-technischen Dar‐ OO
stellens.
.Allerdings geht dieses Streben zum scheinbar OO
Allereinfachsten oft so weit, daß man schon wie‐ OO
der von einem Virtuosentum des NaivseinOO
wollens sprechen könnte.
.Solche Erscheinungen wären aber ganz un‐ OO
möglich, wenn man heute auch noch, wie vor OO
nicht gar langer Zeit, allen Kunstwert eines Wer‐ OO
kes nur in der „geistreich” gemalten OberflächeOO
sehen würde.
.Man beginnt heute wieder, im bildenden OO
Künstler, gleichwie im Dichter und im Kompo‐ OO
nisten, den Seelendeuter, den Künder seeOO
lischer Erlebnisse, den Schürfer in denOO
tiefsten Tiefen des noch Ungewußten zu OO
64 Das Reich der Kunst
sehen, und man erwartet vom Maler wie vom OO
Plastiker, daß er nur solchen Erlebnissen Aus‐ OO
druck schaffe, die sich auf keine andere Weise, OO
als nur mit den Mitteln seiner Kunst ausspre‐ OO
chen lassen.
.Es fragt sich also, welches die ureigenen Dar‐ OO
stellungsmittel sind, über die der bildende Künst‐ OO
ler verfügt?
.Da kommen wir denn, wenn wir hier in erster OO
Linie einmal die Kunst des Malers in Betracht OO
ziehen wollen, auf folgende:
.Helle und dunkle Massen, Farbflecken, OO
sowie deren Umgrenzungen, die sich als LinienOO
zeigen, wenn auch die Linie daneben ein EiOO
genleben als Kunstmittel führen kann.
.Auch wenn der Maler eine Anekdote zur Dar‐ OO
stellung bringen will, hat er keine anderen Mittel OO
zur Verfügung.
.Aber während er bei dem Versuch, den op‐ OO
tischen Eindruck äußerer Gegenstände aufs Auge OO
zu imitieren, seine Mittel mehr oder weniger OO
vergewaltigen muß, gleich einem Musiker, der OO
die Stimmen von Tieren, oder andere Naturlaute OO
nachzuahmen trachtet, wird es sich bei einer OO
Darstellung die den künstlerischen Gesetzen ent‐ OO
sprechen soll, stets darum handeln, daß alles was OO
zu sagen ist, mit den zur Verfügung stehenden OO
65 Das Reich der Kunst
Kunstmitteln gesagt wird, ohne ihnen Gewalt OO
anzutun.
.Man wird das gut an einem Beispiel verste‐ OO
hen lernen:
.Wenn ein „Historienmaler”, in glücklich hin‐ OO
ter uns liegenden Tagen, den tragischen Tod OO
einer allbekannten geschichtlichen Persönlichkeit OO
darstellte, dann benutzte er eine Menge seelisch OO
wirksamer Momente, die alle schon vor seinem OO
Bilde da waren, und die auch durch eine Dar‐ OO
stellung in Worten, also durch den Dichter, OO
hätten vermittelt werden können, ja durch bloße OO
Kenntnis des historischen Vorgangs schon zum OO
Nacherleben kommen konnten.
.Das Werk eines solchen Malers ist zumeist OO
nichts anderes als eine gute oder schlechte IlluOO
stration, mag sie auch in gewaltigen Dimen‐ OO
sionen gehalten sein.
.Die gleiche geschichtliche Begebenheit kann OO
aber in einem Maler, der sie erschauernd in sich OO
nacherlebt, auch Komplexe seelischer Empfin‐ OO
dungen auslösen, die nur mit den Mitteln seiOO
ner Kunst darstellbar werden, aber niemals OO
durch eine gemalte Schilderung des historischen OO
Vorgangs allein, anderen Seelen zum Empfinden OO
kommen könnten.
66 Das Reich der Kunst
.Entweder wird sich dann ein VorstellungsOO
bild des Geschehnisses in der Seele des Künst‐ OO
lers gestalten, das die erzählbare Begebenheit OO
auflöst in künstlerisch „sprechende” Formen, OO
Farben und Linien, denen die Kraft innewohnt, OO
das vom Künstler Erfühlte auch der Seele des OO
Betrachters nahezubringen, oder aber, es wird OO
sich das innerlich Erlebte zu einem Werke kri‐ OO
stallisieren, das mit der Wiedergabe des Vor‐ OO
ganges nicht das mindeste zu tun hat.
.Solche neue künstlerische Form kann die OO
Wucht und tragische Größe eines Ereignisses OO
weit stärker zum Ausdruck bringen als die beste OO
Illustration, gerade weil der Künstler sich nichtOO
verleiten ließ, Wirkungen anzustreben, die den OO
ureigensten Mitteln seiner Kunst fremd sind.
.Das gleiche gilt von jeder Darstellung, OO
hinter der ein Schaffensvorgang steht, der durch OO
Natureindrücke ausgelöst wurde.
.Die mit feinster Naturbeobachtung erfüllte OO
Wiedergabe einer Tanne am Bergabhang kann OO
eine vorzügliche Illustration eines botanischen OO
oder landschaftsgeographischen Handbuches sein, OO
‒ rein künstlerisch betrachtet ist ein solches OO
Bild aber noch unverarbeitetes Rohmaterial, OO
solange es nur Darstellung bleibt, und nicht, OO
67 Das Reich der Kunst
darüber hinaus, auch durch die Komposition der OO
Hell- und Dunkelmassen, der Farben oder Linien, OO
einer rein künstlerischen Empfindung Aus‐ OO
druck gibt.
.Es wäre geradezu möglich, daß ein Künstler OO
beim Anblick einer solchen, sehr „naturgetreuen”, OO
aber mit vergewaltigten Kunstmitteln hervor‐ OO
gebrachten Darstellung ein ähnliches Erleben in OO
sich empfinden könnte, als stünde er vor dem OO
Vorbild der Darstellung in der Natur, und daß OO
er sich alsdann angeregt fühlen würde, das so OO
Empfundene nun mit den rein und ehrlichOO
benützten Mitteln seiner Kunst zum Ausdruck OO
zu bringen. (Utrillo, dessen Ruhm heute vielen OO
seiner Bewunderer alle Namen des französischen OO
Impressionismus verdunkelt, soll die meisten sei‐ OO
ner Bilder nach Anregungen gemalt haben, die OO
ihm irgendwelche photographischen AnsichtsOO
postkarten vermittelten.)
.Der Kunstwert einer Naturdarstellung wird OO
niemals durch die exakte Formtreue dem Vor‐ OO
bild gegenüber bestimmt, ‒ auch wenn eine OO
„naturgetreue” Darstellung künstlerisch sehr wert‐ OO
voll sein kann, ‒ sondern das allein „KunstOO
wert” verleihende innere Leben eines wirkli‐ OO
chen Kunstwerkes ist stets bedingt durch eine OO
Art der Aussprache, die streng den Gesetzen der OO
gegebenen Ausdrucksmittel folgt und diese Aus‐ OO
68 Das Reich der Kunst
drucksmittel nicht durch eine kunstfremde Ver‐ OO
wendung um ihre innere Kraft bringt.
.Das vollkommene Kunstwerk ist eine WeltOO
für sich, und in dieser, seiner Welt, ist nur OO
das von Wert, was wirklich erst durch das Werk OO
zur Existenz kam.
.Die besondere Schönheit eines Kunstwerkes OO
besteht darin, daß es ein in sich geschlosseOO
nes, formal und technisch einheitliches, gleich‐ OO
sam organisch gewachsenes Gebilde voll in‐ OO
nerer Harmonie ist, in dem sein Schöpfer nurOO
das aussagt, was durch die eigentlichen Mittel OO
seiner Kunst, ‒ und nur durch sie, ‒ ausge‐ OO
drückt werden kann, was sich aber weder durch OO
das Wort der Dichtung oder Beschreibung, weder OO
durch eine Darstellung auf der Bühne, noch OO
durch ein Werk der Tonkunst ausdrücken läßt, OO
‒ am allerwenigsten jedoch durch die IllustraOO
tion einer Begebenheit oder eines Zustandes.
.Nur die innere Gesetzmäßigkeit, die hier OO
gemeint ist, löst in dem kunstkundigen Betrachter OO
das Wohlgefühl aus, das wir als Schönheitsemp‐ OO
finden bezeichnen.
.Es handelt sich nicht darum, einer Empfin‐ OO
dung irgend einen „wilden” Ausdruck zu OO
geben!
69 Das Reich der Kunst
.Kunst entsteht erst dann, wenn das künst‐ OO
lerische Erleben zur Gestaltung einer in allen OO
Stücken kunstgemäßen Form führte.
.Auch eine neue Schönheit, als Bereicherung OO
unseres in so vielerlei Strebungen seiner Erfül‐ OO
lung entgegentastenden Schönheits-Verlangens, OO
kann künstlerisch nicht anders erstehen.
.Nur darf man auch nicht dem Streben nach OO
neuer Schönheit den Weg verlegen mit den OO
schon bekannten Deutungen des so vieldeuti‐ OO
gen Schönheitsbegriffes!
.Man füllt nicht „neuen Wein in alte Schläuche”, OO
und so soll man auch nicht das neue Schöne in OO
Formen erwarten, die es doch nur zersprengen OO
müßte, wollte es in ihnen erscheinen.
70 Das Reich der Kunst
Natur und Kunst
.Aus den Zeiten des klassischen Altertums her OO
hat sich eine Künstleranekdote erhalten, in der OO
erzählt wird, wie ein Maler Früchte so täuschend OO
darzustellen verstand, daß Vögel herbeigeflogen OO
kamen, um an gemalten Beeren zu naschen.
.Diese Anekdote spiegelt auch heute noch so OO
recht das Verlangen wieder, das die meisten kunst‐ OO
fernen Bilderbetrachter durch die Kunst der Ma‐ OO
lerei befriedigt sehen möchten.
.Das Vortäuschen der Greifbarkeit eines ge‐ OO
malten Gegenstandes ist aber bestenfalls nur ein OO
scherzhaft erlaubtes „Kunststück”, das mit OO
„Kunst” nicht das mindeste zu schaffen hat, OO
und keinem sonderlich schwer fällt, der das Hand‐ OO
werkliche der Malerei versteht.
.Wäre in solcher Spielerei die Kunst des Ma‐ OO
lers beschlossen, dann läge wahrhaftig keine Be‐ OO
rechtigung vor, den Künstler anders einzuschätzen OO
als den Verfertiger künstlicher Blumen und OO
Früchte, oder den Modelleur der Wachsfiguren OO
eines Panoptikums, was aber durchaus nicht hei‐ OO
ßen soll, daß die oft sehr mühselige Arbeit solcher OO
73 Das Reich der Kunst
Spezialisten nicht sehr viel Können und Geschick‐ OO
lichkeit erfordere.
.Im Reiche der bildenden Kunst wird AnderesOO
erstrebt, und wenn auch zuweilen Maler ihre OO
Freude daran hatten, das Gegenständliche einer OO
Darstellung „bis zur Greifbarkeit” herauszuarbei‐ OO
ten, so wußten sie doch auch sehr genau, daß der OO
Wert ihres Werkes keineswegs in solcher Na‐ OO
turspiegelung beschlossen war, ‒ ja, es ist wohl OO
anzunehmen, daß manches Werk dieser Art nur OO
entstand, weil Auftraggeber und Käufer die Künst‐ OO
ler bedrängten und zu einer Darstellungsweise OO
nötigten, die sie aus freien Stücken kaum ge‐ OO
wählt haben würden.
.Wer das Reich der bildenden Kunst betreten OO
will, der sollte den Zuruf in sich fühlen, den der OO
biblische Moses hörte vor dem brennenden Busch: OO
„Zieh' deine Schuhe von den Füßen, denn der OO
Ort den du betreten willst, ist heiliges Land!”
.Was auch ein wirklicher Künstler zu geben OO
haben mag, und sollte es dem Motiv nach noch OO
so nahe dem „grauen Alltag” stehen, wird immer OO
eine Botschaft der Seele sein, bestünde sie auch OO
nur darin, daß sie sehen lehrte, wie selbst das OO
Häßlichste noch einen Gottesfunken offenbaren OO
kann, der nur im Kunstwerk zu erlösen ist.
74 Das Reich der Kunst
.Um diese Botschaft der Seele handelt es OO
sich in aller Kunst!
.Die Malerei macht hier keine Ausnahme, so OO
sehr es auch den Anschein haben mag, als reize OO
den Maler in erster Linie die „WiedergabeOO
farbiger Erscheinungen der Außenwelt, etwa um OO
ihr Abbild dauernd „festzuhalten”.
.Ich habe schon dargelegt, daß dieses Ziel: OO
‒ das „Festhalten” des Natureindruckes, ‒ in OO
vollkommenster Weise erreicht sein wird, wenn OO
es eines Tages gelingt, die Photographie inOO
natürlichen Farben von den Mängeln zu be‐ OO
freien, die ihr derzeit noch anhaften.
.Daß der Maler handwerklich fähig ist, mit den OO
Mitteln seiner Kunst Gebilde hervorzubringen, OO
die durch ihre Wirkung auf das Auge ähnliche OO
Reizungen auslösen wie die Dinge der farbigen OO
Erscheinungswelt, betraut ihn nur mit der hohen OO
Aufgabe, das Wort der Seele in den Außen‐ OO
dingen zu erlauschen, um sodann im Kunstwerk OO
auch Anderen von dem Erlauschten Kunde zu OO
bringen.
.Das, was ich hier das Wort der Seele nenne, OO
wird niemals optischen Apparaten und chemi‐ OO
schen Verfahren zugänglich sein. Auch alle ge‐ OO
schmackvolle „Regie” der Bildwirkungsmittel kann OO
75 Das Reich der Kunst
dem Wort der Seele, das hier gemeint ist, nicht OO
den ihm gemäßen Ausdruck schaffen.
.Der Künstler nur kann es in sich aufnehmen OO
und dann im Werke zum Wiederklang bringen! OO
.Der Wert eines Kunstwerkes wird niemals OO
abhängig sein von dem Grade der Täuschung, OO
die es auf der Netzhaut des Auges hervorbringt, OO
sondern bleibt stets im genauesten Verhältnis zu OO
der Intensität, oder auch der besonderen InnigOO
keit, mit der sein Schöpfer das „Wort der Seele” OO
in den Naturdingen erfaßte und dann im Werke OO
auszusprechen wußte.
.Der Mensch trägt in sich auf verschiedene OO
Weise die Elemente der gesamten Natur.
.Was nun im Äußeren zum Künstler „sprichtOO
und ihm vernehmbar werden will, wird immer OO
gerade dem gleichen, was er, ‒ als einzigartige OO
Individualität, ‒ in besonders vollkommenerOO
Form in sich trägt.
.Daher hat die Natur jedem Künstler AnderesOO
zu geben!
.Für jeden Schaffenden, der in Andacht und OO
Hingebung auf das „Wort der Seele” lauscht, wird OO
es sich in anderer, neuer Weise offenbaren. ‒ OO
.Wie weit der Maler die ihm in seinem Hand‐ OO
werk dargebotene Möglichkeit benutzen will, OO
76 Das Reich der Kunst
Dinge der Außenwelt „täuschend” und „greifbar” OO
darzustellen, wird stets davon abhängig sein, bis OO
zu welchem Grade die Erinnerung an Naturge‐ OO
gebenes erweckt werden muß, um vor dem Kunst‐ OO
werk empfinden zu können, was ein individuell OO
bestimmtes Künstlernaturell zum AusdruckOO
bringen wollte.
.Ist das, was der Künstler innerlich als „Wort OO
der Seele” vernahm, schon durch knappe AnOO
deutungen weiterzugeben, die ihre Ausgestaltung OO
in der Phantasie des Betrachters finden, dann OO
wäre es Sünde gegen den heiligen Geist der Kunst, OO
eine realistische Wiedergabe der Außendinge an‐ OO
zustreben.
.Braucht es hingegen den sinnlich schönenOO
Reiz der Oberfläche jener Dinge, aus denen OO
einem Künstler das „Wort der Seele” sprach, OO
dann bliebe sein Werk unvollendet, wollte er OO
sich mit bloßen „Andeutungen” zufrieden geben. OO
.Die köstlichen Zeichnungen Wilhelm Busch'sOO
würden keineswegs etwa vollkommener sein, wenn OO
sie bis ins letzte Detail plastisch durchgebildet OO
wären, ‒ hingegen würde einem Stich ChodoOO
wiecki's* die Vollendung fehlen, fehlte ihm die OO
minutiöse zeichnerische Behandlung aller darauf OO
dargestellten Dinge.
‒ ‒
* Maler und Kupferstecher, 1726-1801.
77 Das Reich der Kunst
.Die sogenannte „Ausführung” eines Bildes OO
ist also immer abhängig von dem seelischen Er‐ OO
leben des Künstlers: ‒ von dem, was durch das OO
Bild von Seele zu Seele übertragen werden soll. OO
.Die Vollendung ist erreicht, wenn alles im OO
Werke, ‒ sei es größten Formates oder nur eine OO
winzige Zeichnung, ‒ wirklich ausgesprochen OO
wurde, was der Künstler aussprechen wollte. OO
.Nicht „das große Wollen” allein kann dem OO
Werke eines Künstlers Bedeutung verleihen!
.Erst dann verdient solches Wollen Beachtung, OO
wenn das Werk alles zum Ausdruck bringt, OO
was „gewollt” worden war! ‒
.Es gibt viele Menschen die künstlerisch zu OO
empfinden fähig sind, und viele, die gar Großes OO
„wollen”, ‒ den schaffenden Künstler macht OO
aber erst die Fähigkeit, Empfundenes und Ge‐ OO
wolltes auch ausdrücken zu können, und zwar OO
in der Sprache seiner Kunst, ohne Anleihen in OO
kunstfremden Bezirken.
.Die Sprache der Kunst hat eherne Gesetze! OO
.Nicht anders als in der Musik, wo jede Ton‐ OO
folge gesetzmäßig begründet sein muß, wenn OO
überhaupt von „Kunst” die Rede sein soll, wird OO
auch in der Malerei eine strenge GesetzmäßigOO
78 Das Reich der Kunst
keit verlangt, deren Erfüllung jeder Betrachter OO
am Werke festzustellen vermag, sofern er selbst OO
die Gesetze der Darstellung in der Kunst des OO
Malens kennt, ‒ welches „Kennen” hier ein OO
Erfahrenhaben bedeutet.
.Entspricht ein Werk der Malerei diesen Ge‐ OO
setzen nicht, dann ist es in keinem Falle ein OO
Kunstwerk, ‒ mag es auch eine sehr tüchtige OO
Arbeitsleistung sein, ‒ mag auch die Darstellung OO
im Beschauer tiefstes seelisches, aber nicht durch OO
Kunst bedingtes Erleben auslösen.
.Nur das gesetzmäßig vollendete KunstwerkOO
kann das reine Kunsterlebnis vermitteln.
.Ein Beispiel aus der Lyrik möge das verdeut‐ OO
lichen.
.Es gibt selbst in der reichen Fülle der Ge‐ OO
dichte Goethes nichts Vollendeteres als die acht OO
Zeilen:
„Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.”
79 Das Reich der Kunst
.Jeder Zeitungsreporter kann mit Leichtigkeit OO
die Situation beschreiben, die in diesem Gedicht OO
geschildert wird.
.Keineswegs aber wäre durch solchen Bericht OO
etwa der Inhalt dieses reifsten Werkes der Poesie OO
wiederzugeben.
.Sein wesentlicher und den Kunstwert des OO
Gedichtes bedingender „Inhalt” ist vielmehr be‐ OO
schlossen in der vollendeten Komposition derOO
Worte, die nur in dieser, immanenten Sprach‐ OO
gesetzen entsprechenden Folge die seelischen OO
Schwingungen auslösen, die jeder Empfindende OO
beim Lesen des Gedichtes erlebt.
.Nichts ist hier nur „Form”, ‒ nichts nur OO
„Inhalt!”
.Form und Inhalt sind untrennbar zu vor‐ OO
her nie gewesener Einheit verschmolzen!
.So nur ist reines Kunsterlebnis zu vermit‐ OO
teln.
.In der Malerei lassen sich von dem Geübten OO
und der Kunst Kundigen ähnliche Beispiele in OO
Menge finden.
.Whistlers feingespielte Farben-„Adagios” wür‐ OO
den auch in der besten farbenphotographischen OO
Wiedergabe ihrer Naturvorbilder niemals zuOO
80 Das Reich der Kunst
finden sein, und die beste photographische Auf‐ OO
nahme einer Ballettprobe enthält nichts von den OO
sublimen künstlerischen Erlebnissen die DegasOO
in seinen fast nüchternen Pastellen vermittelt, OO
auf denen eine Bühnenecke, ein Stück Coulisse OO
und ein paar recht wenig „schöne” Ballerinen zu OO
sehen sind, alles aufgelöst in eine Symphonie so‐ OO
norer Farbenmassen und distinkter Linien.
.Was ein wirkliches Kunstwerk an SeelischemOO
zu geben hat, wird ja nicht durch seinen beschreib‐ OO
baren Schaffens-Anlaß bestimmt.
.Man muß ein Werk der Malerei als solchesOO
sehen lernen, ohne sich durch das gegenständlich OO
Dargestellte und dessen Lebenswerte beirren OO
zu lassen.
.Den wahren „Inhalt” eines Kunstwerkes muß OO
man aus seiner inneren GesetzmäßigkeitOO
erfühlen, und darf nicht glauben, die dargestell‐ OO
ten Dinge allein machten den Inhalt aus.
.Auch die in den letzten Jahrzehnten so sehr OO
überschätzte „getreue Naturbeobachtung” gibt OO
einer Bildtafel noch keineswegs den Rang eines OO
Kunstwerkes.
.Wo Form und Inhalt nicht Eines wurden, OO
liegt noch kein Kunstwerk vor, ‒ und der OO
Inhalt” eines Werkes der Kunst kann immer OO
nur aus künstlerischen Werten bestehen!
81 Das Reich der Kunst
.Erst dort, wo ein seelisches Erleben das sich OO
nur mit den Mitteln des Malers übertragen läßt, OO
seinen kunstgemäßen Ausdruck fand, darf von OO
einem Kunstwerk der Malerei gesprochen wer‐ OO
den, mag der optische Eindruck eines solchen OO
Bildes zugleich Natur-Erinnerungen wachrufen OO
oder nicht.
82 Das Reich der Kunst
Plastisches Empfinden
.Wenn auch das Verständnis der Kunst desOO
Malens, selbst bei vielen unserer Gebildeten, OO
noch manches zu wünschen übrig läßt, weil die OO
„Bildung” in diesen Tagen vornehmlich eine Bil‐ OO
dung des Denkens, des intelligiblen Vorstellens OO
ist, und sich noch nicht wieder bis zu einer Bil‐ OO
dung des Anschauens zu erheben vermochte, OO
so wird man doch noch weit eher der bewußten OO
und begründeten Freude an den Werken der OO
Malerei begegnen, als dem verstehenden und OO
genußfreudigen Einfühlungsvermögen vor den OO
Gebilden der Plastik.
.Es fehlt zwar unseren Großstädten nicht an OO
plastischen Denkmalen, und in den Wohnungen OO
findet sich mehr „Kleinplastik” als wünschbar OO
wäre, aber leider fehlt es in beiden Fällen gar OO
sehr am sicheren Instinkt für Qualität, am Sinn OO
für das wirklich Künstlerische und im Reiche OO
der Kunst Bedeutende.
.Ahnungslos füllt man seine Wohnung an mit OO
den übelsten Erzeugnissen fabrikmäßig herge‐ OO
stellter, sogenannter „Kleinkunst”, und findet OO
85 Das Reich der Kunst
kaum einen Unterschied zwischen diesen künst‐ OO
lerisch unmöglichen Bazarwaren und den voll‐ OO
endeten Kleinplastiken unserer bedeutendsten OO
Bildhauer.
.Auf öffentlichen Plätzen stellt man erbärm‐ OO
liche Gliederpuppen gigantischen Formates auf, OO
und meint damit der Nachwelt Werke zu hinter‐ OO
lassen, die gewiß doch neben allem bestehen OO
könnten, was Griechen und Römer in ihren OO
besten Kunstzeiten geschaffen haben.
.Unsummen werden so im Kleinen wie im OO
Großen vergeudet, und gewaltige Mengen kost‐ OO
baren Materials werden unbrauchbar gemacht, um OO
plastische Dinge hervorzubringen, die der KunstOO
des plastischen Formens so fern sind wie der Zinn‐ OO
soldat auf dem Pferdchen, den man in den Spiel‐ OO
zeugschachteln der Buben finden kann.
.Ursache aller dieser irrenden Geschäftigkeit, OO
die Gutes zu schaffen glaubt und dabei nur das OO
Miserabelste zu Tage fördert, ist ein absolutesOO
Mißverstehen der Kunst des Plastikers.
.Der plastische Sinn des Auges ist ohneOO
jede Ausbildung und es fehlt jegliche SicherOO
heit des Urteils.
.Was die meisten Nichtkünstler sich unter OO
einer „guten Plastik” vorstellen, ist, ‒ mit einem OO
Wort gesagt: ‒ Panoptikumskunst.
86 Das Reich der Kunst
.Wenn der neueste Raubmörder durch den OO
Modelleur des Panoptikums „verewigt” werden OO
soll, dann schwebt dem Darsteller kein anderes OO
Ziel vor Augen, als die möglichst naturgeOO
treue Wiedergabe des Verbrechers, in recht er‐ OO
schreckender Vortäuschung des Lebens.
.Sind die gläsernen Augen eingesetzt, Augen‐ OO
brauen, Bart und Haar „recht natürlich” ein‐ OO
geklebt, und ist die Bemalung der Hautflächen OO
gut gelungen, dann kann der wackere Nachbildner OO
des menschlichen Scheusals befriedigt auf das OO
Werk blicken, denn es ist kaum mehr von „der OO
Natur” zu unterscheiden.
.Der Künstler aber, der ein plastisches KunstOO
werk schaffen will, steht himmelhoch über dem OO
Bestreben, derartige plastische „Naturähnlichkeit” OO
erzielen zu wollen.
.Er spricht die Sprache dreidimensionalerOO
Formen, und sein ganzes Wirken zielt einzig OO
daraufhin, in solchen Formen ein Werk zu ge‐ OO
stalten, das als eine Symphonie im ReicheOO
plastischer Formschönheit gelten kann.
.Das Werk des Plastikers, der ein wirklicher OO
Künstler ist, stellt eine in sich geschlosOO
sene Welt dar, von der Welt naturgegebenerOO
plastischer Formen streng gesondert durch den OO
künstlerischen Impuls, der hier zu einer Schöp‐ OO
fung reiner Kunstformen führte.
87 Das Reich der Kunst
.Jede Kunst, die von den Formen der äußeren OO
Welt ihre Anregungen empfängt und sodann OO
zu Werken gelangt, die als Kunstwerke ange‐ OO
sprochen zu werden verdienen, kann als eine OO
Art „Übersetzung” der Naturformen betrachtet OO
werden: ‒ eine Übersetzung in die persönOO
liche Sprache des Künstlers, die wieder be‐ OO
dingt ist durch das Material, aus dem der OO
Künstler schafft.
.Es ist unmöglich, Naturformen sklavisch OO
kopieren zu wollen und dennoch ein KunstOO
werk zu schaffen.
.Kunst ist die Ausdruck gewordene innereOO
Welt eines Künstlers, und steht als eineOO
Welt für sich, ‒ nicht mehr den Naturfor‐ OO
men eingegliedert, innerhalb eigener Form‐ OO
grenzen vor dem Auge des Beschauers.
.Sucht der Beschauer in einem Kunstwerk OO
lediglich die schöne Naturform, so fehlt ihm OO
eben noch der entwickelte Sinn für Kunst als OO
solche.
.Er würde besser tun, das, was er sucht, gleich OO
in der Natur zu suchen, wo es wahrlich zu OO
finden ist!
.Mehr noch als beim Werke des Malers, fühlt OO
sich der „Laie” versucht, im plastischen Kunst‐ OO
88 Das Reich der Kunst
werk nach der Naturform, statt nach der KunstOO
form zu suchen, denn während die Malerei auf OO
der Fläche nur die Anregung zu dreidimensio‐ OO
naler Raumvorstellung geben kann, ist im plaOO
stischen Kunstwerk alles nach Höhe, Breite OO
und Tiefe gestaltet, und in dieser Hinsicht OO
der Naturform analog gebildet.
.Wenn man das Empfindungsvermögen für OO
plastische Kunst entwickeln will, muß man da‐ OO
her vor allem von der Suggestion loszukommen OO
suchen, als habe man es mit einem Gebilde aus OO
Naturformen zu tun, nur weil plastische KunstOO
ebenso wie jede plastische Form der Natur sich OO
im Raume auswirkt.
.Die Formensprache des Plastikers muß in OO
der gleichen Weise erkannt und gleichsam zu OO
„lesen” versucht werden, wie die Sprache der OO
Farben und Linien in der Malerei, unbeirrt OO
durch den kunstfremden Anreiz zu Vergleichen OO
mit den entsprechenden Naturformen.
.Zu solchem Eingehen auf das WesentlicheOO
der plastischen Kunst ist die Entwicklung eines OO
„Sinnes” vonnöten, den ich als „Tastsinn desOO
Auges” bezeichnen möchte.
.Das Auge muß lernen, alle die Flächen, OO
Wölbungen und Einbuchtungen: ‒ die OO
Buckeln und Höhlungen” des plastischen OO
89 Das Reich der Kunst
Kunstwerkes empfindend abzutasten, das Gefühl OO
für die Gegensätze und ihren Rhythmus zu ent‐ OO
wickeln, die Harmonie der in die Tiefe gestal‐ OO
teten Formflächen zu erspüren, um so allmäh‐ OO
lich die persönliche künstlerische Sprache zu ver‐ OO
stehen, die dem Bildhauer allein zur Verfügung OO
steht, will er seine innere plastische Welt nach OO
außenhin darstellen.
.Plastik ist die Kunst der Buckeln undOO
Höhlungen”, ‒ sagt Rodin, und dieses Wort OO
eines in der Neuzeit, dem künstlerischen Tempe‐ OO
rament nach, jeden Vergleich ausschließenden OO
plastischen Bildners könnte schon allein genü‐ OO
gen, auch den kunstfremden „Laien” zum Ver‐ OO
ständnis und zum einfühlenden Erleben plasti‐ OO
scher Kunst hinzuleiten...
.Er braucht ja nur ein plastisches Werk darauf OO
hin zu sondieren, ob diese „Buckeln und Höh‐ OO
lungen” eine kraftvolle, eindringliche und OO
innerhalb des Werkes einheitliche Formen‐ OO
sprache ergeben, ‒ ob sie seelischem EmpfinOO
den Ausdruck schaffen, oder ob sie, leer und OO
glatt, nur eine konventionelle Scheinwiedergabe OO
der Natur erstreben, statt eine in sich geschlossene OO
Welt zu gestalten, der Natur nur SchaffensOO
anregung war.
.Während aber Rodin sich eine fast wie un‐ OO
gebändigt erscheinende, nur seinem Bildner‐ OO
90 Das Reich der Kunst
willen allein gemäße, persönlich eigene, leben‐ OO
dige Sprache der Formen geschaffen hatte, um OO
seiner seelischen Bewegung Ausdruck zu geben, OO
‒ eine Sprache die allen zum leeren Pathos OO
wurde, die sie zu Lebzeiten oder nach dem Tode OO
des großen Meisters nachzuahmen suchten, ‒ OO
erstand in Deutschland eine Bildhauerschule, OO
angeregt durch Erkenntnisse, die der wohl be‐ OO
deutendste unter den deutschen Plastikern des OO
neunzehnten Jahrhunderts: Adolf von HildeOO
brand, auf seine Schüler übertrug, und auch OO
in einem kleinen Werkchen: „Das ProblemOO
der Form” ausführlich darlegte.
.Die Erkenntnisse Hildebrands waren Früchte OO
eines intensiven und von hohem Kunstverstand OO
geleiteten Studiums der Alten: ‒ der plastischen OO
Werke der Antike und der Renaissance.
.Die kleine Schrift: „Das Problem derOO
Form” versucht darzulegen, daß die Schöpfer OO
der bedeutendsten Werke plastischer Kunst, deren OO
sich die Welt zu erfreuen hatte, stets ihre For‐ OO
mensprache zu bändigen strebten durch einen OO
Willen zu höherer Einheitsform, indem sie ihren OO
Werken eine ideale, nur zu ahnende stereoOO
metrische Form zu Grunde legten.
.„Malerisch” gedachte Plastik lehnte Hilde‐ OO
brand ab, und vor allem bekämpfte er die „Rund‐ OO
plastik” ‒ das plastische Gebilde das von allenOO
91 Das Reich der Kunst
Seiten eine gleich gute Ansicht bilden solle, OO
‒ und erbrachte auf seine Art den Beweis der OO
künstlerischen Unerfüllbarkeit solcher Forderung. OO
.Seiner Auffassung nach soll ein gutes pla‐ OO
stisches Kunstwerk von einer Ansicht aus sich OO
entwickeln, und er machte das deutlich durch OO
den schon von Michelangelo gebrauchten Ver‐ OO
gleich, daß das Werk in ähnlicher Weise aus dem OO
Steinblock erstehen müsse, wie eine Figur, die OO
man in einen gefüllten Wassertrog legt, beim OO
langsamen Abfließenlassen des Wassers mehr OO
und mehr zum Vorschein kommt, wobei hier OO
das allmählich verschwindende Wasser dem fort‐ OO
gemeißelten Stein zu vergleichen wäre.
.Das fertige plastische Kunstwerk soll dann, OO
nach Hildebrands Forderung, in den plastischen OO
„Ausladungen”: seinen äußersten, in den Raum OO
hinausstrebenden Punkten, gleichsam wieder einen OO
ideellen Block darstellen. Es soll keine Form OO
des Werkes dem Beschauer entgegenspringen, OO
sondern der Blick soll stets von den erhöhtesten, OO
äußersten Punkten in die Tiefen der Gesamt‐ OO
form geführt werden.
.Daß dieser Auffassung der künstlerischen, OO
plastischen Form eine hohe Weisheit innewohnt, OO
ergibt sich schon daraus, daß auch Plastik eineOO
Kunst fürs Auge ist, und daß das Auge nurOO
dort eine wohltuende Befriedigung erfährt, wo OO
92 Das Reich der Kunst
die ihm dargebotene Form sich mit einemOO
Blick im ganzen erfassen läßt, bevor die Glie‐ OO
derung der einzelnen Teile zur Empfindung OO
kommt.
.Alles Doktrinäre aber ist im Reiche der bil‐ OO
denden Kunst vom Übel, und so darf man denn OO
auch gewiß nicht glauben, seit Hildebrand sei OO
das Problem der künstlerischen plastischen Form OO
nun ein- für allemal gelöst.
.Es liegt hier, trotz allen Hinweisen Hilde‐ OO
brands auf die große plastische Kunst der Alten, OO
doch nur eine individuell gültige Lösung vor, OO
und ihre blinde Übernahme durch ganz anders OO
geartete Naturen hat leider Bildwerk genug ent‐ OO
stehen lassen, das hinter formaler „GeschlosOO
senheit” die ureigene Begabung des jeweiligen OO
Schöpfers in trister Bindung hält. Es führt lei‐ OO
der nicht immer zu künstlerischer Entfaltung, OO
wenn die Schüler eines Meisters mit dessen ur‐ OO
eigenen Kunstmitteln auszukommen trachten.
.Der Suchende auf dem Wege in das Reich OO
der bildenden Kunst, der erst sehen lernenOO
will, wird sich aber noch mehr wie der Künst‐ OO
ler davor zu hüten haben, irgend einer Kunst‐ OO
Theorie zu verfallen, sei sie auch verstandes‐ OO
mäßig überaus einleuchtend und aufs beste be‐ OO
gründet.
93 Das Reich der Kunst
.Die Selbsterziehung zum plastischen Sehen OO
im künstlerischen Sinne ist leichter als mancher OO
ahnen mag, der jetzt noch mit einer gewissen OO
Scheu einen Blick auf plastische Kunstwerke OO
wirft, im Gefühl der inneren Unsicherheit seines OO
Urteils, und dem Plastik ‒ wie er meint ‒ OO
„nichts zu sagen” hat, weil er das Werk des OO
Plastikers noch nicht für sich zum klingenden OO
„Sprechen” bringen kann, wie allenfalls ein Werk OO
der Malerei, für dessen Farben- und Formen‐ OO
sprache auf der ebenen Fläche ihn vielleicht OO
schon eine gewisse „Gewöhnung” des Auges eini‐ OO
germaßen erzogen hat.
.Aber auch das Erschließen des kunstwertbe‐ OO
stimmenden Inhalts von Werken der PlastikOO
verlangt vorerst reichliche Seh-Übungen und hin‐ OO
gebendes Versenken im Betrachten guter plasti‐ OO
scher Kunst.
.Man wird sich entschließen müssen, auch den OO
Museen plastischer Bildwerke das gleiche In‐ OO
teresse entgegenzubringen, wie den BildergaleOO
rien, und man wird dort wie hier gut daran OO
tun, wenn man endlich die Betrachtung des OO
Dargestellten ablöst durch Vertiefung in dieOO
künstlerische Art der Darstellung.
94 Das Reich der Kunst
Künstler und „Laie”
.In der Gebrauchssprache des Alltags gibt es OO
Worte und Wortverbindungen, die allgemeines OO
Übereinkommen ruhig gelten läßt, auch wenn OO
vielleicht zu fragen wäre, ob sie zu Recht be‐ OO
stehen.
.Ein solches Wortklischee soll absichtlich den OO
Titel dieser kleinen Betrachtung bilden, weil hier OO
gut sein wird, einmal zu untersuchen, ob die Be‐ OO
zeichnung aller Nichtkünstler als „Laien” sich OO
unter allen Umständen rechtfertigen läßt, oder OO
ob es auch künstlerisch begabte Menschen gibt, OO
die nicht ausübende Künstler und dennoch OO
keine „Laien” sind.
.Den etymologisch bekannten Ursprung des OO
Wortes „Laie”, allwo es einen Menschen ausOO
dem Volke meint, nur nebenher streifend, will OO
ich dieses Wort hier vielmehr in seiner heutigen, OO
landläufigen Bedeutung betrachtet wissen.
.Da bezeichnet man denn kurzweg jeden Men‐ OO
schen, der in irgend einem, gewisse Kenntnisse ver‐ OO
langenden Bereich menschlicher Tätigkeit nichtOO
fachkundig ist, als einen „Laien” auf diesem OO
97 Das Reich der Kunst
Gebiet, ‒ so, wie nach alter kirchlicher Übung, OO
jeder Gläubige als „Laie” gilt, gegenüber seinen, OO
der Gottesgelahrtheit kundigen Glaubenslehrern. OO
.Sofern es sich demnach im Reich der bilden‐ OO
den Kunst um die schöpferische Kraft zurOO
Zeugung künstlerischer Gestaltungen han‐ OO
delt, ‒ ja selbst dort, wo es sich nur um das OO
dem Künstler geläufige Handwerk dreht, ‒ läßt OO
sich die Unterscheidung zwischen Künstlern und OO
Laien gewiß mit guten Gründen rechtfertigen.
.Anders aber steht es, wenn wir vom künstOO
lerischen Fühlen sprechen, für das zwar der OO
Künstler von Natur aus mehr Eignung in sich OO
trägt als andere Menschen, und dem er allein nur, OO
kraft seiner Begabung, Ausdruck zu schaffen OO
vermag, ‒ das aber durchaus nicht etwa nur ihmOO
allein vorbehalten ist.
.Wäre nur dem Künstler allein die Möglich‐ OO
keit erschlossen, künstlerisch fühlen zu kön‐ OO
nen, dann würde er sich vergeblich unter Nicht‐ OO
künstlern nach Menschen umsehen, die imstande OO
wären, sein Werk empfindend in sich aufzunehmen. OO
.Es gäbe dann wirklich nur eine Kunst fürOO
Künstler, und alle künstlerische Schöpfung wäre OO
nur für die künstlerisch SchöpferischenOO
der Mit- und Nachwelt da.
98 Das Reich der Kunst
.Tatsächlich liegt die Zeit ja noch nicht lange OO
hinter uns, in der man resigniert auf das Kunst‐ OO
interesse der „Laien” verzichten zu müssen meinte, OO
weil nur der Künstler Kunst erfassen könne. OO
.War solche Auffassung auch töricht, so lag OO
ihr doch die Erkenntnis einer Wahrheit zu‐ OO
grunde: ‒ der Wahrheit, daß Kunst nur dem OO
künstlerisch empfindenden Menschen faßbar OO
werden kann.
.In der Welt der Musik ist man sich längst OO
über diese Wahrheit klar.
.Man spricht da von „musikalischen” und „un‐ OO
musikalischen” Menschen, und man weiß sehr OO
genau, was auch den Hochbegabten unter den Mu‐ OO
sikalischen immer noch vom berufenen SchöpfeOO
rischen: ‒ vom Komponisten, ebenso aber OO
auch vom nur reproduzierenden, zur kongeOO
nialen Einfühlung in Schöpferisches berufenen OO
Künstler scheidet.
.Ja, man darf sagen: ‒ je begabter der mu‐ OO
sikalische Mensch ist, desto weniger wird er in OO
Gefahr kommen, sich selbst für einen „Künstler” OO
zu halten, wenn er es nicht ist.
.Er wird kaum in Versuchung geraten, selbst OO
komponieren zu wollen, und wenn er wirklich OO
zu den Ausnahmen gehört, die auch da einmal OO
99 Das Reich der Kunst
einen Versuch wagen zu dürfen glauben, dann OO
wird es ihm doch gewiß nicht im Traume ein‐ OO
fallen, zu erwarten, daß seine Kompositionsver‐ OO
suche nun in den großen Konzerten aufgeführt OO
werden müßten. Ebensowenig wird er Klavier‐ OO
konzerte geben wollen, auch wenn er imstande OO
ist, recht Schwieriges vorzüglich vom Blatt zu OO
spielen.
.Ein „musikalischer” Mensch ist innerhalb des OO
Bereiches der Musik keineswegs „Laie”, und OO
empfindet sich auch gewiß nicht als solchen.
.Der „Musikalische” ist der ideale VerstehendeOO
für das schöpferische Werk des Komponisten, ‒ OO
ist befähigt und genügend künstlerisch gebildet, OO
alle Werte und Schönheiten des Werkes empfin‐ OO
dend in sich aufzunehmen.
.Auch die bildende Kunst hat solche ideale OO
Verstehende sehr nötig.
.Auch hier braucht der Schaffende die LieOO
benden: ‒ Einfühlungsfreudige, Einfühlungs‐ OO
fähige, die keineswegs „Laien” sind, sich aber OO
ebensowenig für „Künstler” halten.
.Es handelt sich nur um durch und durch künst‐ OO
lerisch gebildete, feinempfindende Menschen, ‒ OO
und wie die „Musikalischen” Begabte des GehörsOO
100 Das Reich der Kunst
sind, so braucht die bildende Kunst Begabte des OO
Auges!
.Leider haben wir im Sprachschatz der bildenOO
den Kunst kein so sicher definierendes Wort, OO
wie es der Tonkunst zu Gebote steht, die ihre OO
begabten und künstlerisch gebildeten Empfinden‐ OO
den „musikalisch” nennt.
.Der Mangel eines gleichwertigen Wortes im OO
Bereich der bildenden Kunst trägt sehr viel OO
Schuld daran, daß hier die entsprechende breite OO
Schicht künstlerisch erzogener Verstehender fehlt. OO
.Aber es fehlen nirgends die Menschen, die OO
einen solchen Kreis Kunstkundiger auch für die OO
bildende Kunst ergeben könnten, nur ‒ verOO
stehen sie sich und ihre Begabung falsch! OO
.Sie mißverstehen ihre Begabung zu künst‐ OO
lerischem Empfinden kurzerhand dahin, daß sie OO
wohl zum künstlerischen Schaffen berufen seien, OO
und geben diesem fatalen Mißverständnis gerne OO
nach, bis sie jeden Maßstab sich selbst gegenüber OO
verlieren und ihr belangloses Tun dann eitelfroh OO
dem Wirken wirklich schöpferisch Begnadeter OO
gleicherachten.
.Die Skala dieser „Künstlerischen” die sich OO
dem Irrtum ergeben, Berufene des SchaffensOO
zu sein, reicht sehr hoch hinauf.
101 Das Reich der Kunst
.Aus dem Mißverstehen ihrer selbst heraus OO
haben viele sich verleiten lassen, Akademien und OO
Kunstschulen zu besuchen, haben dort mancher‐ OO
lei gelernt, und halten sich nun allen Ernstes für OO
schaffende „Künstler”, ‒ werden auch wohl zu‐ OO
weilen von wirklichen Künstlern, ohne sonder‐ OO
liche Neigung zu kritischer Wertung, gutmütig OO
als „Kollegen” betrachtet, und fühlen sich dann OO
sehr ungerecht beurteilt, wenn ein Kunstkundiger OO
in ihren Werken den Mangel an schöpferiOO
scher Kraft erkennt, auch wenn das Erlernbare OO
gut bewältigt ist.
.Nun ist es freilich sehr schwer für die solcherart OO
Selbstbetörten geworden, noch zu einer erbar‐ OO
mungslosen Klarheit über sich selbst zu kommen, OO
denn aus dem anfänglichen Mißverstehen einer OO
Begabung resultierte ein Alltagsberuf, der auf‐ OO
gegeben werden müßte, würde erkannt, daß er OO
nur einer Selbsttäuschung zu verdanken ist, daß OO
die eigentliche Berufung zum künstlerischen OO
Schaffen fehlt.
.Zu Anfang nur läßt sich hier das Verderben OO
einer Erdenlaufbahn noch verhüten, wenn der OO
künstlerisch Empfindende rechtzeitig erkennt, daß OO
ein kunstgebildeter, begabter AufnehmenderOO
für die Kunst wahrhaft bedeutsam werden OO
kann, während das Dasein eines unschöpferischen OO
Malers oder Bildhauers weder ihn selbst beglücken OO
102 Das Reich der Kunst
noch der Kunst in irgend einer Weise Förderung OO
bringen wird.
.Das Musikverständnis hätte nie die relative OO
Höhe erreicht, auf der wir es heute innerhalb OO
weiter Gesellschaftskreise antreffen, ohne die klare OO
Einsicht der „Musikalischen” in ihre Befähigung OO
und deren Grenzen.
.Bescheiden, aber dennoch seiner Begabung OO
wohlbewußt und froh, erfreut sich der „Musika‐ OO
lische” seines Einfühlungsvermögens an den Wer‐ OO
ken der wirklich zum Schaffen Berufenen, und OO
er wendet sein technisches Können lediglich an, OO
um solche Werke zu studieren und seinem Emp‐ OO
finden näher bringen zu können.
.Vergleicht man die „Musikalischen”, wie es OO
hier geschieht, mit den zur Empfindung bildender OO
Kunst Begabten, so läßt sich wohl sagen, daß OO
unter den für Musik Empfindungsfähigen, weit OO
mehr Selbstkritik, weit mehr Ehrfurcht vor OO
der Kunst zu finden ist.
.Tausende von Konzerten würden nicht aus‐ OO
reichen im Jahr, wenn alle „Musikalischen” die OO
auf ihrem Instrument gleichviel, wenn nicht mehr OO
leisten, wie die Überzahl der Füller moderner OO
Kunstausstellungen als Maler oder Plastiker, sich OO
ebenso vor dem Publikum produzieren wollten. . . OO
103 Das Reich der Kunst
.Es ist wahrlich an der Zeit, daß auch die für OO
das Empfinden der bildenden Kunst Begabten, OO
aber nicht zu schöpferischem Künstlertum Be‐ OO
rufenen, sich ihres Eigenwertes als Kunst-LieOO
bende bewußt werden, die ganz gewiß nicht mehr OO
als „Laien” zu bezeichnen sind.
104 Das Reich der Kunst
Künstler, Publikum und Jury
.Der Besucher periodischer Ausstellungen, OO
wie sie von den verschiedenen Künstlerkorpo‐ OO
rationen von Zeit zu Zeit veranstaltet werden, OO
sieht mit mehr oder weniger Freude alle die zur OO
Beschauung dargebotenen Werke, er bewundert, OO
oder äußert sein Mißvergnügen, aber er denkt OO
kaum an die vielen Enttäuschten, die ihre Werke OO
zur gleichen Schau eingesandt hatten, deren Ar‐ OO
beiten aber von der ihres undankbaren Amtes OO
waltenden Jury abgelehnt werden mußten. (Wie OO
bitter dem auswählenden Juror die Ablehnung OO
des notorisch Bedeutungslosen zuweilen werden OO
kann, da er doch die Enttäuschung voraussieht, OO
die er damit schaffen muß, weiß ich aus genü‐ OO
gender eigener Erfahrung in dieser verantwort‐ OO
lichen Tätigkeit.)
.Noch weniger kommt dem nicht mit dem OO
Werden einer Kunstausstellung Vertrauten zu OO
Bewußtsein, mit welchem Unbehagen so man‐ OO
cher der Künstler, deren Werke an den Wän‐ OO
den hängen, die von der Jury getroffene AusOO
wahl konstatiert, indem er zwar eine oder die OO
andere seiner Arbeiten ausgestellt findet, aber OO
gerade das Werk vermißt, dessen Annahme ihm OO
besonders erwünscht gewesen wäre.
107 Das Reich der Kunst
.Die Verbitterung über solche gänzliche oder OO
teilweise Ablehnung ist nur zu begreiflich.
.Die Künstler selbst hielten ja doch ihre ein‐ OO
gesandten Werke sicherlich für wertvoll genug, OO
um sie mit Ehren öffentlich zeigen zu können, OO
und mancher hatte vielleicht hohe Hoffnungen OO
gehegt, seines Erfolges in der Öffentlichkeit zum OO
voraus schon allzusicher.
.Man darf es den Zurückgewiesenen kaum ver‐ OO
argen, wenn sie sich außerstande sehen, die von OO
der Jury getroffene Auswahl auf objektiveOO
Gründe zurückzuführen, ‒ wenn sie statt dessen OO
persönliche Motive, oder Gegnerschaft ge‐ OO
genüber ihrer eigenen Kunstrichtung als wahre OO
Ursache der Ablehnung zu erkennen glauben. OO
.Begreiflicher Ärger über die vermeintliche un‐ OO
gerechtfertigte Kränkung tobt sich so gegen die OO
Jury aus und sieht in ihr nur ein böses Hemm‐ OO
nis auf dem Wege zum Erfolg.
.Nun gibt es zwar gewiß Kunstausstellungen, OO
bei denen jeweils im voraus feststeht, wessen OO
Werke ausgestellt werden sollen, so daß auch das OO
beste Bild, die beste Plastik eines nicht zum OO
Kreise der vorbestimmten Aussteller gehörigen OO
Künstlers schonungslos refüsiert wird.
.Aber von derartiger Ausstellungsmache darf OO
man wohl im allgemeinen absehen, und in dieser OO
108 Das Reich der Kunst
Abhandlung hier soll uns nur die ebenso ver‐ OO
antwortungsvolle wie undankbare Aufgabe einer OO
gewissenhaften und nicht durch kunstferne Ver‐ OO
pflichtungen gebundenen Jury beschäftigen.
.Ein solches Kollegium kunstkundiger Beur‐ OO
teiler wird nie ein anderes Ziel seiner Tätigkeit OO
kennen, als die Förderung wirklicher Kunst, OO
und bei Verfolgung dieses Zieles ergibt sich na‐ OO
türlich die Pflicht, alle Scheinkunst, alles nur OO
halbgekonnte oder sonstwie Wertlose von den OO
Ausstellungen fernzuhalten.
.Soll die Einrichtung einer Jury bei Kunst‐ OO
ausstellungen überhaupt DaseinsberechtiOO
gung haben, dann müssen die Juroren kunstOO
erzieherisch wirken wollen.
.Um so zu wirken, müssen sie alles ablehnen, OO
was sich als „Kunst aus zweiter Hand” heraus‐ OO
stellt, was die Ursprünglichkeit vermissen OO
läßt, die das Werk eines echten Künstlers unter OO
allen Umständen von der Mache unschöpferischer OO
„geschickter Maler” oder „virtuoser Modelleure” OO
unterscheidet.
.Eine solche Unterscheidung ist aber für das OO
geübte Auge so sicher zu treffen, wie Schwarz OO
von Weiß zu unterscheiden ist!
.Die Scheinkünstler werden jedoch immer OO
109 Das Reich der Kunst
die im Reiche der Kunst noch UnkundigenOO
auf ihrer Seite haben.
.Beide Kategorien glauben in ihrer Ahnungs‐ OO
losigkeit, daß eine gewisse angelernte Fertigkeit OO
im Technischen und ein leidlicher Farbenge‐ OO
schmack ausreichend seien, um ein gutes Bild zu OO
malen, oder daß ein anatomisch richtig model‐ OO
lierter Akt schon ein Kunstwerk der Plastik sein OO
müsse, ‒ von dem Heer der Reißbrett-„Archi‐ OO
tekten” nicht zu reden, die jedes originale Werk OO
wirklicher Baukünstler für vogelfrei halten, nur OO
dazu entstanden, um schwachen Nachempfindern OO
als Formenvorlage zu dienen.
.Bilder, die übermalten Photographien zum OO
Verwechseln ähnlich sehen, oder aller künstle‐ OO
rischen Formgedanken bare Plastik im Stil der OO
Zuckerbäckerfiguren werden für „Kunst” gehal‐ OO
ten, aber man steht vor Rätseln, wenn sich irgend‐ OO
wo wirkliche Ursprünglichkeit, wirkliches OO
schöpferisches Künstlertum offenbart.
.Nur diese echte Ursprünglichkeit aber, OO
nur das künstlerische Bekenntnis der Seele, OO
gehört in eine Kunstausstellung, die mehr sein OO
will als ein Verkaufsbazar.
.Erzieherisch kann eine Ausstellung von Wer‐ OO
ken der bildenden Kunst nur dann wirken, wenn OO
den im Reiche der Kunst noch Unkundigen Ge‐ OO
legenheit geboten wird, Auge und Empfindungs‐ OO
110 Das Reich der Kunst
vermögen an Schöpfungen zu schulen, die sichere OO
Beweise dafür sind, daß die Urheber keine anOO
deren Beweggründe zum Schaffen kannten, als OO
den Gehorsam gegenüber dem „Daimonion” in OO
ihrer Seele.
.Wer das nicht in sich trägt, der weiß natürlich OO
auch nicht, von was da gesprochen wird. Oder: er OO
hält gar seine Freude an seiner Geschicklichkeit OO
beim Hantieren mit Pinsel und Farbe, mit Ra‐ OO
diernadel und Ätzwasser, mit Modellierholz und OO
Tonerde, für den „Gott” in seiner Brust.
.Wer aber nur malt, zeichnet, radiert oder OO
modelliert, weil er es nun einmal leidlich zu‐ OO
stande zu bringen versteht, dessen Arbeiten ge‐ OO
hören gewiß nicht in eine ernst zu nehmende OO
Kunstausstellung.
.Derartige Leute sind zahlreich wie Butter‐ OO
blumen, aber man braucht in einer Ausstellung OO
die Wände viel zu nötig um wirkliche Kunst, OO
um das Erlesene und Seltene, oder doch das OO
zu respektierende Ringen nach höchsten Werten OO
vor Augen zu stellen, als daß man verantworten OO
könnte, bloße Geschicklichkeitsproben dort OO
zu zeigen.
.Es mag im Einzelfalle recht traurig sein, wenn OO
ein Mensch, der nicht den Beruf zum Künstler OO
empfing, sich mit dem Material und WerkzeugOO
des Künstlers sein Brot verdienen muß, und OO
111 Das Reich der Kunst
dann die herbe Enttäuschung der Ablehnung OO
seiner Arbeiten in den Kunstausstellungen er‐ OO
fährt, in denen er die Anerkennung als „Künst‐ OO
ler” zu erlangen hoffte.
.Aber es ist nicht gleichgültig, womit man OO
sein Brot verdient, und wenn man es durch OO
Täuschung seiner Mitmenschen zu erwerben OO
sucht, so ist das ethisch unbedingt verwerflich. OO
.Jeder, der ein Bild an seine Wand hängt OO
oder eine Kleinplastik in seiner Wohnung auf‐ OO
stellt, möchte in diesem Besitz ein KunstwerkOO
sein eigen nennen, auch wenn er nichts von OO
der Sache versteht, und irgend eine kunstleere OO
Fleißarbeit für „Kunst” hält.
.Dem Publikum zu zeigen, was wirklicheOO
Künstler-Tat ist, dem Unkundigen im Reiche OO
der Kunst die Augen zu öffnen, damit er OO
Kunst von Mache unterscheiden lerne, ‒ dazu OO
sind Kunstausstellungen berufen, und wenn sie OO
daneben den Verkauf der ausgestellten Werke OO
vermitteln, so schaffen sie zugleich die mateOO
rielle Basis für die Erhaltung echten künstle‐ OO
rischen Schaffens.
.Eine Jury wird ihr Amt nur dann gerecht OO
verwalten, wenn sie in unerbittlich strenger Sie‐ OO
bung von der ihrer Sorge anvertrauten Ausstel‐ OO
lung alles fernhält, was nicht die Weihe echter OO
Künstlerschaft sichtbarlich dokumentiert.
112 Das Reich der Kunst
.Es soll gewiß nicht bestritten werden, daß OO
einem Künstler auch von einer nach gerechter OO
Wägung strebenden Jury aus menschlich versteh‐ OO
baren Gründen irgendwelches Unrecht angetan OO
werden kann, aber solches Unrecht geschieht viel OO
seltener als die Halb- und Scheinkünstler meinen, OO
und ist es wirklich einmal geschehen, so läßt die OO
Korrektur des Fehlurteils gewöhnlich kaum lange OO
auf sich warten.
.Weit bedenklicher wirkt sich die allzuweitOO
herzige Liberalität einer Jury aus, was so OO
manche Kunstausstellung mit drastischer Deut‐ OO
lichkeit zeigt, ‒ besonders dort, wo die MasseOO
der Darbietungen schon den erzieherischen Wert OO
der Veranstaltung in Frage stellt.
.So unabweisbar auch die Pflicht einer verant‐ OO
wortungsbewußten Jury besteht, jede Kunst‐ OO
richtung und jede persönliche Eigenart zu för‐ OO
dern, sobald das zu beurteilende Werk schöpfeOO
rische Qualitäten aufweist, so sehr müssen die OO
für eine Kunstausstellung Verantwortlichen sich OO
davor hüten, aus Gründen, die mit der Kunst OO
nichts zu tun haben, Arbeiten mit aufzunehmen, OO
wie sie auch jede „juryfreie” Ausstellung in OO
Masse, und neben dem in ihr zu findenden OO
Echten, zeigt, weil sie da, wohl oder übel, ge‐ OO
zeigt werden müssen.
.Wie der Künstler nur im Vertrauen auf die OO
113 Das Reich der Kunst
Urteilssicherheit einer Jury ihr sein Werk OO
vorlegen kann, so muß auch das Publikum sicher OO
sein, daß Werke, die eine Künstler-Jury passierten, OO
wahrhafte Kunstwerke sind, und wert, erwor‐ OO
ben zu werden.
.Ich weiß sehr wohl, weshalb ich einer weit‐ OO
aus ernsteren Auffassung des Jurorenamtes bei OO
der Vorbereitung von Kunstausstellungen das OO
Wort rede, umsomehr, als ich ja ausschließlich OO
für Andere spreche.
.Ohne hier irgend einer Künstlerkorporation OO
oder Ausstellungsleitung zu nahe zu treten, und OO
ohne damit ein Geheimnis preiszugeben, glaube ich OO
doch an die vielen schwächlichen Ausstellungs‐ OO
stücke erinnern zu müssen, von denen jeder mit OO
den Verhältnissen Vertraute weiß, daß diese Bil‐ OO
der und Plastiken nur darum in eine jurierte OO
Kunstausstellung gelangten, weil der Verfertiger OO
ein Schützling oder Freund eines der amtierenden OO
Juroren war, der wieder seinerseits die Stimmen OO
seiner Mitjuroren nur erlangte, weil die seine OO
bei der Beurteilung eingesandter Werke der OO
Freunde und Schützlinge anderer Juroren ge‐ OO
braucht wurde.
.Mit solchen Gepflogenheiten sollte, wo im‐ OO
mer sie noch bestehen, im Reich der Kunst endOO
gültig aufgeräumt werden, wenn jurierte Aus‐ OO
stellungen noch daseinsberechtigt bleiben wollen. OO
114 Das Reich der Kunst
Das Kunstwerk und seine
„Technik”
.Unter den Besuchern einer modernen Kunst‐ OO
Ausstellung kann man jeweilen eine ganz beson‐ OO
dere Kategorie herausfinden, die meist schon zu OO
einem gewissen künstlerischen Empfinden gelangt OO
ist aber nun dunkel zu fühlen glaubt, daß ein OO
völliges Erfassen eines Kunstwerkes auch ein OO
genaues Wissen um seinen Werdeprozeß in sich OO
schließen müsse. Man fängt dann an, Belehrung OO
über das Technische zu suchen, liest Bücher OO
über die Technik der Malerei und der graphischen OO
Künste, ist schließlich beglückt, wenn man her‐ OO
ausfinden kann, ob ein Bild in Öl- oder Tempera‐ OO
farben gemalt ist, ob es sich bei einer Radierung OO
um eine Kaltnadelarbeit oder ein Aquatinta-Blatt OO
handelt, und bleibt zuletzt dennoch wieder un‐ OO
befriedigt, weil man fühlt: ‒ es fehlt da immerOO
noch etwas, das man nicht aus Büchern lernen OO
kann und das einem auch die Künstler, wenn OO
man sie fragt, niemals so richtig erklären können. OO
„Man müßte halt öfters Gelegenheit haben, dabei OO
zuzusehen, wie so ein Werk entsteht!”
.Aber auch dieses Zusehen würde den Un‐ OO
befriedigten nicht weiter bringen, denn was er OO
117 Das Reich der Kunst
eigentlich sucht, ist gar nicht das handwerklich OO
Technische an sich, sondern etwas, das hinterOO
diesem Handwerk steht, und das sich seiner nur OO
bedient, um sich Ausdruck zu verschaffen. Er OO
sucht den Geist der Technik im Werke und OO
meint ihn zu finden, wenn er über das Hand‐ OO
werkliche Bescheid wüßte.
.In der bildenden Kunst ist aber FormOO
und Inhalt völlig identisch, und jeder etwa OO
vom Beschauer festzustellende, nicht in der Form OO
beschlossene „Inhalt” eines Kunstwerkes ist nur OO
Zugabe, hat mit dem eigentlichen Kunst-InhaltOO
nichts zu tun! Die Form des Werkes bedingt OO
seine Technik, denn alles Technische an einem OO
Kunstwerk ist nichts weiter, als GestaltungOO
seiner Form, mithin: Aussprache seines Inhalts. OO
.Es kann den Beschauer auf keinen Fall zu OO
einem tieferen Erfassen führen, wenn er auch OO
noch so genau Bescheid weiß über die handwerk‐ OO
lich technischen Bedingungen, die der Künstler OO
bei Gestaltung der Form zu beachten hatte, da‐ OO
gegen wird jeder Beschauer erst dann zu einem OO
eigentlichen Kunstgenuß kommen, wenn er von OO
allem gegenständlich faßbaren „Inhalt” abOO
sieht und den Aufbau der Form, wie ihr inOO
neres Leben, zu ergründen sucht.
118 Das Reich der Kunst
.Das ist es, was jene vorhin geschilderten Aus‐ OO
stellungsbesucher dunkel fühlen, wenn sie meinen, OO
ein Verständnis der „Technik” könne ihnen das OO
Kunstwerk näher bringen! Sie können nur noch OO
von dem begrifflich faßbaren „Inhalt” der OO
Kunstwerke nicht los und wissen nicht, daß sie OO
mit ihrer Frage nach technischem Wissen ‒ eigent‐ OO
lich nur nach dem einzig wertgebenden KunstOO
Inhalt suchen. Es äußert sich in ihnen ein eleOO
mentares Kunstgefühl, das auch durch den OO
schönsten gegenständlichen Nebeninhalt eines OO
Kunstwerkes niemals befriedigt werden kann. So OO
sehr auch dieser äußerlich erfaßbare NebeninOO
halt die Seele, ‒ wie etwa bei den großen Mei‐ OO
sterwerken der Alten, ‒ zu ergreifen, zu OO
erheben vermag, so wird doch der Beschauer, OO
solange er noch nicht bis zum Geheimnis derOO
Form vorgedrungen ist, das Gefühl nicht los OO
werden, daß ihm zur völligen Ergründung des OO
Werkes doch noch etwas fehle, und dieses Ge‐ OO
fühl täuscht ihn nicht, nur täuscht er sich selbst, OO
wenn er glaubt, das, was ihm fehlt, sei das Ver‐ OO
ständnis für die „Technik”.
.Ihm fehlt nichts weiter, als die Übung: ForOO
men „lesen” zu können, und das will genau so OO
gelernt werden, wie man als Musiker Noten lesen OO
lernen muß, wenn es auch nicht ganz so schwer OO
119 Das Reich der Kunst
ist, denn Noten sind willkürliche Zeichen, deren OO
klangliche Erfassung vieles voraussetzt, wäh‐ OO
rend die Formen eines Kunstwerkes durch dasOO
menschliche Selbstempfinden bedingt sind OO
und durch bloße Einfühlung schon erfaßbar OO
werden.
.Sehr klar wird das, was Formen zu sagen OO
haben, wenn man nur an lineare Formen denkt. OO
.Aufrecht emporstrebende Linien lösen in uns OO
ohne weiteres die Empfindung stolzen Aufrecht‐ OO
stehens aus, horizontale Linien geben uns das OO
Gefühl des Hingelagertseins, und so löst jedesOO
Lineament Bewegungsimpulse in unserem Kör‐ OO
per aus, die eine offene Seele in ihre Empfindungs‐ OO
Sprache überträgt.
.Aber auch Hell und Dunkel sprechen in dieser OO
Sprache, und wenn hier von dem Geheimnis der OO
Form die Rede ist, so darf man nicht etwa glau‐ OO
ben, daß die Farben eines Bildes in diesem Sinne OO
nicht zur Form gehören würden!
.Wir reden hier nicht von gegenständlichenOO
Formen, sondern von der Kunstform, in der OO
allein die Intuition des Künstlers ihren Ausdruck OO
findet.
.Da steht bei einem Gemälde die Farbe in OO
allererster Linie, und jede Farbe, ganz gleich OO
auf welchen Gegenstand der Darstellung sie sich OO
120 Das Reich der Kunst
beziehen mag, ist in einem guten Kunstwerk OO
gleichsam eine gespielte „Note” der ganzen Sym‐ OO
phonie und kann nur verstanden: also richtigOO
empfunden werden, wenn man imstande ist, ihre OO
Beziehungen zu sämtlichen anderen Farben des OO
Bildes zu entdecken und, losgelöst vom GeOO
genstande, in sich nachzuerleben.
.Welches Bindemittel der Künstler für seine OO
Farben wählt, ob er sie dick oder dünn aufstreicht, OO
welche handwerklichen Bedingungen er beherr‐ OO
schen muß, um dieses ganze Gebilde hervor‐ OO
bringen zu können: das sind alles Dinge, die OO
sozusagen „hinter den Kulissen” vorgehen, wäh‐ OO
rend es für den Beschauer einzig darauf ankommt, OO
‒ wenn wir hier den Vergleich beibehalten wollen, OO
‒ das eigentliche „Bühnenbild”, so wie es der OO
Künstler vor uns hinstellte, einfühlend zu erOO
leben, wobei ich allerdings gewiß nicht nur an OO
eine, dem Bühnenbild des Theaters ähnliche, oder OO
vergleichbare Bildgestaltung denke.
.Wer sich einmal klar darüber wird, daß es OO
beim „Kunstgenuß”, oder sagen wir doch lieber: OO
bei dem Erleben dessen, was Kunst ist, lediglich OO
auf das Erleben der Form des Kunstwerkes, OO
auf das Erfassen des inneren Lebens der Form‐ OO
teile untereinander und in ihrer Beziehung zum OO
Ganzen ankommt, und daß hier allein aller OO
121 Das Reich der Kunst
eigentliche Kunstinhalt zu finden ist, ob es sich OO
nun um die Sixtinische Madonna, oder um die OO
Hille Bobbe von Frans Hals, um den Parthenon‐ OO
fries, oder die Bürger von Calais von Rodin han‐ OO
delt, der wird auch bald den richtigen Weg OO
finden, der ihn zum Erfassen neuerer Kunst‐ OO
werke, zum Verstehen der noch fremdartigOO
wirkenden Bestrebungen in der bildenden Kunst OO
führt. Wenn er ein Mensch ist, der sich selbst OO
seine Irrtümer einzugestehen pflegt, dann wird OO
er vielleicht mit einer gewissen BeschämungOO
im Herzen nun wieder vor Werken stehen, die OO
er noch vor kurzem ahnungslos zu verlachen OO
wagte, und wird kaum begreifen können, daß OO
hier, wo ihn jetzt tiefstes Miterleben erfaßt, für OO
ihn früher nichts anderes zu sehen war, als ein OO
„unverständliches” Chaos, das ihm „wie das Werk OO
eines Irrsinnigen” erschien, nur weil er selbstOO
mit seinen Sinnen in der Irre war und die OO
Formsprache der Kunst auch dort noch kei‐ OO
neswegs zu lesen verstand, wo er bedingungslos OO
Beifall spendete und die Kunstwerke längst zu OO
verstehen glaubte.
122 Das Reich der Kunst
Das Kunstwerk und sein Stil
.In den Auslagefenstern der Buchhändler fin‐ OO
det der Vorübergehende neben all den Romanen OO
des Tages, neben aktuellen und klassischen Bü‐ OO
chern, eine neuartige Literatur, die sich immer OO
mehr einzubürgern scheint. Sie handelt in man‐ OO
cherlei Abwandlungen: von marktschreierischer OO
Geschäftigkeit bis zu stillem, ernsten Ethos, OO
von der weltbewegenden Kraft des Willens.
.Vielleicht ist es gut, daß solche Bücher ge‐ OO
lesen werden, denn von tausend Menschen wissen OO
neunhundertneunundneunzig ihren Willen noch OO
nicht zu gebrauchen und halten sich für „wil‐ OO
lensstark”, weil sie hypnotisierte Sklaven ihrer OO
Affekte sind.
.Wer möchte bezweifeln, daß ein geschulterOO
Wille das Leben besser zu leben lehrt, als OO
willenlose Schwäche, die weder befehlen noch OO
gehorchen kann?
.Und dennoch gibt es einen Bezirk des Le‐ OO
bens, in dem der Wille die edelsten Blüten ver‐ OO
nichtet, in dem er als Zerstörer auftritt, sobald OO
er gerufen wird.
125 Das Reich der Kunst
.Ich weiß, daß ich mich mit vielen in Wider‐ OO
spruch setzen werde, aber jeder wahre Künstler OO
wird mich ohne weiteres verstehen, wenn ich OO
sage, daß das Reich des künstlerischen Schaf‐ OO
fens dem Willen entrückt bleiben muß, soll OO
seelisch Tiefstes in der Sprache der Kunst zu‐ OO
tage treten.
.Man spricht zwar vom „Kunstwillen” eines OO
Zeitalters, von dem, was einzelne Künstler „wol‐ OO
len”, aber man sollte hier richtiger vom Kunst‐ OO
Trieb sprechen, vom inneren Zwang des MüsOO
sens, unter dem ein jeder wahrhafte Künstler OO
steht, denn alles „Gewollte” bedeutet in der OO
Kunst Verfälschung, läßt bloßes Handwerk OO
übrig, wo das Werk mit heiliger Glut erfülltes OO
Priestertum fordert.
.Gewiß muß der Künstler das Handwerkliche, OO
das ihn erst zur Darstellung befähigt, von Grund OO
auf verstehen, allein, das ist allererste VorbeOO
dingung und würde ihn, für sich allein be‐ OO
trachtet, niemals zum Künstler machen.
.Als Künstler muß er seiner tiefsten seeOO
lischen Erregung folgen und nicht den Im‐ OO
pulsen seines Willens, wo immer sie ihre Aus‐ OO
lösung gefunden haben mögen.
.Je rücksichtsloser er sich seinem inneren, OO
kunstgemäße Formgestaltung heischenden „Müs‐ OO
sen” ohne Widerstand ergibt, desto reiner wird OO
das Werk der Kunst sein, das er schafft.
126 Das Reich der Kunst
.Deshalb kann auch ein wahrer Künstler nie‐ OO
mals ein „Programm” aufstellen, nach dem er OO
zu schaffen gedenkt, ohne dadurch sein Werk OO
auf das Empfindlichste zu schädigen, ohne es in OO
seinem Besten zu verfälschen.
.Der Wille des Schaffenden muß stets be‐ OO
schränkt bleiben auf das Gebiet des rein HandOO
werklichen, in dem sein künstlerisches Müssen OO
Ausdruck finden soll. Er kann nur die MittelOO
wählen, die seinem seelischen Gestaltungstrieb OO
am besten dienen werden.
.Sobald er das Mittel zum Zweck werden OO
läßt, sobald ihm Technisches mehr gilt als OO
Seelisches oder von ihm auch nur auf gleiche OO
Stufe erhoben wird, bringt er Attrappen statt OO
wahren Lebens, gibt er Steine statt Brot.
.Ich sehe die Kunst unserer Tage mehr denn OO
je in dieser Gefahr...
.Man spricht mehr denn je vom „Geiste” und OO
von „geistigem Ausdruck” in der Kunst, aber OO
man meint diesen Geist zu besitzen im AffektOO
und seinem Ausdruck: der Geste. Man weiß OO
nichts mehr vom Geiste, der lebensschwangerOO
über dem Chaos schwebt und der allein in OO
der zum Leben drängenden Form das Leben insOO
Dasein rufen kann.
.Der Wille der Künstler hat die Grenze über‐ OO
127 Das Reich der Kunst
schritten, die ihm gezogen ist, und drängt sich OO
überlaut in das geheimnisvolle Flüstern der gött‐ OO
lichen Stimme, die allein den Schaffenden leiten OO
kann, soll eine Schöpfung und nicht eine OO
Mache entstehen.
.Die Künstler selbst sehen ihren Irrtum nicht. OO
.Befangen im Affekt, nennen sie den Über‐ OO
griff des Willens in ein Gebiet, das ihm ewig OO
verschlossen bleiben sollte, ihren Willen zuOO
einem neuen Stil.
.Ja, ihre Wortführer gehen so weit, diesen Stil OO
bereits zu definieren, und erklären aller Kunst den OO
Krieg, die nicht „die Zerrissenheit unserer Zeit OO
zum Ausdruck bringt”. (Das ist wörtliches Zitat!) OO
.Weiter läßt sich die Verwirrung kaum mehr OO
treiben, und so sehen wir denn Tag für Tag mehr OO
Hände und Gehirne am Werk, ein künstlerisches OO
Chaos zu gestalten, Hände und Gehirne, die, OO
zum Teil, vielleicht die Weihe in sich tragen, um OO
aus Chaotischem einen Kosmos schaffen zu kön‐ OO
nen, vorausgesetzt, daß sie sich selbst ihrer der‐ OO
zeitigen Versklavung an das Chaos bewußt wür‐ OO
den und ihr zu entfliehen trachteten.
.All dies Unheil aber entsteht aus einem fol‐ OO
genschweren Mißverständnis des Stil-Begriffes. OO
.Stil, als ein Lebendiges, entsteht ungewollt, OO
sobald die Triebkräfte eines Lebens in Harmonie OO
zusammenwirken. OO
128 Das Reich der Kunst
.Was man aber in unseren Tagen als „Stil” OO
bezeichnet, ist nur versteinerte Geste, ist uni‐ OO
forme Konvention und nichts mehr.
.Gewollter Stil” ist ein Widerspruch in OO
sich selbst.
.Entweder, ein Mensch hat Stil infolge der OO
Harmonie seiner lebendigen Kräfte, und dann OO
wird sich dieser Stil auch seinen Werken mit‐ OO
teilen, falls er ein Künstler ist, oder er hat ihn OO
nicht, er ist selbst „stillos”, dann wird all sein OO
„Wille zum Stil” auch seinem Werke nicht zum OO
Stil verhelfen, sondern bestenfalls eine leere OO
Form zu Tage fördern, eine Attrappe, die un‐ OO
mündige Seelen täuscht durch ihre große Geste, OO
der das Leben fehlt.
.Sein Werk gleicht dann der Vogelscheuche, OO
die erst den Spatzen imponiert, bis sie schließ‐ OO
lich doch merken, daß ‒ „nichts dahinter ist”. OO
.So ist denn auch alles große Getue, das OO
sich als Fundamentlegung zu einem neuen Zeit‐ OO
stil gebärdet, eitel Torheit und aufgeblasenes OO
Gernegroßtum, denn was vom Einzelnen gilt, das OO
gilt hier auch von den vielen Einzelnen, die OO
eine Zeitgemeinschaft bilden.
.Wollen wir die Sehnsucht nach einem „Stil OO
unserer Zeit” befriedigt sehen, dann muß der OO
Wille zum Stil” verschwinden.
129 Das Reich der Kunst
.Dann muß der Wille zurückverwiesen wer‐ OO
den in seine ihm zukommenden Grenzen, muß OO
dienen lernen, dienen wollen, wo er jetzt den OO
Herrn spielen möchte. Und wäre es nur immer OO
noch wirklicherWille”, der sich so gebärdet! OO
Es ist ja doch allermeistens nichts anderes als OO
ungezügelter Affekt, der seine Zeit gekommen OO
wähnt, sich auszutoben.
.Zu wahrhaftem Stil in der Kunst gelangen OO
wir nur, wenn jeder Künstler wieder in EhrOO
furcht vor dem Gott in seiner Brust zu seinem OO
Handwerkszeug greift; auf nichts bedacht, als OO
seiner Seele Schöpfungsdrang zu folgen, und OO
seine Mittel zu treuem Dienste am Werk der OO
lebendigen Gestaltung zu erziehen.
.Mag dieser Stil dann „groß” genannt werden OO
oder nicht, er wird unser Stil sein, er wird der OO
Nachwelt zeigen, daß auch in uns etwas wirklich OO
Echtes lebte, nicht nur der Talmi-Firlefanz, auf OO
den allein sie schließen müßte, blieben aus un‐ OO
serer Zeit keine anderen Werke der Kunst er‐ OO
halten, als die verkrampften hohlen Ausdrucks‐ OO
gesten und Kunst-Grimassen derer, die sich als OO
Pioniere einer neuen „stilvollen Kultur” gebär‐ OO
den und selbst nicht fühlen, daß ihre ganze OO
Mache den Kapriolen der Clowns im Zirkus OO
zum Verwechseln ähnlich ist, ‒ nur leider nichtOO
so ernst zu nehmen bleibt, wie diese Arbeit OO
ehrlicher Artisten.
130 Das Reich der Kunst
Das Übersinnliche im
Kunstwerk
.Ich will hier nicht von Werken sprechen, zu OO
denen der Maler, wie etwa ehedem Gabriel von OO
Max, durch spiritistische Séancen angeregt OO
wurde, oder gar von den fragwürdigen Erzeugnis‐ OO
sen „begnadeter” Mal-Medien und solcher Maler, OO
die sich gerne dafür halten lassen. Es wird viel‐ OO
mehr die Rede sein vom Übersinnlichen imOO
Schaffensvorgang bei einem jeden wahrhaf‐ OO
tigen Künstler, ‒ von dem geheimnisvollen OO
Etwas, das die treibende Ursache des Schaffens OO
bildet: von den in sinnlichen Formen Darstellung OO
suchenden Seelenkräften, die in manchen Men‐ OO
schen, ‒ den echten „Künstlern”, ‒ in einer OO
nach Ausdruck drängenden Tendenz gegeben sind, OO
um dann durch die künstlerische Tat zu Tage zu OO
treten.
.Der Laie macht sich im großen und ganzen OO
meistens eine sehr irrige Vorstellung zurecht, wenn OO
er sich das Schaffen, das Schaffen-müssen eines OO
wirklichen Künstlers erklären will.
.Die fast allgemeine Annahme ist, daß ein sol‐ OO
cher Mensch eben sein Métier „gelernt” hat und OO
nun bestrebt ist, es anzuwenden. Man verwechselt OO
das Künstlertum mit dem erlernbaren Beruf, OO
der ihm zur Schaffens-Äußerung verhilft, wäh‐ OO
133 Das Reich der Kunst
rend es eine psycho-physisch begründete, ange‐ OO
borene Eignung eines Menschen ausmacht, der OO
Vermittler sinnlich faßbaren Ausdrucks für sonst OO
unfaßbare Seelenregungen zu sein.
.Was sich für einen geborenen Künstler erOO
lernen läßt, ist nur die technische HandhaOO
bung der Ausdrucksmittel seiner Kunst, was OO
sich üben läßt, ist die Beobachtung der inOO
seiner Kunst zu brauchenden WirkungsOO
mittel im Schaffen der Natur.
.Hier, im Schaffen der Natur, findet der Künst‐ OO
ler auch die ewigen kosmischen Gesetze ausge‐ OO
sprochen, denen er selbst in seinem Schaffen sich OO
unterordnen muß, will er nicht seine Ausdrucks‐ OO
kraft ins Chaotische strömen lassen und will er OO
wirklich den „tanzenden Stern” aus dem Chaos OO
gebären, von dem die Macht ausgeht, seine eigenen OO
Welten in ihren geordneten Bahnen zu erhalten. OO
.„Schaffen” im künstlerischen Sinne ist nicht OO
das Erscheinenlassen einer Form aus dem Nichts. OO
Künstlerisches Schaffen ist: Organisieren. OO
.„Formlose Kunst” ist ein Unding. Etwas, wie OO
das Lichtenbergsche „Messer ohne Heft und OO
Klinge”.
.Alle Kunst ist seelische Bewegung, dieOO
zur Form gestaltet wurde.
.Wo also der durchgereifte KristallisaOO
134 Das Reich der Kunst
tionsprozeß fehlt, wo seelische Bewegung nicht OO
zur Gestaltung, zur Form geworden ist, dort OO
darf man füglich nicht von „Kunst” reden, dort OO
handelt es sich lediglich um unvermögende Ver‐ OO
suche, seelische Bewegung zu gestalten, oder um OO
die Bemäntelung dieses Unvermögens durch ein OO
neues oder altes Schlagwort.
.Unsere Zeit ist reich an solchen Erscheinungen, OO
und es fehlt ihnen allen nicht an begeisterten OO
Harfnern, die ihren fragwürdigen Göttern in allen OO
Tonarten, aus der eigenen Ekstase heraus, Lobes‐ OO
hymnen zu singen wissen.
.Um Schlagworte ist man niemals verlegen. OO
Auch das berühmte: „Sprengen der Form”, durch OO
das man hilfloses Unvermögen als eine Überfülle OO
der Kraft zu deuten beliebt, ist ein schönes Schlag‐ OO
wort.
.Wo ein wirklicher „Künstler von Gottes Gna‐ OO
den” eine hergebrachte Form zu „sprengen” unter‐ OO
nimmt, da ist längst seine eigenschöpferische OO
Form vorhanden, und der Edelguß seelischer, OO
klingender Glockenmetalle strömt nicht formlos OO
dahin, sondern wird umgegossen in eine erweiterte, OO
längst die alte umfassende neue Form.
.In der Kunst ist das „Gottesgnadentum” auch OO
heute noch nicht abgeschafft und wird auch OO
trotz aller bolschewistischen Agitationskunst sich OO
135 Das Reich der Kunst
nicht abschaffen lassen. „Ersatz” dafür ist zwar OO
reichlich vorhanden, aber das Hochland der Kunst OO
liegt unerreichbar für seine Usurpatorengelüste. OO
.Wer nicht von der Urnatur zum Künstler OO
gebildet, zum Schaffen gezwungen wurde, der OO
bleibe fern von ihrem Allerheiligsten!
.„Nimm deine Schuhe von den Füßen, denn OO
der Ort, da du stehst, ist heiliges Land” ‒ so OO
spricht Natur zu jedem, den sie zum Künstler OO
schuf, und wehe ihm, wenn er die Göttergabe OO
die ihm wurde, jemals profaniert. Er wird niemals OO
zurückfinden in das Reich des ursprünglichen OO
Schaffens, das ihm vorbehalten war.
.Die aber nicht berufen sind und dennochOO
die Toga des Künstlers um ihre Schultern dra‐ OO
pieren, betrügen nur sich selbst, indem sie anOO
dere betrügen.
.Gras bleibt Gras, so sehr es sich auch recken OO
mag, um zum Baume zu werden!
.Eine kleine Zeit hin mag es wohl gelingen, OO
alle Geister vor den Siegeswagen eines überschätz‐ OO
ten Epigonen zu spannen, aber die ihn heute zieOO
hen, werden selbst ihn schon morgen stürzen. OO
.Die seelischen Kräfte, die im wahrhaften OO
„Künstler” sich offenbaren wollen, sind ‒ latent OO
und ohne Äußerungsdrang ‒ in jedem Menschen. OO
136 Das Reich der Kunst
.Würde sie jeder in sich erkennen, dann würde OO
die Menschheit im Künstler ihren berufenen Zei‐ OO
chendeuter: den Seher ihrer geheimsten Regungen OO
verehren, und es wäre nicht möglich, daß sich OO
Abertausende durch allerlei Scheinwerk täuschen OO
ließen, das von wahrhafter „Kunst”: vom Werke OO
der geborenen „Künstler”, nur den NamenOO
stiehlt.
.Das Werk des Künstlers entsteht nicht durch OO
den Nachahmungstrieb der Natur gegenüber. OO
Der Künstler, auch wenn er sich selbst so wenig OO
kennt, daß er es etwa meint, will niemals die OO
Natur „wiedergeben”.
.Die Natur bringt ihm nur die AuslösungOO
einer seelischen Bewegung, und um dieser seeli‐ OO
schen Bewegung nun Ausdruck in sinnenfälliger OO
Weise zu schaffen, kann er mehr oder weniger, OO
je nach der Sonderart seiner Begabung, die For‐ OO
men oder Farben der Natur, ihre Erscheinung im OO
allgemeinen oder im einzelnen benutzen, er OO
kann in hohem Grade von dieser äußeren ErOO
scheinung der Natur abhängig bleiben, kannOO
aber, wenn er dazu fähig ist, auch in ihr InneresOO
dringen und das Wirken ihrer Kräfte inOO
seinem Werke entschleiern.
.Der wahrhafte Künstler schafft immer eine OO
neue Welt aus seinem Innern, indem er die Be‐ OO
137 Das Reich der Kunst
wegungen seiner Seelenkräfte zu Formen sinnen‐ OO
fälligen Ausdrucks gestaltet, auch wenn diese neue OO
Welt der äußeren Erscheinungswelt auf das Ge‐ OO
naueste zu gleichen scheint.
.Inwieweit sich diese neue, durch Eigenschöp‐ OO
fung entstandene Welt mit den Formen der äuße‐ OO
ren Natur deckt, das ist Sache der Begabungsart, OO
und keineswegs ist, wie ich schon sagte, „Natur‐ OO
treue”, in diesem äußeren Sinn, ein Gradmesser OO
für die Höhe oder den Umfang einer Begabung. OO
.Diesen Gradmesser finden wir nur, wenn wir OO
in jedem Kunstwerk, das diesen hohen Namen OO
verdient, nach der Intensität des ErlebensOO
einer seelischen Bewegung forschen, und diese OO
gibt sich zu erkennen in der Intensität der daraus OO
entstandenen sinnenfälligen Ausdrucksform.
.Ich glaube klar genug gesagt zu haben, daß OO
diese Ausdrucksform wohl den äußeren Formen OO
und Farben der Natur entsprechen kann, aber OO
keineswegs ihnen etwa in jedem Falle entsprechen OO
muß.
.Ein Werk der Malerei oder Plastik kann ein OO
Kunstwerk höchsten Ranges sein, auch wenn seine OO
Formen und Farben nirgendwo in der Natur ihre OO
Entsprechungen haben, aber was immer es an OO
Formen zeigt, muß gestaltet, und innerhalb die‐ OO
ser Formenwelt rhythmisch geordnet erschei‐ OO
nen, oder es hört auf, ein „Kunstwerk” zu sein. OO
138 Das Reich der Kunst
.Welcher „Richtung” man einen „Künstler” OO
zuzählen will oder welcher er sich selber zuzählt, OO
ist für seine Wertung völlig gleichgültig. Die Frage OO
muß immer lauten: „ist seine 'Richtung' echt, OO
ist es wirklich seine 'Richtung' oder 'richtet' OO
er sich selbst”, ‒ das Wort hier im andern Sinne OO
verstanden, ‒ indem er zeigt, daß er selbst kein OO
eigenes „Müssen” in sich trägt, sondern sich OO
nach einem Anderen richtet?
.All diese „Richtungen” in der Kunstbeflissen‐ OO
heit unseres an wirklicher „Kunst” so armen Zeit‐ OO
alters sind ja nur möglich dadurch, daß stets ein OO
ganzer Klüngel solcher, die keine eigene Rich‐ OO
tung haben, im Hinterhalt liegt und sich, sobald OO
einer kommt, der mit seiner eigenen Richtung OO
erfolgreiche Bahnen zieht, an sein Schlepptau OO
hängt.
.Und wer von denen, die heute über Kunst OO
zu schreiben wagen, fühlt denn die großen Zu‐ OO
sammenhänge mit dem Ursprung aller Kunst aller OO
Zeiten und Völker so tief im Blute strömen, daß OO
ihm ein Recht daraus würde, über dieses Myste‐ OO
rium schreiben zu dürfen??!
.An den Fingern einer Hand sind sie aufzu‐ OO
zählen, die heute „berufen” wurden, das hohe OO
Amt des Sprechers für die Kunst zu verwalten. OO
.So kommt es denn, daß diese Hinterhältler, OO
139 Das Reich der Kunst
die sich ans Schlepptau eines „Echten” hängen, OO
massenweise beflissene und für alles mit Worten OO
gewappnete Anreißer auffischen, die dann dem OO
staunenden Publikum mit überlegener Geste den OO
endlichen Triumph der „Kunst” in der „neuen OO
Richtung” verkünden.
.Wäre Kunst, wie es heiß zu wünschen ist, OO
eine Angelegenheit der allgemeinen Bildung, dann OO
wüßte auch der gebildete Laie, daß jede große OO
Kunsterneuerung nur von Einzelnen ausging OO
und daß deren Mitläufer bald in wohlverdiente OO
Vergessenheit gerieten. Würde Kunst als LebensOO
äußerung verstehen gelehrt, dann wüßte jeder, OO
daß echte Künstlerschaft stets und zu allenOO
Zeiten nur auf den Schultern Einzelner ruhen OO
kann und daß jedes „Programm” in der Kunst OO
den Tod alles ehrlich-wahren Schaffens bedeutet. OO
.Der wirkliche „Künstler” muß malen, muß OO
meißeln, wie es ihm der Gott in seinem InOO
nern befiehlt, einerlei welchen Namen man OO
seiner Ausdrucksart geben mag.
.„Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Amen!” OO
.Die aber sich zu „Richtungen” zusammentun, OO
zeichnen sich zumeist dadurch aus, daß sie auch OO
einmal anders konnten, bis sie aus suggestib‐ OO
ler Schwäche sich umnebeln ließen von dem OO
Weihrauch, den man einem oder dem andern OO
144 Das Reich der Kunst
sonderlinghaften, aber echten Künstler, nichtOO
wegen seines Künstlertums, sondern wegenOO
seiner bizarren Darstellungsallüren dar‐ OO
brachte, wenn sie nicht gar zu denen gehören, OO
die allerdings nicht „anders können”, weil OO
ihnen alles tatsächlicheKönnenfehlt. OO
.Wer den ganzen Kunstbetrieb ‒ Verzeihung, OO
aber man kann es nicht anders nennen, ‒ an OO
den heutigen Kunststätten auch nur einigermaßen OO
kennt, der weiß auch, daß noch ganz andere, OO
wenig erfreuliche Motive viele dazu bringen, ihre OO
eigene Richtung aufzugeben und sich einer „neuen OO
Richtung” zu verkaufen, die Erfolg verspricht.
.Es sind durchaus nicht immer unlautere Ele‐ OO
mente, die so handeln. Aber wenn ein Maler OO
jahrelang sein Bestes zu geben sucht, und er muß OO
die Erfahrung machen, daß ihm die geschäftlich OO
erfolgreichsten Kunsthändler die Türen verschlie‐ OO
ßen, während die „neue Richtung” mit ihrem OO
durchsichtig oberflächlichen Rezept auf allen OO
Wänden prangt, dann gehört schon eine seltene OO
Festigkeit und Charakterstärke dazu, weiter zu OO
darben, während sich die Herren der „neuen Rich‐ OO
tung” mit dem leichtverdienten Gelde reicher OO
Kunst-Snobs gute Tage bereiten.
.Man sagt, daß Wohlleben das Schaffen so OO
manchen Künstlers untergraben habe. Es mag OO
141 Das Reich der Kunst
das in vereinzelten Fällen wahr sein, aber ich OO
glaube behaupten zu dürfen, daß die gemeine OO
materielle Not viel mehr Unheil im Bereiche OO
der Künstlerschaft angerichtet hat!
.Nicht alle von der Natur zur Künstlerschaft OO
Berufenen haben die nötige Ehrfurcht vor ihrem OO
eigenen Priestertum, die sie befähigen könnte, OO
jeder Not die Stirne zu bieten.
.Soll der wüste Indianertanz, der als modernes OO
„Kunstleben” auch vielversprechende junge Kräfte OO
in Massen für alles wahrhafte Künstlertum ver‐ OO
dirbt und zu Grunde richtet, nicht noch weiter OO
ansteckend stets neue Reihen in seine Delirien OO
ziehen, soll nicht weiterhin eine Wertvernichtung OO
großen Stils am Nationalvermögen aller Länder OO
zehren, dann muß sich das kaufende Publikum OO
endlich einmal daran erinnern, daß wahrhafte OO
„Kunst” nur gedeihen kann, wenn das VolksOO
empfinden hinter ihr steht.
.Erst aber, wenn man sich erinnert, daß der OO
„Künstler” kein Dekorateur der leeren Wand‐ OO
flächen unsrer Wohnräume, sondern ein Künder OO
und Deuter der Seele ist, wird auch das Volks‐ OO
empfinden dem Schaffen seiner Künstler den er‐ OO
forderlichen Rückhalt geben können.
.Ein jeder berufene echte Künstler ist ein OO
Brückenbauer, der das Reich der äußeren Sinnen‐ OO
142 Das Reich der Kunst
welt mit den Gestaden des Übersinnlichen ver‐ OO
bindet.
.Man muß nur über diese Brücke zu gehen OO
wissen, das heißt: man muß das stete Bewußtsein OO
in sich wach erhalten, daß in jedem Werke echter OO
Kunst eine seelische Bewegung, ein seeliOO
sches Erlebnis nach Ausdruck ringt, und muß OO
eben dieses „Erlebnis” in sich nachzuerlebenOO
suchen.
.Eine solche Stellungnahme des Publikums OO
würde auch gar bald der leidigen Großmannssucht OO
der Mäßigbegabten, die sich so gerne „Künstler” OO
nennen hören, ein Ende bereiten.
.Es gibt ja so viele Gebiete, auf denen eine OO
erträgliche Begabung Ersprießliches leisten kann. OO
Nicht jede gute Veranlagung zum Malen oder OO
Modellieren, selbst nicht ein hervorragender Ge‐ OO
schmack in den Bereichen der Farbe und Form, OO
ja nicht einmal die beste Beobachtungsgabe und OO
Treffsicherheit in der Darstellung, berechtigen OO
ohne weiteres einen solchen Könner, sich unter OO
die „Künstler” zu zählen.
.Hier tut eine Entwirrung der Begriffe bitter OO
not, wenn sich etwas zum Guten ändern soll.
.Es hat Künstler gegeben, Künstler allerOO
ersten Ranges, die bei jedem Werke mühevoll OO
mit den einfachsten Problemen der Darstellung OO
ringen mußten.
143 Das Reich der Kunst
.Von einem überaus feinkultivierten hollän‐ OO
dischen Maler erzählt man, daß er oft lieber OO
eine Situation, die ihn künstlerisch anregte, in OO
Worten in sein Notizbuch schrieb, da ihm OO
das Zeichnen eine Qual war, das Zeichnenkönnen OO
nicht immer hinreichend zu Gebote stand. Seine OO
Werke aber sind echteste und tiefste „Kunst”. OO
Aus jedem seiner Bilder spricht eine im Inner‐ OO
sten bewegte Seele.
.Man behauptet: „Das Publikum in seiner All‐ OO
gemeinheit wird niemals fähig sein, große Kunst OO
aus sich heraus zu würdigen. Es sucht die AnekOO
dote, klebt nur am Gegenstand und ahntOO
nichts von wirklichen künstlerischen Werten.”
.Wenn man damit das Publikum treffen will, OO
so wie es jetzt ist, irregeleitet durch das alle paar OO
Jahre in anderen Dissonanzen ertönende Feldge‐ OO
schrei der „Richtungen”, irregeleitet durch eine OO
von mehr oder weniger Unberufenen geschriebene OO
oberflächliche Kunstliteratur, dann mag man Recht OO
haben.
.Aber die Kräfte der Seele, in denen alle Kunst‐ OO
schöpfung ihre letzte Ursache hat, lassen sich OO
nicht auf die Dauer verschütten. Man muß nur OO
den Unrat lockern, der sich seit Generationen OO
angesammelt hat, und die Kräfte der Seele wer‐ OO
den zeigen, daß sie noch am Leben sind. OO
144 Das Reich der Kunst
Kunst und Weltanschauung
.Den weitaus meisten Menschen sind die Werke OO
der bildenden Kunst, wenn nicht reine SchmuckOO
Objekte, so doch nur Abbildungen, Schilde‐ OO
rungen, Darstellungen irgendeines Geschehnisses, OO
einer landschaftlichen Szenerie, einer Gestalt, OO
eines Menschen oder auch anderer Lebewesen, OO
‒ mitunter, wie bei Stilleben, auch der „leb‐ OO
losen Dinge”.
.Spricht man daher von Kunst und Weltan‐ OO
schauung, so setzt man sich leicht dem Mißver‐ OO
ständnis aus, als rede man von dem möglichen OO
Darstellungs-Inhalt eines Kunstwerkes.
.Nun kann gewiß auch der dargestellte GegenOO
stand, im weitesten Sinne, einer Weltanschauung OO
Ausdruck geben, wobei man nur an die religiöse OO
Kunst aller Zeiten zu erinnern braucht, ‒ allein, OO
nicht dieser, durch den DarstellungsgegenOO
stand erkennbare Ausdruck einer Weltanschau‐ OO
ung ist hier gemeint, sondern die Weltanschau‐ OO
ung, die sich in der Auffassungs- und Darstel‐ OO
lungs-Art eines jeden Künstlers verrät, ganz OO
gleich, welchen Gegenstand der Außenwelt oder OO
147 Das Reich der Kunst
seiner Phantasie er durch sein Bildwerk vor OO
Augen stellt.
.Ich gehe sogar noch weiter, indem ich aus‐ OO
drücklich betone, daß ein Bildwerk selbst auf OO
jede, noch so vage Anlehnung an Gegenständ‐ OO
liches verzichten, daß es eine reine Symphonie OO
der Farben oder der Formen sein kann, und OO
dennoch ‒ dann erst recht, ‒ eine ausge‐ OO
prägte Weltanschauung zum Ausdruck bringt. OO
.Wer die majestätisch feierlichen Grabmale OO
und die wie aus Schöpfungskräften kristallisierten OO
Brunnen des viel zu früh verstorbenen Schweizer OO
Bildhauers Hermann Obrist kennt, wird mich OO
ohne weiteres verstehen.
.Aber auch wenn ein Künstler in der Wahl OO
seiner Motive sich als Diener einer bestimmten OO
Weltanschauung zeigt, ist es noch lange nicht OO
ausgemacht, daß diese Weltanschauung auch wirk‐ OO
lich die seine ist, und über alles Gegenständ‐ OO
liche hinaus verrät er sich dem Kundigen durchOO
sein Werk als solches!
.Gar viele Maler haben, seit Giotto seine OO
Fresken in der Arena zu Padua schuf, die Mo‐ OO
tive der christlichen Heilsgeschichte und mancher OO
Heiligenlegende behandelt, obwohl ihre wahreOO
Weltanschauung recht wenig mit dem Darge‐ OO
148 Das Reich der Kunst
stellten harmonierte. Ihre Darstellungs-ObOO
jekte sind „christlich”, ihre Linie und Farbe OO
ist Heidentum und Freigeisterei. Bei Giotto OO
aber ist jede Linie Ausdruck reinster Religiosi‐ OO
tät, jeder Pinselstrich ein Gebet eines gläu‐ OO
bigen Herzens.
.Es sind Imponderabilien, die so zu Ver‐ OO
rätern der wahren Geistesart eines Künstlers OO
werden, die uns sagen, ob er ein seichter, hohler, OO
äußerlicher Könner, oder ein wirklicher BeOO
gabter des Herzens ist, ob er nur darstellt, was OO
seine Zeit ihm als Motiv übergibt, oder ob er OO
wahrhaft innerlich Erfühltes aus den Tiefen OO
seiner Seele holt und sichtbar macht.
.In heutiger Zeit ist es sehr beliebt geworden, OO
wieder die Episoden des Alten und Neuen Testa‐ OO
mentes als Vorwurf zu künstlerischen Werken OO
zu wählen, aber die Künstler, die hier nun bald OO
eine „Verkündigung”, bald „Isaaks Opferung” OO
malen, ahnen es kaum, wie sehr man ihren Wer‐ OO
ken jene müde Skepsis anmerkt, die im Grunde OO
längst den Glauben an sich selbst verloren hat. OO
Sie sehen nicht, was Rembrandts inbrünstig OO
erfühlte Geisteswelt von der ihren trennt, und, OO
ewig unzufrieden, suchen sie ein unbestimmtes OO
Ziel, erwarten Schöpfungs-Schauer, wie sie alle OO
Großen kannten, ohne sich bewußt zu sein, daß, OO
149 Das Reich der Kunst
allen „Könnens” spottend, Großes nur aus einem OO
großen Geiste keimen kann.
.Jeder will mehr sein als er ist und verläßt OO
so, vom Ehrgeiz gejagt, den sicheren Platz, den OO
ihm die Natur vorbehielt, um dann wie ein OO
Heimatloser durch die Gefilde der Kunst zu OO
hetzen, ohne sich und seine Stätte je zu finden. OO
.Es gibt viel mehr solcher geplagter Künstler‐ OO
Existenzen als man glaubt, und mancher recht OO
berühmte Name wird aus diesen Gründen nie‐ OO
mals seines Ruhmes froh!
.Die wirklich religiösen Bilder unserer Zeit OO
werden selten unter denen zu finden sein, die OO
durch den religiösen Vorwurf sich als Werke OO
hoher Geistigkeit erweisen möchten. Ein StillOO
leben oder eine Landschaft können höchste OO
Geisteswerte in sich tragen, können erfüllt sein OO
von tiefster Religiosität und so zu wahren AnOO
dachtsbildern werden, während daneben Bil‐ OO
der aus der heiligen Geschichte, trotz aller großen OO
Geste nichts als matte Anempfindung zu verraten OO
brauchen. Es bleibt dabei völlig gleich, ob eine OO
Begabung älteren Ausdrucksformen folgen zu OO
müssen glaubt, oder ob sie in neuen und neuesten OO
Formen den ihr gemäßen Ausdruck findet, ja OO
sich selbst erst neue Formen schaffen mag, da OO
150 Das Reich der Kunst
alle, die sie um sich findet, ihrem Ausdrucks‐ OO
drang sich nicht bequemen können.
.Es gibt ein Wort von Goethe, in dem er OO
Stellung nimmt zu der Frage: wer als „der OO
Größere” zu betrachten sei, ‒ er oder SchillerOO
‒ und in dem er zu dem Schlusse kommt, die OO
Menschen sollten froh sein, daß sie „zwei solche OO
Kerle” hätten. ‒ Dieses Wort ließe leicht sich OO
variieren und auf die verschiedenen großen Strö‐ OO
mungen anwenden, denen unsere heutigen Künst‐ OO
ler folgen.
.Der ganze Streit über die „Berechtigung” OO
dieser oder jener Auffassung der Kunst ist ebenso OO
töricht wie überflüssig. Ja selbst die BezeichOO
nungen verwirren nur, statt zu klären, denn OO
bald geht ein „Expressionist” notorisch von reiner OO
Impression aus, bald werden einem „Impressio‐ OO
nisten” seine Darstellungsmittel nur zu Zeug‐ OO
nissen seines reinen Ausdruckswillens: ExpresOO
sion! Nicht anders geht es zu in der „neuen OO
Sachlichkeit”, im „Surrealismus”, oder der „Neu‐ OO
romantik”. Auch wenn die Künstler sich mit OO
einem wahren Eigensinn ihren „Richtungen” ver‐ OO
schrieben haben, begehen sie ungewollt bei der OO
Gestaltung jedes neuen Werkes neue Grenzver‐ OO
letzungen.
.Gewiß wurde die Kunstrichtung, die man mit OO
dem Namen „Impressionismus” bezeichnet, zu OO
151 Das Reich der Kunst
einer Zeit geboren, die in einer steril-materia‐ OO
listischen Weltauffassung fast erstickte, und OO
wurde darum auch zum Spiegelbild jener ma‐ OO
terialistisch orientierten Zeit, allein darin liegt OO
keine unabänderliche Naturnotwendigkeit, und es OO
wird stets darauf ankommen, ob der jeweilige OO
„impressionistische” Künstler Geistiges zu sagen OO
hat oder nicht.
.So überzeugt auch die Freunde „expressio‐ OO
nistischer” Kunst dieser Auffassungsart künstle‐ OO
rischen Schaffens den Ausdruck des GeistigenOO
in Erbpacht gegeben haben, so sehr auch unsere OO
Zeit wieder nach Geistigem verlangt, so dürfte OO
es dennoch nicht schwer fallen, auch unter „ex‐ OO
pressionistischen” Werken gerade genug Zeug‐ OO
nisse banalster Ungeistigkeit zu finden.
.Es ist eben immer und immer wieder die OO
innerste Weltanschauung eines Künstlers, die OO
seinen Schöpfungen das unverwischbare Siegel OO
aufprägt, und im Grunde lassen sich Kunst und OO
Weltanschauung niemals trennen.
.Ein Kunstwerk ist nicht nur ein SchmuckOO
der Wand, nicht nur eine Darstellung irgend‐ OO
welcher Art, sondern stets das ‒ oft unfreiwil‐ OO
lige ‒ tiefste Seelenbekenntnis seines Schöp‐ OO
fers, weit über alle „Richtungs”-Angehörigkeit OO
hinaus. OO
152 Das Reich der Kunst
„Moderne” Kunst
.Statt sich über die Erscheinungen, die sie be‐ OO
trachten, in eingehender Weise Rechenschaft ab‐ OO
zufordern, sind die meisten Menschen schon zu‐ OO
frieden, wenn sie dafür ein mehr oder weniger OO
treffendes Schlagwort finden, und glauben einen OO
geistigen Besitz errungen zu haben, während sie OO
nur dessen halbwegs zureichende leere HülleOO
nach Hause tragen.
.Eine solche leere Hülle ist auch das Wort OO
von der modernen Kunst.
.Soll damit nur eine Zeitbestimmung ge‐ OO
troffen werden, soll das Kunstschaffen heuteOO
Lebender als „moderne Kunst” sein Rubrum OO
finden, dann ist gegen die Bezeichnung nichts OO
zu sagen, aber das Schlagwort will anderesOO
ausdrücken, will eine Wertung sein.
.Als Wertung wurde es auch stets gebraucht, OO
von jeder der einander ablösenden neueren OO
Kunstrichtungen, die seit fünfzig Jahren als OO
Symptom neuen ernsten Kunstwillens auftauch‐ OO
ten, und jede dieser Richtungen machte An‐ OO
spruch darauf, die „moderne” Kunst zu sein OO
oder ‒ wie man jetzt lieber sagt ‒ „die neueOO
Kunst”. OO
155 Das Reich der Kunst
.Es gibt aber in der wahrhaftigen KunstOO
zwar ein Früher oder Später, aber niemalsOO
ein Alt und Neu, denn echte Kunst ist zeitOO
los, entströmt ewigen Forderungen der Psyche OO
und kann, auch wenn Jahrtausende seit ihrem OO
Erstehen im Werk dahingegangen sind, niemalsOO
unmodern werden.
.Insofern ist also die Bezeichnung „moderne OO
Kunst” entweder auf alle echte Kunst allerOO
Zeiten anzuwenden, oder man hat es hier nicht OO
nur mit einem Schlagwort, sondern mit einer OO
bedenklichen Phrase zu tun.
.Gewiß gibt es auch Modeströmungen in OO
der Kunstübung einer Zeit, und selbst die Werke OO
der Eigenartigsten und Besten unter den OO
Schaffenden können von solchen Modeströmun‐ OO
gen berührt sein, aber ihre Symptome sind für OO
den echten Kunstfreund, der seinem Fühlen verOO
trauen kann, entweder eine stärkere, mitunter OO
auch nur leise irritierende BeeinträchtigungOO
seines Kunstgenusses, oder sie werden von ihm OO
als ein sublimer Reiz empfunden, der ihn das OO
Wesen der Entstehungszeit des Werkes mit‐ OO
empfinden läßt, der aber außerhalb aller ei‐ OO
gentlichen Wertung des Kunstwerkes liegt.
.Wenn man also mit dem Schlagwort: „mod‐ OO
derne” oder „neue” Kunst nur das bezeichnen will, OO
156 Das Reich der Kunst
was an einem Werke etwa der neuesten ZeitOO
mode entspricht, so berührt man damit in keiner OO
Weise das Werk als ein Werk der Kunst.
.Echte Kunst entsteht aus dem innersten, OO
quellenden Grunde der Seele! Die tiefen OO
Brunnen, aus denen der wahrhafte Künstler OO
schöpft, reichen hinab, weit unter das Reich OO
des im Alltag Bewußten, weit unter die tief‐ OO
sten Tiefen des „Stromes der Zeit”, empfangen OO
ihre stets sich erneuernde Fülle durch tief ver‐ OO
borgene Quelladern ewig sich selbst gleichenden OO
Lebens.
.Nur das Gefäß: der Eimer, mit dem der OO
Künstler schöpft, kann modische Form tragen, OO
und wie Wasser, stets die Formen des Gefäßes OO
ausfüllend, in dem es gefaßt wird, gleichsam OO
auf diese Weise die Form des Gefäßes darstellt, OO
und dennoch in jeder Form immer WasserOO
bleibt, so nimmt auch echte Kunst zwar äußer‐ OO
liche Formen an, die ihr die Zeit ihres Ent‐ OO
stehens zur Sichtbarkeit gibt, und bleibt doch OO
zu jeder Zeit die gleiche ewige Kunst.
.Sofern es sich nur um wirkliche Kunst han‐ OO
delt, nicht um einen Versuch, die Natur zuOO
imitieren, im Sinne des Panoramas oder des OO
Panoptikums, ist die Kunst aller Zeiten stets OO
„modern”, weil das Ewige aller Zeit GegenOO
wart ist und niemals „unmodern” werden kann. OO
157 Das Reich der Kunst
.Es wird nun begreiflich erscheinen, wenn ich OO
sage, daß dem Glauben jeder neuen Kunstrich‐ OO
tung, ihre Werke seien nun allein berechtigt, OO
sich als moderne oder als die neue Kunst zu OO
bezeichnen, eine tiefe Sehnsucht zugrunde OO
liegt, zugleich ein unruhig gewordenes AhnenOO
von der ewigen Moderne aller echten Kunst. OO
.Man will sagen, daß man wieder echteOO
Kunst zu schaffen willens sei, und man um‐ OO
schreibt das, indem man von moderner oder OO
neuer Kunst redet.
.Nach den großen Kunstperioden des Mittel‐ OO
alters und der Renaissance waren allmählich die OO
Brunnen echter Kunst immer mehr überwuchert OO
worden von dem üppig emporschießenden Un‐ OO
kraut bloßen Imitationswillens, und nur ver‐ OO
einzelt fanden einige Wenige ihre Zugänge, OO
schöpften daraus und wurden von ihren Zeitge‐ OO
nossen gering gewertet, weil ihre Zeit nichts OO
mehr von den Quellen der Tiefe ahnte, und OO
es bequemer fand, ihren Durst an den säfterei‐ OO
chen Stengeln und Früchten des Unkrautes über OO
den Brunnenrändern zu stillen.
.Am Anfang des neunzehnten JahrhunOO
derts erst begann wieder ein reges Suchen nach OO
den Quellen der Kunst. Junge, begeisterte OO
deutsche Künstler glaubten diesen Quellen wie‐ OO
158 Das Reich der Kunst
der näher zu kommen, indem sie sich in derOO
äußeren Form den Künstlern des Mittelalters OO
und der Renaissance anschlossen. Sie erstrebtenOO
das Höchste, aber zu den Quellen fanden sie OO
nicht zurück. In der Geschichte der Kunst OO
sind sie unter dem Namen der „Nazarener”, OO
einer ursprünglich als Spottname gebrauchten Be‐ OO
zeichnung, bekannt.
.Näher den Quellen kamen schon die „RoOO
mantiker”, die durch Wackenroders „ErgießunOO
gen eines kunstliebenden KlosterbrudersOO
mächtig angeregt, beinahe als seelische Vorläufer OO
des Expressionismus betrachtet werden können, OO
so fern sie auch in formaler Hinsicht der OO
expressionistischen Methode stehen.
.Wirklich zu den Quellen zurück fanden OO
erst gegen die Mitte des neunzehnten Jahrhun‐ OO
derts einige französische Künstler, in deren Lande OO
die Tradition nie ganz abgerissen war, vor allem OO
Manet und Cézanne, und so ist die Bewegung, OO
die alle zur künstlerischen Vollendung streben‐ OO
den Künstler aller Nationen einmal nach Frank‐ OO
reich führte, keineswegs als eine „üble Auslän‐ OO
derei”, als ein Vergessen eigenen Wertes aufzu‐ OO
fassen, sondern entsprang einer NaturnotwenOO
digkeit, die vor keinen nationalen Grenzen OO
Halt machen durfte.
159 Das Reich der Kunst
.Tatsächlich zeigten auch die beiden genann‐ OO
ten Künstler dem Kunstschaffen der ganzenOO
Welt wieder den Weg zu den Quellen, so sehr OO
auch dann die Künstler verschiedener Nationen, OO
oder starke eigenschöpferische Begabungen, wie OO
etwa Hodler, oder Edvard Munch, in ihren Wer‐ OO
ken voneinander abweichen mögen. Sind doch OO
selbst Künstler, wie der bewußt aus tiefster Seele OO
deutsche Hans Thoma, oder der an mittelalter‐ OO
liche deutsche Frühkunst erinnernde Leibl, ohne OO
ihre Pariser Zeit überhaupt nicht zu denken.
.Einmal auf die ewig strömenden QuellenOO
hingewiesen, glaubte aber die neuere Generation OO
der Künstler mit allem Recht in den Werken OO
Manets und Cézannes noch keineswegs die tiefOO
sten dieser Quellen wirksam, und so entstand das OO
bohrende Suchen nach neuen, tieferen Quellen. OO
.Es ist in nicht wenigen Fällen eine heiligeOO
Sehnsucht, die diese jüngeren Künstler erfüllt, OO
die lieber am Wege ermattet umkommen wollen, OO
als daß sie je das Ziel ihrer Sehnsucht preis‐ OO
geben möchten.
.Daß allerhand Mitläufer ohne inneren Be‐ OO
ruf ihnen „abgucken, wie sie sich räuspern und OO
spucken” nimmt den wenigen Echten nichts OO
von ihrem Wert.
160 Das Reich der Kunst
.Verderben bringt nur das beflissene KunstOO
schreibertum unserer Tage, das im Jargon der OO
Jahrmarktsausrufer hinter jeder derartigen Er‐ OO
scheinung her ist, mag sie echt oder unecht sein, OO
und ihr „Räuspern und Spucken” unter totaler OO
Verkennung der wirklichen Wertmaße mit Em‐ OO
phase anpreist, als ‒ die „neue” Kunst.
.Statt dem Laien überzeugend darzulegen, daß OO
es sich hier um ein verzweifelt ernstes RingenOO
um das Höchste und zugleich im Allertiefsten OO
Begründete handelt, daß aber alles, was bisOO
jetzt vorliegt, nur aus glühender Sehnsucht ge‐ OO
borene Versuche sind, zu tieferen Quellen vor‐ OO
zudringen, Versuche, auch wenn sie schon in OO
manchen Fällen den Sieg versprechen, wird OO
ihm alles, was irgend eine neue Richtung her‐ OO
vorbringt, mag es das Werk eines Echten, oder OO
durchsichtige Charlatanerie sein, in Bausch und OO
Bogen aufgeredet, oder aufzureden versucht, als OO
die einzige Kunst, die fürderhin noch in Be‐ OO
tracht kommen könne.
.Kein Wunder, wenn da viele, die noch ge‐ OO
sunde Instinkte in sich spüren, aber doch auf OO
dem Gebiet der Kunst nicht erfahren genug OO
sind, das Kind mit dem Bade ausschütten, und OO
das, was sie als ernsthafte Versuche allenfalls OO
verstehen könnten, als aufgedrungenes letztes OO
Ziel der Kunst rundweg ablehnen.
161 Das Reich der Kunst
.Die Zeit wird zeigen, daß die Ernsten und OO
Echten unter den neueren Künstlern eines Ta‐ OO
ges ihr Ziel, den unmittelbarsten Ausdruck ihres OO
geistigen, künstlerischen Fühlens zu geben, erOO
reichen werden, wenn auch das EndresultatOO
ganz anders aussehen mag, als man das jetzt OO
noch, nach den vorliegenden Versuchen, erwarten OO
oder gar fürchten möchte.
.Was so zutage gefördert werden wird, ist OO
dann keineswegs moderner als die Werke GiotOO
to's, Dürers, Holbeins, Rembrandts oder des OO
Frans Hals.
.Es wird, wenn es das letzte Ziel erreichtOO
hat, ewige Kunst sein, wie die Kunst des OO
Mittelalters, die Kunst der alten ChinesenOO
und ihrer Schüler, der Japaner, die altgrieOO
chische oder die beste ägyptische Kunst: OO
es wird, wie jedes echte Kunstwerk, von LioOO
nardo und Michelangelo bis zu allem Echten OO
unserer Tage, niemals unmodern werden könOO
nen, und so ist es nur freudig zu begrüßen, OO
daß auch unsere ‒ nicht immer den JahrenOO
nach ‒ „Jüngsten” einer echten, modernenOO
Kunst entgegen streben, wenn sie ihr Ziel auch OO
heute noch keineswegs erreicht haben, was ja OO
die Besten unter ihnen willig zugeben.
162 Das Reich der Kunst
Expressionismus
.Expressionismus” ist, ‒ fast muß man OO
schon sagen: „war”, ‒ eine der vielen modernen OO
Künstlerbestrebungen und wird von den Laien OO
meistens mit Kubismus, Futurismus, SphäOO
rismus und wie die schönen Worte alle heißen, OO
in einen Topf geworfen.
.Das Wort „Expressionismus” will aber als OO
künstlerische Bestrebungs-Bezeichnung nichts OO
weiter besagen, als daß die Anhänger dieser Be‐ OO
strebung zum unmittelbarsten Ausdruck, zur OO
Expression” ihres seelischen Empfindens drän‐ OO
gen, im Gegensatz zum „Impressionismus” der den OO
intensiven Eindruck wiedergestalten will, den OO
ihm die Außendinge vermitteln. „Expressionis‐ OO
mus” will also zu einer vergeistigten Kunst, OO
und einerlei, ob die zur Zeit unter diesem Namen OO
gepflegten Bestrebungen in der Malerei, der Pla‐ OO
stik, Literatur und Musik jemals ihr Ziel durch OO
ihre heute schon zur Mode und Manier gewordenen OO
Methoden erreichen werden oder auch nur OO
erreichen können, so hat doch solches Ringen OO
um den heiligen Geist, solches Streben um die OO
165 Das Reich der Kunst
Weihe des heiligen Gral, wahrhaft Anspruch auf OO
ernsteste Beachtung.
.Daß die Nachläufer zur Negerkunst, zum OO
kulturlosen Lallen des Urzeit-Menschentieres ent‐ OO
arten, darf nicht davon abhalten, in den wenigen OO
echten Künstlern dieser Art das Ringen um OO
höchste Ziele anzuerkennen.
.Etwas ganz anderes ist es, ob man die MeOO
thode für tauglich halten wird, zu dem erstrebten OO
hohen Ziele zu gelangen, und hier fehlt es meines OO
Erachtens auch den besten Künstlern, die auf OO
diesen Wegen wandeln, an philosophischerOO
Durchdringung des Wesens aller Kunst. Sie OO
möchten eine neue Kunst erschaffen, auf We‐ OO
gen, die sie niemals konsequent zu Ende zu OO
denken willig sind.
.Sie fanden einen Anfang, der eine gangbare OO
Straße verspricht, und sind davon derart begei‐ OO
stert, daß ihnen die Ruhe fehlt, das Ende zu OO
erschließen in logischer Folge, zu dem diese Straße OO
schließlich führen muß.
.Beliebt ist es heute, für jede neue „Kunst‐ OO
richtung” sich unter den großen Meistern der OO
Vergangenheit die Ahnen zu suchen.
166 Das Reich der Kunst
.Aber die hier ihre Ahnen zu finden meinen, OO
verkleinern sich selbst, gleichen Parvenus, die OO
sich mit ihrem Gelde Schlösser bauen im Stil OO
der Großen der Vergangenheit.
.Wenn für die expressionistische MalereiOO
im Ganzen „Ahnen” gemacht werden sollen aus OO
allen großen Künstlern, die einem stark bewegten OO
seelischen Ausdruck in ihrer Kunst zustrebten, OO
und wenn sich beflissene Kunst-Snobs finden, die OO
für alles, in dem sie Hautgout wittern, begeistert OO
sind und die den auf expressionistischer Bahn OO
wandelnden Künstlern in suggestiv übersteigerter OO
Sprache diese Ahnen einzureden, aufzuschwatzen OO
suchen, so ist das, gelinde gesagt: ‒ „Grober OO
Unfug”.
.Auch die Künstler selbst, die auf diese, nur OO
durch ihre unbewußte Komik etwas versöhnende OO
Ahnenmacherei hineinfallen, sind sich leider OO
nicht bewußt, welche Blößen sie sich damit OO
geben, denn hätten sie jemals einen dieser Großen OO
wirklich gründlich studiert, nicht eingeengt OO
in ihrem Gesichtsfeld durch das Sehrohr ihrer OO
eigenen Wünsche, dann hätten sie finden müssen, OO
daß zwar in den Werken eines jeden nach beweg‐ OO
tem Ausdruck strebenden Künstlers ElementeOO
der expressionistischen Methode zu finden sind, OO
aber niemals losgelöst und für sich bestehend, OO
167 Das Reich der Kunst
sondern eingegangen in das Werk, darin ver‐ OO
borgen, wie das Knochengerüst im Körper.
.Wie im Werke eines jeden guten Künstlers OO
auf die eine oder die andere Art „OrnamentOO
verborgen sein muß, ja wie sein Werk erst da‐ OO
durch Halt und Ausdruck findet, so war auch zu OO
allen Zeiten in jedem Werke, nach starkem be‐ OO
wegtem Ausdruck strebender Künstler, die exOO
pressionistische Methode latent enthalten, OO
und es wird auch in den Werken, die erst nach OO
Jahrtausenden entstehen, nicht anders sein.
.Das, was die expressionistische Methode jetzt OO
isoliert und nackt zutage schafft, ist wie ein OO
Mensch ohne Haut, ein anatomisches Präparat, OO
aber ‒ kein Leben, so sehr sich auch die Ver‐ OO
treter dieser Methode zugute halten, daß erst sieOO
dazu gekommen seien, das Leben selbst auf‐ OO
zuzeigen.
.Expressionistische Methode muß in einem OO
auf seelisch bewegten Ausdruck angelegten Kunst‐ OO
werk sein, wie Perspektive oder Anatomie in OO
jeder Landschaft, jedem guten europäischen Fi‐ OO
gurenbilde der letzten Jahrhunderte stecken: ‒ OO
latent darin enthalten, aber nicht losgelöst, OO
gleichsam herauspräpariert aus der lebendigen OO
Neuschöpfung einer inneren, der äußeren zwar OO
168 Das Reich der Kunst
mehr oder weniger ähnlichen, doch stets für sichOO
bestehenden Welt, die das Werk eines jeden ech‐ OO
ten Künstlers darstellt, mag es ein Werk der Ma‐ OO
lerei, eine Plastik, ein Werk der Literatur oder OO
eine musikalische Schöpfung sein, bei welch letz‐ OO
terer allerdings der Fall insofern etwas anders OO
liegt, als die „Außenwelt”, der sie entspricht, dasOO
Reich der rhythmischen Intervalle, der OO
kosmischen Bewegung kleinster EnergieOO
zentren ist, die dem Nichtmusiker erst in ihren OO
Wirkungen, innerhalb der uns umgebenden OO
Erscheinungswelt, bewußt werden.
.Es ist darum scharf zu unterscheidenOO
zwischen „Expressionismus” als Willens-ImOO
puls, und expressionistischer Methode.
.Der expressionistische Willens-Impuls stellt OO
eine Reaktion dar, auf die vorausgegangenen OO
künstlerischen Aspirationen, deren letzte Ziele OO
ein Ersticken im Ungeistigen, im Nur-mateOO
riellen bedeuteten.
.Insofern ist er in hohem Maße begrüßensOO
wert.
.Aber Geist läßt sich nicht von MaterieOO
scheiden, und das wirklich vergeistigte Kunst‐ OO
werk kann nur entstehen, wenn es in der inneren OO
Welt eines Künstlers Gestalt findet, ‒ auch OO
169 Das Reich der Kunst
da aus subtilster Materie geschaffen! ‒ aber den OO
ewigen kosmischen Gesetzen aller Gestaltung, OO
sowohl in der sinnlich wahrnehmbaren Außen‐ OO
welt, als auch in allen metaphysisch ergründ‐ OO
baren Welten, entsprechend.
.Als Durchgangs-Station für einen innerlich OO
bewegten, echten Künstler mag der expressioni‐ OO
stischen Methode der gleiche Wert beigemessen OO
werden, wie dem Studium anderer künstlerischer OO
Hilfsmethoden, und in diesem Sinne sollte sie OO
nebenbei, zum Nutzen der Studierenden, auf OO
unsern Akademien betrieben werden, aber imOO
Werke des Künstlers kommt ihr nur dienendeOO
Bedeutung zu.
170 Das Reich der Kunst
Sinnlose Kämpfe
.Schlagworte haben in der Welt schon den OO
übelsten Schaden angerichtet. Wer das nicht OO
weiß, der sehe sich nur im Leben des Alltags OO
um. Er wird da genug Beispiele finden!
.Verhängnisvoll wird aber auch die Herrschaft OO
der Schlagworte auf den Gebieten des mensch‐ OO
lichen Geisteslebens, und besonders dort, wo OO
sie das Empfinden einer Erscheinung verfäl‐ OO
schen, weil sie die Seele des Empfindenden in OO
irriger Weise „einstellen”.
.Zu der Kategorie solcher verderblicher Schlag‐ OO
worte gehören die Bezeichnungen, die von ein‐ OO
zelnen Künstlergruppen aufgegriffen wurden, OO
um ihrer Art der Auffassung des künstlerischen OO
Schaffens zu einem Namen zu verhelfen.
.Der Laie, ohnehin schon konfus gemacht und OO
verärgert durch dieses unruhige, ihm ganz un‐ OO
begreifliche Drängen der Künstler nach „neuen”, OO
immer wieder überneuerten Zielen, weiß sich OO
schließlich keinen andern Rat, als je nach Nei‐ OO
gung und Kunstgefühl die Kunstauffassung, die OO
ihm unter einem solchen Schlagwort entgegentritt, OO
173 Das Reich der Kunst
und die ihm stets wieder und wieder als das OO
Alpha und Omega aller wahren Kunst aufgeredet OO
wird, für das endgültig aus diesem Wirrwarr OO
Erlösende zu halten, und verschreibt sich so seinem OO
Schlagwort, wütend, und außer sich geratend, OO
wenn es eines Tages wieder gestürzt werden soll. OO
.Längst ist der „Impressionismus” noch nicht OO
auf allen Linien Sieger geworden, aber lange OO
schon treten immer neue, ihn verwerfende an‐ OO
dere „Richtungen” zutage, Richtungen, die zwar OO
zum Teil weiter nichts als eine entsprechend OO
modernisierte” Auflage des seligen „Jugend‐ OO
stils” unglückseligen Angedenkens darstellen, OO
zum anderen Teil aber wirklich auf ihre Art OO
zu hohen, neuen Zielen weisen, wenn man auch OO
noch auf den Wegen zu diesen Zielen bald da‐ OO
hin, bald dorthin abirren mag.
.Nun soll der Laie, der eben erst kaum dabei OO
war, halbwegs zu begreifen, um was es sich ei‐ OO
gentlich beim „Impressionismus” handelt, schon OO
wieder umlernen, weil ‒ der „Impressionismus” OO
angeblich „überwunden” sei.
.Kein Wunder, wenn man sich sträubt, und OO
was sich nicht sträubt, und mit wildem Gesti‐ OO
kulieren schleunigst dabei ist, mitzulaufen, weil OO
es „etwas Neues, noch nie Dagewesenes” gibt, OO
das hat den „Impressionismus” ganz sicherOO
174 Das Reich der Kunst
noch nicht überwunden”, weil ‒ es ihn ebenso‐ OO
wenig verstand, wie es das einzig WesentlicheOO
dessen begreift, was ihm unter dem Namen „Ex‐ OO
pressionismus” in einem Sammelsurium der ver‐ OO
schiedensten Strebungen entgegentritt.
.Die Wahrheit ist: daß weder das Wort „Im‐ OO
pressionismus”, noch die Bezeichnungen „Expres‐ OO
sionismus”, „Surrealismus”, „Kubismus”, „Neue OO
Sachlichkeit”, oder wie immer die Etikette einer OO
neuen Kunstrichtung lauten mag, sei es der OO
reinen Wortbedeutung nach, sei es in bezug auf OO
die darunter verstandenen praktischen Bestre‐ OO
bungen, irgendwie gerade das bezeichnen, auf OO
was es den ernst zu nehmenden Künstlern aller OO
Zeiten allein ankam, und auf was es auch OO
allen wirklich Wertvollen in heutiger Zeit an‐ OO
kommt: den Bekenntnistrieb ihrer Seelen‐ OO
kräfte im Schaffen auszuleben!
.Dazu aber gibt es die verschiedensten Mög‐ OO
lichkeiten, und das ist gut so, sonst würde die OO
Kunst das langweiligste Gebiet menschlichen OO
Geisteslebens.
.Es gibt allenfalls gute und schlechte Kunst, OO
‒ streng genommen überhaupt nur Kunst, OO
denn ein wirkliches „Kunstwerk” ist niemals OO
schlecht.
.Was man so landläufig als „schlechte” Kunst OO
bezeichnen mag, ist die Talmiware, die sich für OO
175 Das Reich der Kunst
Kunst ausgibt und dem Publikum Sand in OO
die Augen bläst, damit es ihre Erbärmlichkeit OO
nicht sehe.
.Gewiß tauchen in jeder Zeitperiode neue OO
Ziele aus kosmischen Urtiefen auf, die dann die OO
Kräfte der Besten magnetisch an sich fesseln: OO
die erreicht sein wollen, ob auch der einzelne OO
Künstler auf seinem Wallfahrtswege zu Grunde OO
geht, oder mit Spott und Hohn übergossen wird. OO
Aber immer wieder handelt es sich um die gleiche OO
Frage: „Zeige mir, ob Du zu Deinem Streben OO
auch berechtigt bist, ‒ ob man Dich innerlich OO
berufen hat, oder ob Du nur ein NachläuferOO
bist auf den Wegen, die nie und nimmer von OO
Dir betreten werden wollen, weil Du sie ent‐ OO
weihst!?!”
.Der wahrhaft von seinem Gott getriebene OO
echte Künstler kann nie im Zweifel sein über OO
seinen Weg, sobald er einmal die ersten Anhöhen OO
im Lande der Kunst erklommen hat, die ihm OO
das ausgebreitete Gefilde weithin zeigen.
.Er wird still seine Straße ziehen, und nur, OO
wenn ihm sein Gott eines Tages befiehlt, ur‐ OO
plötzlich seine Wegrichtung zu ändern, wird er OO
ihm gehorsam folgen, auch wenn Ruf und Namen OO
durch den neuen Weg gefährdet werden, den der OO
176 Das Reich der Kunst
Künstler dann erst mühevoll sich selber bahnen OO
muß.
.Niemals aber kann er zum „Nachläufer” OO
entarten!
.Ein wahrer Künstler hebt die Hand nicht OO
zum Werke ohne inneren, verpflichtendenOO
Befehl, und es wird ihm stets völlig gleich‐ OO
gültig sein, ob man sein Werk dieser oder OO
jener Kategorie künstlerischen Schaffens zu‐ OO
zählen mag.
.Ob er nun auf den Grundlagen aufbaut, die OO
man speziell dem „Impressionismus” verdankt, OO
oder ob er eine Form der Aussprache pflegt, die OO
irgendwo in den Sammelnamen „ExpressionisOO
mus” miteinbezogen werden kann, das ist ja OO
auch so unsäglich nebensächlich, ‒ viel OO
nebensächlicher noch, als ob er diese oder jene OO
Farben bevorzugt, ob er überhaupt die Farbe OO
braucht, oder aus Schwarz und Weiß die Skala OO
der Töne bildet, die ihm zur Aussprache dienen OO
müssen, ‒ ob er große oder kleinste Formate OO
für sein Schaffen wählt.
.Stets wird es darauf ankommen, ob das, was OO
er schafft, echte Kunst, ursprünglichstesOO
Seelenbekenntnis ist, und aller Wert, auch OO
in materieller Hinsicht, wird allein nur von OO
177 Das Reich der Kunst
dieser Voraussetzung her bestimmt, alle DauerOO
dieses Wertes ruht nur in der überzeugenOO
den Kraft, die dem Bekenntnis seiner Seele OO
innewohnt.
.Man hat allzulange den „Laien” betrogen, OO
indem man ihn glauben machte, das Wesentliche OO
der echten Kunst sei Dokumentierung der Ge‐ OO
schicklichkeit. „Kunst kommt doch von Kön‐ OO
nen”, lautet das läppische und so triviale Wort, OO
das man heute noch im Munde besonders Klu‐ OO
ger findet!
.Gewiß, ‒ aber hier handelt es sich um ein OO
„Können”, das aus der Seele strömt, ein VerOO
mögen des schöpferischen Entfaltens, ‒ OO
und nicht um eine durch „Erlernen” zu erwer‐ OO
bende Geschicklichkeit!
.Ein Künstler „kann” etwas, weil er schafOO
fen kann, weil er nicht nur „produziert” und OO
Gelerntes auf mehr oder weniger geschickte Art OO
zur Anwendung bringt.
.Nicht die „stupende Technik”, die „korrekte OO
Zeichnung”, die „fabelhafte Differenzierung der OO
Valeurs”, und wie die schönen Lobestitel alle OO
heißen, durch die man geschickte Mache als OO
Kunst” vorzutäuschen sucht, geben jemals OO
einen Gradmesser ab zur Bewertung eines wahren OO
Kunstwerkes.
178 Das Reich der Kunst
.Die schöpferische Kraft und die ursprüngOO
liche Bekenntnisfreudigkeit des Künstlers OO
zu dem Ausdrucksdrang seiner Seelenkräfte, ent‐ OO
scheiden ganz allein über den Wert seines OO
Werkes, und sie allein verleihen dem Wert des OO
Werkes Dauer.
.Kein Mensch wird in hundert Jahren dar‐ OO
nach fragen, ob es mehr dem „Ex”- oder dem OO
„lmpressionismus” zuzuzählen sei, wenn ein OO
Kunstfühlender seinen Wert bestimmt.
.Zur Zeit Rembrandts gab es eine Menge OO
Maler, die herrlich und in Freuden lebten und OO
die Gunst des Publikums genossen. Heute greift OO
man sich an den Kopf und faßt es nicht, daß OO
diese traurigen Tröpfe ihren Markt hatten, wäh‐ OO
rend Rembrandt stets mehr im Elend versank, OO
je ungehemmter er dem Gott seiner großen Seele OO
diente.
.Als Kuriositäten, nicht ganz ohne Lieb‐ OO
haberwert, betrachtet man nunmehr diese Mach‐ OO
werke seiner Nebenbuhler, während das beschei‐ OO
denste Bildchen von Rembrandts Hand heute OO
fast unbezahlbar ist.
.So war es und so wird es immer sein, mag OO
auch die Meute hinter allen Großen kläffen, die OO
anderes zu offenbaren haben, als das ihr Alt‐ OO
bekannte.
179 Das Reich der Kunst
.Stets wird die Zeit zu richten wissen, und OO
niemals wird sie danach fragen, durch welches OO
Schlagwort man die Werke eines Künstlers ein‐ OO
mal einzuengen suchte, oder welcher „Richtung” OO
er sich selbst vielleicht verschrieben glaubte.
.Was an Echtem ans Licht will, kommt aus OO
den Tiefen der menschlichen Seele, aus OO
göttlich klaren Brunnen, wenn es auch heute OO
noch manche Trübung durch das Erdreich zeigt, OO
das erst durchbrochen werden muß.
.Wer darf es denen, die diese Quellen rauschen OO
hören, heute verargen, wenn sie nun alles Heil OO
allein von ihren Brunnen her erwarten?!
.Die Echten, die Schaffenden, werden gar OO
bald erkennen, daß deshalb die vor ihnen vonOO
Früheren begründete Kunstrichtung noch lange OO
nicht „überwunden” ist, werden im GegenteilOO
sehen lernen, wie sie selbst nur fest auf dieser OO
Erde Boden stehen, wenn sie alles in sich sau‐ OO
gen, wie die Wurzeln eines Baumes, was an OO
echten Werten in jedem echten, künstlerischen OO
Streben aufzufinden ist.
180 Das Reich der Kunst
Die „Grenzen” der Malerei
.Es gibt sehr feinsinnige Kunstfreunde, die OO
durchaus nicht allem Neuen abhold sind, und OO
dennoch den neueren Bestrebungen in der Malerei OO
scharf ablehnend gegenüber stehen.
.Man kann das wohl begreifen, denn was bis OO
jetzt an Resultaten vorliegt, ist zwar reich an OO
einzelnen guten Ansätzen, aber das meiste Gute OO
erstickt fast im üppigen Unkraut abstruser Ge‐ OO
bilde, deren wilde Geste oder idiotenhafte, naiv OO
sein wollende Grimasse wahrlich jedem geläu‐ OO
terten Geschmack ein gelindes Grausen abnötigen OO
muß.
.Es geht eben hier wie überall: ‒ wer KulturOO
werte schaffen will, muß selbst ein gerüttelt Maß OO
hoher Kultur in sich tragen, und die, von denen OO
man solches behaupten darf, sind und waren zu OO
allen Zeiten selten.
.Wenn aber die wirklich wertvollen Stilele‐ OO
mente, die bereits da und dort zu ersehen sind, OO
zu einem neuen Stil in der Malerei ausreifen OO
sollen, dann darf der Kunstfreund, für den doch OO
alle Kunst geschaffen wird, trotz aller wohlbe‐ OO
183 Das Reich der Kunst
gründeten Abneigung gegen das mitunterlaufende OO
Chaotische, seine Mitarbeit nicht versagen.
.Diese Mitarbeit aber verlangt in erster Linie OO
eine vorurteilslose, willige Einstellung des eigenen OO
Einfühlungsvermögens gegenüber den neuen, OO
und auf den ersten Blick befremdenden Formen. OO
.Man darf sich, will man zu einem sicherenOO
Urteil kommen, nicht selbst den Weg dazu ver‐ OO
sperren durch theoretische Erwägungen, die von OO
ganz andersartigen Strebensäußerungen im OO
Reiche der Kunst ihre Sanktion empfangen.
.Unsagbar viel ist zu allen Zeiten darüber ge‐ OO
schrieben worden, was die Malerei als höchste OO
Kunst sein „soll”, sein „kann” und sein „darf”. OO
.Künstler stellten die Forderungen, die ihrOO
eigner Genius an sie stellte, als allgemeinOO
gültige Normen auf, und gelehrte Kunstfreunde OO
suchten das, was sie selbst am stärksten beein‐ OO
druckte, mit allem psychologischen und philoso‐ OO
phischen Apparat emporzuschrauben, damit es OO
den kommenden Zeiten als hohes Vorbild leuchte. OO
.Aber das Schaffen-„Müssen” echter Künstler OO
spottet aller gutgemeinten Ermahnungen, spottet OO
des grimmigsten Tadels und der überschwäng‐ OO
lichsten Lobeserhebung, weil jeder wirklich be‐ OO
rufene, starke Künstler, allen Theorien entrückt, OO
184 Das Reich der Kunst
stets wieder nur nach den ihm innewohnenden OO
Gesetzen allein gestalten kann.
.Sein Werk dient dann vielleicht zum Aus‐ OO
gangspunkt für eine neue Theorie, die ebenso‐ OO
wenig auf allgemeine Gültigkeit Anspruch hat, OO
wie die früheren Theorien.
.Selten nur macht sich der Kunstfreund klar, OO
welcher Kunsttheorie seine Liebe zur Kunst und OO
sein Urteil unterworfen ist.
.In den meisten Fällen sind seine Kunstfor‐ OO
derungen hergeleitet von einem Sammelbecken OO
aller erdenklichen Kunst-Theorien, die im OO
Laufe der Jahrhunderte entstanden, und deren OO
tatsächliche Befolgung durch schaffende Künst‐ OO
ler stets nur eine matte und kraftlose Epigonen‐ OO
kunst zutage förderte.
.Er hat vielleicht viele große Museen alter OO
Kunst durchwandert, viele der modernen Aus‐ OO
stellungen gesehen, und allerhand kunstgeschicht‐ OO
liche Studien hinter sich, so daß er sich nur allzu‐ OO
gerne ein gewisses „Kunstverständnis” zutraut, OO
und es auch, vielleicht, in gewissem Maße besitzt. OO
.Nun ist aber Kunst etwas Lebendiges, etwas, OO
das in stetem Wandel seiner Formen begriffen OO
ist, so daß man, auf das bekannte Wort Nietzsches OO
anspielend, wohl sagen könnte: „Nur wer sich OO
185 Das Reich der Kunst
wandelt, ist mit ihr verwandt”: ‒ nur wer sich OO
in seinem Einfühlungsvermögen stets wandlungs‐ OO
fähig zu erhalten weiß, tritt in ein inneres, OO
lebendiges Verhältnis zur Kunst.
.Der in seine, ihm von außen her überkommene OO
Kunst-Theorie verrannte Eigensinnige wird es OO
dagegen dulden müssen, daß die Kunst lächelnd OO
ihre Bahn weiter schreitet, ob er sie nun erken‐ OO
nen mag oder nicht.
.Das Gebiet der freien Kunst läßt sich nicht OO
mit Staketenzäunen abgrenzen, und seine Straßen OO
sperren keine Schlagbäume.
.Die sich vermessentlich berufen dünkten, seine OO
Ausdehnung bestimmen zu dürfen, glaubten OO
noch zu allen Zeiten, die Kunst überschreiteOO
ihr eigenes Gebiet, wenn sie sich nicht an OO
jene Grenzlinien kehrte, die diese Neunmalklugen OO
ihr fürsorglich gezogen hatten.
.So spricht man denn auch jetzt noch, gelassen OO
und von keinem Zweifel beirrt, zuweilen den OO
Satz aus, das Bestreben der neueren Malerei sei OO
„eine Überschreitung der Grenzen” dieser Kunst. OO
.Wenn man aber auch wahrlich nicht in Ver‐ OO
legenheit gerät, sobald man ernstlich nach kriti‐ OO
schen Waffen sucht, um die heute allerwege allerOO
neueste Malerei zu bekämpfen, wenn auch OO
186 Das Reich der Kunst
Expressionismus und Kubismus keineswegs so OO
unangreifbar sind, wie ihre Anhänger in schöner OO
Begeisterung glauben, so ist doch gerade der Vor‐ OO
wurf der „Grenzüberschreitung” diesen Rich‐ OO
tungen gegenüber eine recht ungeeignete Waffe, OO
denn sie fliegt unfehlbar zurück wie ein Bume‐ OO
rang, aber durchaus nicht in die Hände dessen, OO
der sie geworfen hat.
.Abgesehen davon, daß man nur im Banne OO
einer bestimmten Ästhetik diesen Vorwurf als OO
Tadel auffassen kann, daß er aber ebensowohl, OO
‒ ich erinnere hier nur an die Entwicklung der OO
Musik seit Beethoven, ‒ von anderem Stand‐ OO
punkt her gesehen, höchstes Lob in sich schließt, OO
ist ja gerade die puritanisch strengste Selbstbe‐ OO
schränkung auf das allerengste Gebiet maleri‐ OO
scher Ausdrucksmittel, das Kennzeichen der OO
neueren Malerei.
.Gerade weil sie in der bisherigen Auffassung OO
der Kunst des Malens eine Menge von Kunst‐ OO
mitteln in Anwendung sahen, die im allerstrengOO
sten Sinne nicht mehr den Wirkungsmitteln OO
zuzurechnen sind, über die nur der Maler alleinOO
verfügt, sehen sich ja die Neueren veranlaßt, nach OO
Wegen zu suchen, auf denen sie sich, im engstenOO
Gebiet ihrer Kunst bleibend, dennoch aussprechen OO
können.
187 Das Reich der Kunst
.Sie erstreben ja nichts Geringeres, als die OO
absolute Malerei” zu schaffen: ‒ ihr Bild soll OO
ein Gebilde sein, frei von jeder Tendenz der OO
Naturnachahmung, soll nur durch sich selbst, OO
durch seine freien Farben und Formen, zu der OO
Seele des Betrachters sprechen.
.Man kann die Grenzen der Malerei schlecht‐ OO
hin nicht enger ziehen, denn die Kunstmittel, OO
mit denen es die Malerei unter allen Künst‐ OO
lern allein zu tun hat, sind verschieden geOO
formte Farbflecken, die, wenn das Gebilde OO
überhaupt zur Kunst zu zählen sein soll, in ge‐ OO
wisse rhythmische Verhältnisse zueinander OO
gebracht werden müssen.
.Daß man diese Farbflecken auch so gestalten OO
kann, daß durch ihre Anordnung auf der Netz‐ OO
haut des beschauenden Auges ähnliche Eindrücke OO
hervorgerufen werden, wie wir sie vom Sehen OO
der Dinge in der Außenwelt her gewohnt sind, OO
ist eine Sache für sich, und gehört in das Gebiet OO
der möglichen Anwendungsarten der primä‐ OO
ren Kunstmittel des Malers.
.Schließlich kann man ja auch Farbflecken OO
ohne jede Gesetzmäßigkeit nebeneinandersetzen, OO
oder ihre Anordnung, wie bei gewissen Batik‐ OO
stoffen, dem Zufall überlassen und nur durch ge‐ OO
schmackvolle Auswahl der Farbtöne nachhelfen. OO
188 Das Reich der Kunst
.Den allerstrengsten Vertretern gewisser OO
neueren Richtungen in der Malerei erscheint nun OO
jede Anwendungsart der primären Mittel des OO
Malers „unrein” und kunsthemmend, bei der das OO
Endresultat noch etwas anderes aussagen will, OO
als was sich allein durch die rhythmische Ver‐ OO
teilung und gegenseitige Beziehung der Farb‐ OO
flecken und ihrer Formen aussagen läßt.
.Die weniger strengen lassen wohl Reminiszen‐ OO
zen an die Dinge der greifbaren Welt noch zu, OO
jedoch nur in einer Umformung, die aus den OO
Gesetzen der primären Mittel und ihrer Aus‐ OO
drucksfähigkeiten an sich hergeleitet wird.
.Es liegt eine zwingende Logik in diesen Rei‐ OO
nigungsbestrebungen, mag man die Art, wie sie OO
der Einzelne auffaßt, erfreulich finden oder nicht, OO
und dieser Logik unterliegen die meisten der OO
jungen Maler unserer Tage, so daß sie sich scharen‐ OO
weise den neuen Richtungen zuwenden.
.Diese Reformer sind es, die von ihrem OO
Standpunkt aus mit vollem Recht fast aller seit‐ OO
herigen Malerei „Grenzüberschreitung” vorwerfen OO
können!
.Demgegenüber bleibt nun aber die Frage OO
offen, ob wir uns nicht eines unschätzbaren Reich‐ OO
tums in freiwilliger Askese begeben, wenn wir OO
189 Das Reich der Kunst
auf allen Sinnenreiz der Außenwelt verzichOO
ten, und, uns nur in den engen Grenzen der OO
ureigensten Mittel einer Kunst bewegend, nichtsOO
als lediglich abstrakt formalen Ausdruck geben OO
wollen?
.Sollen wir uns denn wirklich nur auf ein OO
Gestikulieren und auf eine Kunst, die nur dasOO
aussprechen kann, was ihre Mittel an sich schon OO
erschöpfen, beschränken, oder wird es nicht höher OO
führen, wenn wir unsere Mittel dazu erziehen, OO
uns in allen ihren möglichen Anwendungsarten OO
zu dienen, auch wenn strengstens dabei ver‐ OO
mieden werden muß, sie zu vergewaltigen?
.Ist es dem Maler möglich, seine primärenOO
Mittel: die verschieden geformten Farbflecken, OO
in rhythmische Beziehung zu setzen, was das OO
erste Grunderfordernis des Kunstwerkes aus‐ OO
macht, und kann er, ohne diese rhythmische OO
Gestaltung zu gefährden, darüber hinaus auch OO
andere Saiten in der Seele des Beschauers durch OO
subtilere Verwendung seiner Mittel zum Erklin‐ OO
gen bringen, so ruft er zweifellos eine VerstärOO
kung des Erlebens wach, ohne den zugewiesenen OO
Bereich seiner Kunstmittel verlassen zu müssen, OO
und ohne Anleihen in fremdem Gebiet.
.Die Mitwirkung dieser, nicht mit den priOO
mären Mitteln seiner Kunst erreichbaren Vor‐ OO
190 Das Reich der Kunst
stellungen darf nur nicht auf Kosten der KunstOO
gestaltung, durch ein Umgehen ihrer Gesetze, OO
erschlichen werden, darf nicht etwa nur dazu OO
dienen, das mangelhafte Beherrschen der primä‐ OO
ren Mittel zu verschleiern.
.Jedes wahre Kunstwerk entsteht in einem OO
seelischen Zentrum, in dem durchaus keine scharfe OO
Scheidung der einzelnen Kunstarten getroffen ist. OO
.Erst zur Mitteilung bedarf der Künstler ge‐ OO
sonderter Mittel in der Außenwelt.
.Der Ring aber schließt sich, indem das so OO
entstandene Werk vom Genießenden wieder in OO
dem gleichen seelischen Zentrum empfundenOO
wird, aus dem es in der Seele des SchaffendenOO
hervorging.
.So dürfte also der eigentliche bleibende Wert, OO
den die neueren Bestrebungen auf dem Gebiete OO
der Malerei zu erlangen fähig sind, nicht dort OO
liegen, wo ihn die Verfechter dieser Bestrebungen OO
suchen.
.Was diese Künstler, soweit es sich um be‐ OO
rufene Schöpfer handelt, mit elementarer Gewalt OO
in neue Bahnen zwingt, ist nichts anderes als OO
jene Urgewalt der Seele, die sich uns, in dafür OO
eigens geschaffenen Gebilden, als Kunst offen‐ OO
baren will, aber die im Laufe der Jahrhunderte OO
191 Das Reich der Kunst
erwachsenen Darstellungsformen durch allzu große OO
Überfeinerung kraftlos geworden findet, und sie OO
nun zurückschneidet, wenn es sein muß, bis auf OO
den Stamm, damit neue, kräftigere Äste, vollereOO
Blüten und reichere Früchte sich bilden können. OO
.Wir haben also von den neueren Richtungen OO
in der Malerei zwar keine neue Kunst, wohl OO
aber reinere und stärkere Ausdrucksmittel zu OO
erwarten, und weiterhin neue Symbole, die man OO
zwar erst deuten lernen muß, die aber weit über OO
den engen Bezirk der primären Mittel der Male‐ OO
rei hinausführen werden, als Bildzeichen derOO
Seele.
.Man rede uns daher nicht ein, daß ein vom OO
Gärtner zurückgeschnittener Obstbaum der In‐ OO
begriff aller Schönheit sei, aber man werte diesen OO
Baum auch deshalb nicht etwa gering, sondern OO
warte erst die Entwicklung seiner neuen, stär‐ OO
keren Triebe ab, warte, bis der Frühling BlütenOO
bringt und der Sommer schließlich reife FrüchteOO
zeitigt! OO
192 Das Reich der Kunst
Primitive
Kunst und Archaismus
.Wenn man die Anfänge bildnerischen Ge‐ OO
staltens bei Naturvölkern und in den Malereien OO
der Urzeitmenschen betrachtet, lassen sich sehr OO
verschiedene Impulse feststellen, die solches OO
Schaffen bewirkten.
.Fraglos verdanken die bewegten Darstellun‐ OO
gen der Tierwelt, die den Urzeitmenschen um‐ OO
gab, wie auch die lebendigen Buschmann-Zeich‐ OO
nungen, rein künstlerisch der Freude am WiederOO
gebenkönnen der Augeneindrücke ihr Da‐ OO
sein, auch wenn es daneben ihr Nützlichkeits‐ OO
zweck war, über die dargestellten Tiere einen OO
Jagdzauber auszusprechen, während die Malereien OO
an einem Fetisch-Tempel im Urwald als reinste OO
Ausdruckskunst anzusehen sind.
.Wie hoch sich auch die Kunstübung der KulOO
turvölker über die genannten primitivenOO
Kunstleistungen erheben mag, so lassen sich OO
dennoch diese beiden Hauptimpulse künstleri‐ OO
schen Schaffens immer wieder feststellen, bis OO
auf den heutigen Tag.
195 Das Reich der Kunst
.Man hat die bildende Kunst gar oft auf ein OO
Schmuckbedürfnis zurückzuführen gesucht OO
und es scheint tatsächlich, als ob der Wunsch, OO
sich selbst oder einen Gegenstand, ein Bauwerk, OO
mit Schmuck zu versehen, vielfach der erste OO
Anlaß zu künstlerischer Betätigung gewesen OO
sei, aber wir gehen zweifellos fehl, wenn wir in OO
diesem Schmuckbedürfnis auch die innere UrOO
sache zu sehen vermeinen, die den Menschen OO
auf die Bahn des Gestaltens in Form und Farbe OO
führte. Zwar geht sicherlich das Schmuckbe‐ OO
dürfnis mit den bereits genannten Impulsen OO
vielfach Hand in Hand, aber es ist nicht, fürOO
sich betrachtet, Ursache künstlerischer Ge‐ OO
staltung, auch nicht in deren primitivster Form. OO
.Es Iäßt sich überdies die Frage aufwerfen, OO
ob der primitive Mensch jemals ein reinesOO
Schmuckbedürfnis ohne symbolische Beiwerte OO
empfand?
.Ich glaube diese Frage verneinen zu dürfen OO
und möchte eher behaupten, daß jeglicherOO
Schmuck des primitiven Menschen für ihn einen OO
symbolischen Wert besitzt. Sobald dann der OO
Kunsttrieb in Erscheinung tritt, um das Schmuck‐ OO
bedürfnis auf eine höhere Stufe zu erheben, dient OO
er in irgend einer Weise zur Ausdeutung sym‐ OO
bolischer Werte, wird er Ausdruckskunst: „ExOO
196 Das Reich der Kunst
pressionismus”, ‒ oder aber, er benützt den OO
zu schmückenden Gegenstand lediglich als Folie, OO
als Unterlage, um seiner Darstellungsfreude zu OO
genügen: um als reiner „Impressionismus” die OO
Wiedergabe des Augeneindrucks zu versuchen. OO
.Expressionismus tritt immer als eine Art OO
Geheimsprache auf.
.Wir können die seltsame Ornamentik ma‐ OO
layischer oder afrikanischer Fetischtempel nie‐ OO
mals recht verstehen, wenn wir nicht wissen, OO
welcher Gefühlswert sich für den Menschen OO
dieser primitiven Kulturkreise mit den einzelnen OO
Formen und Farben verbindet.
.Auch unser Expressionismus, soweit er ech‐ OO
tem Empfinden entstammt, strebt einer solchen OO
„Geheimsprache” zu, nur fehlt ihm die sichere OO
Tradition primitiver Völkerschaften, die einheit‐ OO
liche Gebundenheit durch allgemein verbreitete OO
Glaubensform, so daß die Gefahr besteht, eine OO
babylonische Kunstsprachen-VerwirrungOO
statt einer hieratischen Sprache zu erreichen. OO
.Im Gegensatz zum expressionistischen Kunst‐ OO
Impuls liegt es dem Impuls zum ImpressioOO
nismus völlig fern, Unsagbares sagen, Urgefühle OO
aufregen und Geheimnisse der Seele deuten zu OO
wollen. OO
197 Das Reich der Kunst
.Der Urzeitmensch, wie der afrikanische Busch‐ OO
mann, ist bei seiner Wiedergabe bewegten Le‐ OO
bens von keinem anderen Trieb beherrscht, wie OO
der moderne Impressionist, den seine Freude OO
an der bewegten Erscheinung mit so viel voll‐ OO
kommeneren Mitteln und unvergleichlich größe‐ OO
rem technischen Können zur Darstellung sei‐ OO
nes Augeneindrucks führt, mag auch dem primi‐ OO
tiven Menschen schon jedes Darstellenkönnen OO
an sich wie die Ausübung einer magischen OO
Kunst erscheinen.
.Aus dieser kurzen Betrachtung ergibt sich, OO
daß wir im Grunde alle menschliche Kunstübung OO
auf expressionistische und impressioniOO
stische Impulse zurückführen können, ‒ beide OO
Worte freilich nicht in dem engen Sinne ver‐ OO
standen, der ihnen durch neuere und aller‐ OO
neueste Künstlergruppen zuteil wurde, ‒ und OO
daß beide Impulse im menschlichen Kunst‐ OO
schaffen am Werk waren von Urzeittagen an.
.Es wird auch in Zukunft nicht anders sein, OO
und damit erübrigt sich der Streit, welcherOO
der beiden Impulse der wertvollere sei, denn OO
beide entstammen der gleichen Urtiefe der OO
Menschenseele.
.Wohl mag Jahrhunderte lang der eine Im‐ OO
198 Das Reich der Kunst
puls im kunstbegabten Menschen stärker zur OO
Auswirkung kommen als der andere, wohl mö‐ OO
gen gewisse Kulturströmungen dem ImpressioOO
nismus, andere wieder dem ExpressionisOO
mus günstig sein, doch niemals wird einer der OO
beiden Kunst-Impulse völlig verschwinden, und OO
dem aufmerksamen Beobachter zeigt sich das OO
Wirken beider zu allen Zeiten, auch wenn OO
es auf den ersten Blick scheinen möchte, als sei OO
nur der eine vorhanden gewesen.
.Eine verhängnisvolle Verirrung aber ist es, OO
wenn nun moderne Künstler, in denen der exOO
pressionistische Impuls wieder stark nach Ge‐ OO
staltung drängt, ihre Anregungen bei der Kunst‐ OO
übung primitiver Völkerschaften holen zu OO
müssen meinen, oder deren Werke gar als Eides‐ OO
helfer heranziehen, um eigene abstruse Gebilde OO
zu rechtfertigen.
.Es gibt bekanntlich moderne Künstler, deren OO
höchstes Ausdrucks-Ideal in der NegerplastikOO
oder in gewissen Malereien der SüdseeinsuOO
laner sich noch übertroffen fühlt.
.Wenn nun ein derartiger Künstler es glück‐ OO
lich soweit gebracht hat, daß sein Werk, dem OO
äußeren Anschein nach, seinem Kunstideal an‐ OO
nähernd entspricht, dann hat er nichts anderes OO
199 Das Reich der Kunst
getan, als ein Geldfälscher, der eine Banknote OO
schlecht nachmacht. Er frage einmal einen OO
jener primitiven Menschen des Urwaldes und OO
der Koralleninseln, ob dieser sein Gebilde etwa OO
für echt nimmt, ob er es verstehen kann, OO
was doch der Fall sein müßte, wenn das, was OO
der moderne Europäer der Kunstsprache des OO
Primitiven willkürlich entlehnt hat, wirklich die OO
Elemente einer, dem nicht durch moderne OO
Kunstüberfeinerung verdorbenen Menschen ei‐ OO
genen Ausdruckssprache in sich enthielte.
.Dem primitiven Menschen ist seine Kunst‐ OO
sprache etwas genau Bestimmtes, und er würde OO
in dem Werk des Europäers nur Willkür sehen, OO
während ihm das schlechteste Kunstdruckbild‐ OO
chen wenigstens verständlich bleibt. Ich weiß OO
von einer Erfahrung dieser Art, die mir sehr zu OO
denken gab.
.Will der moderne Künstler, der von expresOO
sionistischen Impulsen ausgeht, wirklich Wert‐ OO
volles schaffen, dann darf er nicht die Balken‐ OO
kontur malayischer Malereien oder die plump OO
dekorative Roheit afrikanischer Götzenbilder als OO
Vorbild seiner Kunstsprache wählen, sondern OO
muß sich eine Ausdrucksform schaffen, die unOO
serer europäischen Kultur entspricht, wie OO
zu allen Zeiten die expressionistische Kunstbe‐ OO
200 Das Reich der Kunst
tätigung dem künstlerischen Status der Zeit ent‐ OO
sprach.
.Archaistische Tendenzen zeigten noch immer OO
Zeiten des Niederganges an, besiegelten den VerOO
fall der Kunst.
.Man kann aber mit seinen archaisierenden OO
Stilübungen gewiß nicht gut weiter gehen, als OO
wenn man glaubt, hohe Kunstwerke zu schaffen, OO
indem man die primitiven Kunstäußerungen der OO
Urwald- und Höhlenmenschen im Stil zu imi‐ OO
tieren versucht, wie das viele der als „Expres‐ OO
sionisten” heute auftretenden Künstler tun, wäh‐ OO
rend gleichzeitig allerdings auch zugleich expres‐ OO
sionistische Werke entstehen, die erhoffen lassen, OO
daß ihre Urheber den Weg zur Kunst, wie sie OO
allezeit war und sein wird, wiederfinden werden. OO
.Die Verirrungen neuerer Künstler ins Archa‐ OO
ische und Exotische sind nicht etwa, wie man OO
irrigerweise annehmen könnte, vom expressioni‐ OO
stischen Impuls, sondern nur von einem Miß‐ OO
brauch ihrer eigenen ‒ von diesen Künstlern OO
selbst geschaffenen ‒ expressionistischen Dar‐ OO
stellungs-Methode ausgegangen!
.Es ist die Überschätzung der expressionisti‐ OO
schen Methode durch die dem expressionisti‐ OO
schen Impuls ergebene Künstlerschaft, die den OO
201 Das Reich der Kunst
verirrten Schaffenden in eine Art Selbsthypnose OO
zwingt, und ihn dann glauben läßt: das, was er OO
zum Ausdruck zu bringen habe, könne nur in OO
der Weise primitivster Kunstausübung zur rech‐ OO
ten Darstellung gebracht werden.
.Die wirklichen „Primitiven” aber, die er OO
aus solcher Verwirrung seiner Einsicht heraus OO
nachahmt, würden nur kindische UnbeholfenOO
heit in seinem Werke ausgedrückt finden.
202 Das Reich der Kunst
Kunst und Artistentum
.Als Cimabues Madonnenbild im Triumph‐ OO
zug aus seiner Werkstatt geholt und durch Florenz OO
getragen wurde, bevor es an seinen Bestimmungs‐ OO
ort kam, konnte keinen Augenblick in dem Künst‐ OO
ler ein Zweifel nisten, für wen er eigentlich sein OO
Werk geschaffen habe.
.Wohl lag auch ihm an der Bewunderung, die OO
ihm seine Berufsgenossen zollten, aber in OO
erster Linie wußte er, daß er sein Werk dem OO
Volke gab. Allen denen, die es sehen konnten, OO
wollte er Bewunderung entlocken.
.Die Maler späterer Tage sind weniger an‐ OO
spruchsvoll geworden.
.Als Böcklin einst ein Heft der damals neu‐ OO
gegründeten Zeitschrift: „Kunst für Alle” sah, OO
ärgerte er sich an dem Titel, weil es eine Kunst OO
für alle nicht geben könne, und Cézanne sprach OO
es unverhohlen aus, daß Kunst nur immer eine OO
Angelegenheit sehr weniger Menschen sei.
.Böcklins Stellungnahme muß heute Verwun‐ OO
derung erregen, denn seine Kunst will uns OO
205 Das Reich der Kunst
Heutigen so verständlich erscheinen, daß sie wirk‐ OO
lich die Charakterisierung als eine Kunst „für OO
alle” vertragen könnte.
.Weniger verwunderlich ist uns die Auffassung OO
des französischen Malers, denn so hoch er auch OO
heute gefeiert werden mag, nachdem er sein OO
Leben in relativer Armut verbrachte, so sind es OO
verhältnismäßig doch nur sehr wenige, die seine OO
Kunst gebührend zu schätzen wissen. Gleich OO
ihm aber gibt es heute eine große Anzahl von OO
Künstlern, deren Werke nur von sehr wenigen OO
verstanden werden, weil ‒ sie eben nur fürOO
sehr wenige ihre Bilder und Statuen schaffen. OO
.Wie frei der Künstler auch an die Gestaltung OO
seines Werkes herantreten mag, immer steht ein OO
idealer Auftraggeber vor seinem Geiste, mag er OO
auch dessen irdische Personifikation nur in seiner OO
eigenen Persönlichkeit finden. Es ist natur‐ OO
gemäß, daß er für andere Augen schafft, auch OO
wenn nur er selbst, als Betrachtender, vor OO
seinem fertigen Werke diese „anderen Augen” OO
repräsentiert.
.Die Künstler früherer Tage wollten ganz OO
bewußt, daß ihr Werk von allen verstanden OO
würde, und sie fanden darum in sich die Auf‐ OO
gabe gestellt, ihr inneres Müssen, den überintel‐ OO
lektuellen Trieb zum künstlerischen Schaffen, in OO
206 Das Reich der Kunst
Einklang zu bringen mit den Erfordernissen, die OO
das allgemeine Verständnis heischte.
.Wer aber wollte behaupten, daß Phidias der OO
Menge „unkünstlerische Konzessionen” gemacht OO
habe, oder daß Giotto auf die von ihm er‐ OO
kannten Kunstgesetze nicht geachtet hätte, nur OO
um der Masse zu gefallen, ‒ und doch sind die OO
Werke der alten Kunst durchweg selbst dem in OO
Kunstdingen Ungebildetsten verständlich, OO
wenn sie auch das, was ihre höchste SchönOO
heit ausmacht, erst einem reichentwickelten OO
Kunstgefühl offenbaren.
.Die Künstler neuerer Zeit hingegen haben OO
sich immer mehr und mehr Sonderinteressen zu‐ OO
gewandt: Darstellungsproblemen, die zwar im OO
Bereich der Werkstatt sehr „interessantOO
bleiben, die aber niemals das echte Interesse der OO
Allgemeinheit finden können, eben weil es OO
sich nur um Experimente handelt, deren Wert OO
bestenfalls nur in der eigenen FörderungOO
des Künstlers liegt. Ich stehe nicht an zu be‐ OO
haupten, daß drei Viertel (wenn nicht mehr) OO
unserer ganzen heutigen Kunstproduktion aus OO
solchen Werkstatt-Experimenten besteht, denn OO
die Künstler haben das Interesse, das man diesen OO
Studienmitteln entgegenbrachte, derart zu ihrem OO
eigenen Schaden umgedeutet, daß sie zumeist OO
207 Das Reich der Kunst
gar nicht mehr über das Experiment hinaus OO
wollen. Es genügt ihnen um den Schaffenstrieb OO
oberflächlich zu befriedigen, und sie verlangen OO
nun von ihren Zeitgenossen, daß sie mit dem OO
Gegebenen sich abfinden und darin die höchsteOO
Leistung der Künstler sehen sollen.
.Daß hier eine grenzenlose Verirrung vorliegt, OO
wird nur dem nicht klar, der bereits bis zum OO
Rausch von den Weihrauchwolken umnebelt ist, OO
die durch zahllose, selbst in tiefer Hypnose OO
redende Wortführer dieser Experimentier-Me‐ OO
thode, der neueren Kunst dargebracht werden. OO
.Die Sammelnamen für die neueren Kunst‐ OO
bestrebungen besagen nichts Zwingendes, denn OO
jede „Richtung” teilt sich wieder in zahllose OO
Unter- und Seitenrichtungen, weil das ExperiOO
ment, auf dem alles ruht, bis ins Unendliche OO
variabel ist. In jedem Künstler kann es andere OO
Formen finden, und doch macht jeder im Grunde OO
das Gleiche, so daß für den Beschauer, der ein‐ OO
mal über das erste Sensationsgefühl hinaus ge‐ OO
langte, nichts Langweiligeres existiert, als die OO
Ausstellungen dieser allezeit Aller-Modernsten, OO
die jetzt in allen Kunstzentren haufenweise zu OO
sehen sind.
.In einzelnen solcher Arbeiten finden sich hie OO
und da noch Spuren einer fast gewaltsam be‐ OO
208 Das Reich der Kunst
haupteten Individualität Einzelner, aber bei den OO
meisten Werken könnte man ruhig die Namen OO
vertauschen, denn es handelt sich ja kaum mehr OO
um Schaffensprodukte bestimmter PersönlichOO
keiten, sondern nur um Mitarbeit an den Be‐ OO
strebungen eines Kollektivwillens zum bloßen OO
Experiment.
.Als Durchgangs-Phase könnte dieses Aus‐ OO
toben in Experimenten den Künstlern gewiß OO
von Nutzen sein, denn sie lernen dadurch die OO
unendlichen Möglichkeiten kennen, die ihnen OO
ihr Ausdrucksmaterial bietet, aber der Leid‐ OO
tragende bei der heutigen Verhimmelung der‐ OO
artigen Tuns wird der in die Hypnose mitgeris‐ OO
sene Kunstfreund, der Käufer, bis er ent‐ OO
weder selbst eines Tages zur Einsicht kommt, OO
daß er Werkstatt-Experimente teuer bezahlte, wo OO
er höchste Kunst zu erwerben vermeinte, oder OO
bis seine enttäuschten Erben einst die betrübliche OO
Entdeckung machen müssen, daß kein Mensch OO
mehr auch nur ein Zehntel der einst gezahlten OO
Summen für diese Kuriosa geben mag.
.Kunst ist und bleibt, trotz andersartiger Auf‐ OO
fassung Einzelner, eine Sache der seelischenOO
Gemeinsamkeit.
.Aus dem allgemeinen Fond an Kultur eines OO
209 Das Reich der Kunst
Volkes, eines Landes, einer Stadt selbst, zieht OO
sie ihre Nahrung, und rückwirkend beeinflußt, OO
hebt und fördert sie wieder diese Kultur, oder OO
drückt sie hinab ins Banale und Gemeine.
.Im wünschenswerten günstigen Falle be‐ OO
deutet das Kunstschaffen einer Zeit eine WertOO
steigerung der aus der Gesamtkultur gezogenen OO
geistigen Kräfte, wie es zur Zeit der alten Grie‐ OO
chen, zur Zeit der Renaissance in Italien war, OO
‒ im ungünstigen Falle aber, und der liegt OO
im großen und ganzen heute vor, bedeutet die OO
künstlerische Produktion geradezu eine Vernich‐ OO
tung geistiger Werte.
.Wer daran zweifelt, der lese die exaltierten OO
Ergüsse moderner Kunst-Snobs, allwo sie vor OO
Negerplastik und vor Malereien, die tief unter OO
der Malerei der Urzeitmenschen stehen, einen OO
wahren Veitstanz der Begeisterung aufführen, OO
während sie deutlich zu verstehen geben, daß OO
die göttlichen Werte höchster Kunst ihrem per‐ OO
versen Empfinden längst nicht mehr zugänglich OO
sind.
.Es gibt kein Mittel, gegen diese Verirrungen OO
anzukämpfen, als das eine, daß sich der Kunst‐ OO
freund wach erhält, sich ganz entschieden weiOO
gert, der heutigen Kollektiv-Hypnose auf künst‐ OO
lerischem Gebiet zu verfallen, trotz all der Flut OO
210 Das Reich der Kunst
neuer Bücher und Zeitschriften, die ihn einen OO
„Banausen” schelten, wenn er nicht schleunigst OO
sich bekehre und zu den neuen Göttern bete. OO
.Wir müssen wieder zu einer Kunst kommen, OO
die wirklich eine Kunst für alle ist.
.Kunst muß wieder Angelegenheit desOO
ganzen Volkes werden.
.Freilich nicht in dem Sinne, daß sie ihre OO
heiligen Gesetze verleugnet, um dem Unge‐ OO
schmack der Menge zu gefallen, denn eine so‐ OO
genannte „Kunst” dieser Art, die sich ja leider OO
noch an allen Straßenecken breit macht, ist viel OO
verwerflicher als selbst die zum Ideal erhobene OO
Hottentottenkunst.
.Die Kunst, die wir brauchen, muß aus dem OO
Besten schöpfen, was in der Volksgemeinschaft OO
lebt, und dieses Beste dem Volke in geläuterter OO
künstlerischer Form darbieten, als Spiegel seiner OO
Seele.
.Experimente gehören in die Werkstatt des OO
Künstlers, und wenn er sie schon zeigt, sollen OO
sie auch als Experimente, und nur als solche, OO
bezeichnet werden! Darüber hinaus aber brauchen OO
wir Werke, die wie in jeder großen Kunst- und OO
Kulturperiode allen verständlich sind, wenn OO
211 Das Reich der Kunst
auch immer nur die künstlerisch Gebildeten ihre OO
höchste Schönheit zu fassen vermögen.
.Was die marktschreierische Experimentier‐ OO
kunst unserer Tage aber bei ihren Anhängern OO
finden will, ist nichts weniger als wirkliches OO
„Kunstverständnis”. Sie braucht nur halbzer‐ OO
rüttete Nervenbündel, die sich widerstandslos OO
jeglicher Suggestion durch die brutalsten sinn‐ OO
lichen Mittel unterwerfen.
.Ihre Anhänger gebärden sich, als ob sie allein OO
über das rechte Kunstverständnis verfügten, sie OO
schwatzen von der Befreiung des Geistes, wäh‐ OO
rend sie vor Idolen knien, die ebenso tief unter OO
den erhabenen Werken vom Geiste erfüllter OO
Kunstperioden stehen, wie der Fetisch eines Wil‐ OO
den tief unter dem Kultbild steht, das einst im OO
Parthenon Verehrung fand.
212 Das Reich der Kunst
„Dilettantenkunst”
.Das Wort „Dilettantismus” ist bei uns sehr OO
in Mißkredit gekommen. Man hört zum mindesten OO
lieber die Verdeutschung und spricht von „Lieb‐ OO
haberkunst”. Aber „im Deutschen lügt man, wenn OO
man höflich ist”, und unsere deutsche Sprache OO
ist immerhin kräftig genug, um ein paar Fremd‐ OO
worte vertragen zu können, die schlechthin OO
Begriffe bergen, mit denen sich das deutsche OO
Wort nicht deckt, wie das nun einmal bei OO
der Verdeutschung des Wortes „Dilettantismus” OO
der Fall ist.
.Liebhaberkunst” besagt mehr als „Dilettan‐ OO
tismus”, denn „Liebhaberkunst” kann wirkliche OO
Kunst sein, ‒ nur wird mit dem Worte gesagt, OO
daß ihr Schöpfer nicht zu den BerufskünstlernOO
zählt, ‒ während es völlig ausgeschlossen ist, OO
daß das Werk eines „Dilettanten” jemals den Rang OO
eines wirklichen Kunstwerks beanspruchen darf. OO
.Ich habe mit Absicht diese Erörterung mit dem OO
Worte „Dilettantenkunst” überschrieben, nicht, OO
weil ich etwa hier von der „Kunst” reden will, OO
215 Das Reich der Kunst
die in dem Erzeugnis eines „Dilettanten” stecken OO
könne, sondern: ‒ weil ich diesem bösen Wort OO
den Garaus machen möchte.
.So wenig nun aber auch durch dilettantische OO
Betätigung jemals „Kunst” entstehen kann, so OO
sehr ist es Unrecht, allen „Dilettantismus” in OO
Bausch und Bogen geringschätzig anzusehen. Ver‐ OO
werflich ist „Dilettantismus” lediglich dort, wo er OO
nicht hingehört, und man kann einem Berufs‐ OO
künstler keinen schlimmeren Vorwurf machen, OO
als wenn man sagt, sein Werk sei „dilettantisch”. OO
.Man drückt damit aus, daß es als Kunstwerk OO
unzulänglich ist, daß es sich nur mit den glei‐ OO
chen Handwerksmitteln hervorgebracht er‐ OO
weist, mit denen man auch ein wahres Werk der OO
Kunst hätte schaffen können, daß es aber besten‐ OO
falls nur Geschmack und Fleiß verrät, keineswegs OO
jedoch die spezifisch künstlerische Begabung. OO
.Das „dilettantische” Werk eines Berufskünst‐ OO
lers wird jeder Kenner ablehnen, wohl aber OO
wird er unter Umständen seine Freude an dem OO
liebevollen Erzeugnis irgend eines „Dilettanten” OO
haben können.
.Das Erzeugnis des Dilettanten ist nur dann OO
schlecht, wenn es selbst unter der mäßigenOO
Begabungsgrenze bleibt, die überhaupt erst zu OO
216 Das Reich der Kunst
irgend einer dilettantischen Betätigung ein RechtOO
gibt, oder aber, ‒ wenn es zeigt, daß sich der OO
Dilettant gern als „Künstler” gewertet sehen OO
möchte, ‒ wodurch es auch als DilettantismusOO
unzulänglich wird.
.Es gibt ganz reizende Dilettantenarbeiten aus OO
der Zeit unsrer Groß- und Urgroßeltern, und diese OO
gezeichneten oder aquarellierten Blättchen bilden OO
heute das Entzücken eines jeden Sammlers, so OO
wie sie auch damals schon allenthalben Freude OO
bereitet haben, und sehr sorglich in Ehren ge‐ OO
halten wurden.
.Eine ganze Reihe von illustrativ begabten OO
Künstlern unserer Tage hat den eigenartigen Reiz OO
solcher preziösen Blättchen zum Ausgangspunkt OO
für einen oft recht ansprechenden IllustrationsOO
Stil genommen. Wahrlich die beste Anerkennung, OO
die sich ein „Dilettant” nur wünschen kann!
.Ich bezweifle aber sehr, daß in hundert Jahren OO
kommende Illustratoren irgend etwas unter den OO
Erzeugnissen heutiger Dilettanten finden wer‐ OO
den, das ihnen in irgend einer Hinsicht stilistische OO
Anregung geben könnte.
.In jenen alten, bedächtigeren Zeiten freute OO
man sich, wenn man etwas geschmackvoll Sinni‐ OO
ges in zierlicher Art mit Bleistift aufzuzeichnen OO
217 Das Reich der Kunst
wußte, und wenn es hoch kam, suchte man mit OO
zarten Wasserfarben eine gewisse „Stimmung” OO
zu erzielen. Aber es gelang! Es wurde stets etwas OO
Rechtes draus, weil keiner dieser „Dilettanten” OO
sich heimlich für einen „Künstler” hielt, und OO
weil keiner etwas versuchte, was über seine OO
Kräfte hinausging.
.Zum Teil lag das auch an der damaligen OO
Kunst.
.Man sah viel zu deutlich, daß man es mit einem OO
„Künstler” nicht aufnehmen könne.
.Als dann später das Handwerk des Malers ro‐ OO
bustere Züge annahm, als schließlich die pastose OO
„Prima”-Malerei, das Malen Naß in Naß, und in OO
einer skizzenhaften, mehr andeutenden als durch‐ OO
führenden Art, in der Künstlerwelt Einzug hielt, OO
da glaubte der Dilettant nicht mehr recht Grund OO
zu haben zu seiner früheren Bescheidenheit. Die OO
Sache schien ihm „gar nicht so schwer”, er sah OO
nur das Alleräußerlichste, und so versuchte er OO
nun frischweg und mit einer durch keinerlei OO
künstlerische Bedenken gedämpften Courage „in OO
Öl” draufloszumalen und verlor auf diese Weise OO
jeden festen Halt, verlor das Beste, ‒ den gutenOO
Geschmack.
.Aber muß das so bleiben?
218 Das Reich der Kunst
.Können wir nicht diesem Strom des Unrats OO
endlich Einhalt tun und den Tätigkeitstrieb des OO
Dilettanten wieder in gesunde, seiner Art gemäße OO
Bahnen lenken??
.Tun wir es nicht, dann bildet die eben er‐ OO
keimende neue Sonderkunst seelischer Ausdrucks‐ OO
werte für den Dilettanten eine neue Gefahr, die OO
nicht unterschätzt werden darf.
.Das rechte Material des Dilettanten, ‒ zumeist OO
dürfte ja die weibliche Form des Wortes in OO
betracht kommen, ‒ wird stets nur aus „Formen OO
und Farben” bestehen können, die er selbstOO
intensiv in seiner Umwelt erlebt.
.Alle Reminiszenzen an vorhandene KunstOO
sind ihm gefährlich!
.Die Weite der Landschaft an einem Aussichts‐ OO
punkt, der Feldstrauß, den er sich von einem OO
Ausflug mitbringt, die Innenräume seines Hauses, OO
und vielleicht auch, soweit Porträtbegabung vor‐ OO
liegt, die Züge der Menschen, die ihm nahe und OO
vertraut sind, ‒ das sind die Gebiete, auf denen OO
ein gesunder, berechtigter und erfreulicherOO
Dilettantismus gedeihen kann.
.Will er sich dort, wo er selbst in der Dar‐ OO
stellung nicht weiter weiß, einmal Rat und Hilfe OO
suchen, so bergen Museen und Sammlungen ge‐ OO
nügend Material, an dem er lernen kann, wie OO
219 Das Reich der Kunst
etwas darzustellen ist, ‒ aber nur, wenn er sich OO
an Meister der allereinfachsten Darstellungs‐ OO
arten halten will, wird er Ersprießliches nach OO
Hause bringen.
.Mit keinem Worte scharf genug zu brand‐ OO
marken ist natürlich alles Malen oder Zeichnen OO
nach „Vorlagen”. Hier muß zuallererst gebro‐ OO
chen werden! Der Dilettant, der etwas auf sich OO
hält, muß wissen, daß ein simpler Halm, den er OO
empfindend wiederzugeben weiß, hoch über der OO
farbenbuntesten „Vorlage” steht, die er in mühe‐ OO
voller Arbeit nachzupinseln unternimmt.
.Das Wecken der EmpfindungsfähigkeitOO
des Auges ist der höchste Zweck, den er ver‐ OO
folgen muß.
.Wer so an Formen der Natur sein Auge OO
bildet, der wird auch für die Werte, die im KunstOO
werk ruhen, sich empfänglich machen, und seine OO
Ehrfurcht vor der Kunst wird ihm verbieten, OO
jemals noch von Kunst zu reden, wo nur heiteres OO
Spiel in anmutfrohen Formen vorliegt, wenn das OO
Beste wurde, was der „Dilettant” zu geben hat. OO
220 Das Reich der Kunst
Die Kunst Raffaels
.Raffael von Urbino, geboren am 26. März OO
(Karfreitag) 1483 zu Urbino, gestorben am 6. OO
April (Karfreitag) 1520 zu Rom.” So überschreibt OO
der berühmte Maler-Biograph der Renaissance, OO
Giorgio Vasari, in seinem „Leben der Maler” OO
die Lebensbeschreibung Raffael Santis, und OO
er legt sichtlich Wert darauf, daß dieser, wie OO
eine Erscheinung aus einer Überwelt wirkende OO
Künstler-Genius, der nur ganze siebenunddreißig OO
Jahre auf dieser Erde lebte, geheimnisvollerweise OO
an einem Karfreitag sein Erdendasein begann OO
und an einem Karfreitag wieder von der Erde OO
genommen wurde.
.Für jene Zeit, in der die fortgeschrittensten OO
Geister die Mysterien der Astrologie zu ergrün‐ OO
den suchten, konnte dieses seltsame Zusammen‐ OO
treffen beider Tage kein „Zufall” sein, zumal OO
für ihre Anschauung alles, was am Karfreitag OO
geschah, von seiner geglaubten tiefen mystischen OO
Bedeutung im Hinblick auf das Geschick dieses, OO
unsres Planeten, erfüllt sein mußte.
.Die bezaubernde Wirkung der Erschei‐ OO
nung Raffael Santis aus Urbino auf seine OO
223 Das Reich der Kunst
Zeitgenossen spiegelt sich in den Worten Vasa‐ OO
ris, wenn er schreibt: „Gewiß kann man sagen: OO
wen so reiche Gaben schmücken, der sei nicht OO
nur schlechthin ein Mensch, sondern wenn der OO
Ausdruck erlaubt ist, ein sterblicher Gott zu OO
nennen”... „Niemals ging er zu Hofe (dem OO
Hofe der Päpste), ohne daß er, vom Ausgehen OO
aus seiner Wohnung an, ein Gefolge von fünfzig OO
Malern gehabt hätte, ‒ alles gute und tüchtige OO
Maler, ‒ die ihm das Ehrengeleite gaben; er OO
lebte überhaupt nicht als Maler, sondern als OO
Fürst.” Und Vasari wird nicht müde, die hinOO
reißende Liebenswürdigkeit, wie den AdelOO
dieser Seele zu betonen, die es jedem unmög‐ OO
lich machten, in Raffaels Gegenwart auch nur OO
ein „ungeziemendes Wort” zu gebrauchen.
.Aber dieser bewunderungswürdige Mensch, OO
dieser unvergleichliche Künstler war zugleich OO
ein geborener Organisator, der es vorzüglich OO
verstand, alle die reichen Kräfte seiner Zeit dem OO
Werke dienstbar zu machen, das er der Welt OO
hinterlassen sollte.
.Die prachtliebenden Päpste Julius der ZweiteOO
und Leo der Zehnte schaffen, in Bewunderung OO
gebannt, die nötigen Mittel und GelegenheiOO
ten zur Betätigung seiner großen Kunst, seine OO
zahlreichen Schüler beugen sich willig seiner OO
Leitung, um den weit über die Kräfte eines OO
224 Das Reich der Kunst
Einzelnen umfangreichen Plänen ihres jungen OO
Meisters sichtbare Gestaltung zu verleihen, und OO
bis nach Griechenland schickt er seine Zeichner OO
aus, die ihm das Studienmaterial, dessen er be‐ OO
darf, zu verschaffen haben. Unablässig ist er OO
bemüht, zu lernen und das Gelernte in seiner OO
Weise zu verwerten. Jede Quelle der Anregung OO
muß sich ihm erschließen.
.Man kannte zu jener Zeit in der Kunst noch OO
nicht das ängstliche Bestreben unserer Tage, das OO
jeden Künstler dazu zwingt, von allen, die vorOO
ihm schufen und neben ihm wirken, möglichst OO
weit abzurücken, damit man nur ja seiner OO
Originalität gewahr werde. Man wollte nicht, OO
gleich den Heutigen, das Einmaleins der Kunst OO
stets wieder von neuem erfinden.
.Bewußt des eigenen Wertes, stand man fest OO
auf den Schultern seiner Vorgänger, und es OO
wurde einem Künstler zum höchsten RuhmeOO
angerechnet, wenn er das Beste seiner Zeitge‐ OO
nossen in sein Werk zu übernehmen verstand. OO
.Man kann nicht sagen, daß diese Art Gemein‐ OO
samkeit in der Kunst ihr zum Schaden gereicht OO
hätte!
.Auch das Genie Raffaels war nicht „vom OO
Himmel gefallen”, und sein Biograph zählt mit OO
225 Das Reich der Kunst
Stolz die Namen aller derer auf, von denen er zu OO
lernen, denen er „nachzueifern” suchte, um sie OO
schließlich alle durch seine eigene Anmut und OO
Vollkommenheit zu übertreffen.
.Nur so aber konnte auch jene abgeklärteOO
Harmonie erstehen, die aus den Werken die‐ OO
ses Künstlers strahlt, die sein eigenes Jahrhun‐ OO
dert überstrahlte und die den Werken seines OO
Geistes jene göttergleiche Heiterkeit verleiht OO
für alle Zeiten, jene Heiterkeit, die ein kleines OO
und allzu erdgebundenes Geschlecht als „Leere” OO
und „Mangel an seelischer Tiefe” auszulegen OO
suchte.
.Doch darf man nicht etwa glauben, der Künst‐ OO
ler, der in einer solchen Welt der idealen Schön‐ OO
heit geistig heimisch war, sei erdenfern, der OO
Welt, die ihn umgab, entrückt gewesen! Er OO
stand mit beiden Füßen fest auf dieser Erde OO
Boden! Seine eigenen Briefe beweisen aufs OO
deutlichste, wie sehr er, ‒ darin seinem an ge‐ OO
waltiger Kraft überlegenen Zeitgenossen MichelOO
agniolo Buonarotti nur allzu ähnlich, ‒ auch OO
den Wert des Geldes zu schätzen wußte, und OO
wie wichtig ihm seine glänzende Stellung, OO
seine äußeren Ehren waren.
.Allerdings strömten ihm Gold und Ehrungen OO
in so reichlicher Fülle zu, daß es ein Wunder OO
226 Das Reich der Kunst
gewesen wäre, hätte der Sohn eines armen klei‐ OO
nen Malers aus der Provinz diese Anerkennung OO
seiner Begabung nicht mit hohem wertbewußtem OO
Stolz empfunden.
.Wenn man nun heute der Kunst Raffaels OO
gerechten Sinnes gegenübertreten will, ‒ nicht OO
viele wollen es! ‒ dann ist zuerst die üble OO
Wirkung jener grauenhaften Popularisierung zu OO
überwinden, die sein Werk im letzten Jahrhun‐ OO
dert erfahren mußte. Vom Bierglasdeckel, der OO
die „Madonna della Sedia” profanierte bis hin‐ OO
auf zu so manchem „raffaelesken” Kirchenbild OO
der alten Düsseldorfer Schule, war alles dazu OO
angetan, das Werk eines Unvergleichlichen zu OO
schänden, und das Auge für die wahre Schön‐ OO
heit seiner originalen Bilder stumpf und un‐ OO
empfänglich werden zu lassen.
.Es ging ihm hier mit seinen Madonnen, OO
wie es manchem der romanischen Komponisten OO
mit Opern-Melodien ergeht: man kann sie in OO
jenen Ländern nicht mehr unbefangen hören, OO
weil sie in jeder Gasse eine andere Drehorgel OO
in stets wieder neuer Verzerrung dem Fremdling OO
in die Ohren kreischt.
.Für viele der heutigen Menschen hat auch OO
der Zeitgeschmack ein reines und hingege‐ OO
227 Das Reich der Kunst
benes Genießen raffaelischer Werke fast unmög‐ OO
lich gemacht.
.Rembrandt sagt ihnen mehr, weil sie selbstOO
dem Leben nicht als souveräne Beherrscher, OO
sondern als ringende Beherrschte gegenüber OO
stehen und darum die allerwege mit dem LeOO
ben ringende Kunst Rembrandts tiefer beOO
greifen.
.Es wird einer kommenden Zeit vorbehalten OO
bleiben, jene überweltliche Region wieder OO
geistig zu erobern, aus der das Genie RaffaelsOO
seine unsterblichen Intuitionen empfing, jene OO
göttliche Klarheit wieder empfinden und lie‐ OO
ben zu lernen, in der seine Gestalten ein Dasein OO
über aller Erdenschwere führen, jene formgewor‐ OO
dene Mathematik der Seele zu erfassen, die OO
in den Kompositionen dieses übermenschlich OO
klaren Geistes, dem zu ihrer Ergründung Be‐ OO
fähigten, ihre tiefsten Geheimnisse enthüllt.
.Er strebte, wie die Antike, absoluter VollOO
kommenheit zu. Er gab die abgerundete GeOO
schlossenheit seiner innerlich geschauten Welt. OO
.Der Mensch der heutigen Zeit aber haßtOO
beinahe das „Vollkommene”, weil es ihm „unOO
wahr” erscheint, gegenüber der eigenen bruchOO
stückhaft empfundenen Natur.
228 Das Reich der Kunst
.Die Menschen der Renaissance waren gewiß OO
von Natur aus nicht anders als wir, aber ‒ sie OO
strebten über diese ihre Naturgegebenheit hin‐ OO
aus, empor zu einer nur geahnten Höhe mensch‐ OO
licher Größe und Kraft. Sie wollten mehrOO
sein, als sie „von Natur aus” waren, und so erOO
schufen sie sich selbst, wie wir sie staunend OO
und bewundernd in der Kunst ihrer Zeit ge‐ OO
wahren.
.Was die Natur ihm mitgegeben hatte, war OO
dem Menschen jener Zeit nur rohes Material, OO
aus dem er selbst sich erst zum KunstwerkOO
zu gestalten suchte.
.Wir aber sind genügsamer und auch ‒ be‐ OO
quemer geworden. Wir sind schon froh, wenn OO
wir uns recht „natürlich” geben können, und OO
alle Form ist uns stets mehr und mehr ent‐ OO
schwunden. Jedoch die unterdrückte Fähigkeit OO
zu formen, was der Form bedarf, läßt sich nicht OO
dauernd binden.
.So mag es leicht möglich sein, daß unsere OO
späten Enkel eine neue Renaissance erleben, OO
wie jene zu der Zeit der großen Päpste, und OO
daß dann die Vollkommenheit, nach der das OO
Leben damals strebte, mit neuer Kraft zum OO
Lebensideal erhoben wird. Dann wird aber ge‐ OO
229 Das Reich der Kunst
rade die Kunst Raffaels den spätern Geschlech‐ OO
tern wie ein hoher Meilenstein erscheinen, der OO
wie die Kunst der Antike, den Weg in die OO
Unendlichkeit bezeichnet, aber nicht den OO
Weg ins Chaos, ins „Grenzenlose”, den heute OO
noch die meisten gehen.
.Kunst ist Manifestation einer WeltanOO
schauung.
.Wir Heutigen aber leiden alle mehr oder OO
weniger an einer Weltbilderklärung, die das OO
Grenzenlose” als Axiom aufstellte und es OO
mit dem Unendlichen verwechselte.
.Wir müssen erkennen lernen, daß das WeltOO
bild der Renaissance, aus dem Raffael seinen OO
Formen-Kanon schuf, einem Wellenberge der OO
Entwicklung menschlichen Denkens sein Dasein OO
dankte, während wir, von der überragenden Ge‐ OO
stalt Goethes in ihrer erhabensten Selbstdarstel‐ OO
lung abgesehen, die letzten Jahrhunderte hindurch OO
in einem Wellental verharrten, so sehr wir auch OO
auf unseren „Fortschritt” pochten.
.Doch, endlich werden auch wir wieder auf OO
eine Wellen-Höhe gelangen, denn alle geistige OO
Entwicklung geht in stets belebten KrümmunOO
gen voran, und nicht in jener schnurgeraden‐ OO
Linie, die sich die Apostel des „ewigen Fort‐ OO
schritts” irrtümlich erträumten.
230 Das Reich der Kunst
.Wer Raffaels Kunst als Ausdruck einer OO
wahreren Erkenntnis, als es die unserer Zeit OO
ist, betrachten mag, wer erkennt, daß sie der OO
wirklichen geistigen Weltstruktur entspricht, OO
und wer dann von diesem Ewigkeits-Standpunkt OO
aus ein Originalwerk, wie etwa die von den OO
Kunst-Snobs so verächtlich gering geschätzte „SixOO
tinische Madonna” auf sich wirken läßt, der OO
wird vielleicht mit einiger Ergriffenheit in sich er‐ OO
fahren, daß diese Größe, der in Anmut und Ge‐ OO
schlossenheit sich selbst begrenzenden Kraft einer OO
Kunst ‒ Urewiges enthält, das leben bleiben OO
wird, wenn längst „Titanenkraft”, wie wir sie OO
heute so bedenklich höher schätzen, ‒ ‒ auf‐ OO
gelöst in Götterdämmerung und Chaos-Nacht ver‐ OO
sunken ist.
.Ihm wird vielleicht ein leises Ahnen eine Zeit OO
verkünden, die nicht Madonnen malen wird und OO
dennoch wieder auf den Bahnen dieses abge‐ OO
klärten, harmonieerfüllten Überwelt-Be‐ OO
reiches zu wandeln weiß, weil sie die Welt als OO
homogenes Ganzes faßt, wie sie in andererOO
Form das frühere Geschlecht erfaßte, dessen OO
schönste Blüte „Raffael von Urbino” war.
231 Das Reich der Kunst
ENDE